Porträt

laut.de-Biographie

The Specials

Zwischen 1979 und 1981 tobt in England ein Ska-Revival, das bis heute sämtliche Genre-Fanatiker zu Tränen rührt, da es ebenso schnell zu Ende geht, wie es in Erscheinung tritt. Vorreiter dieser Bewegung sind zunächst mal die Specials, die sich 1977 unter dem sperrigen Namen The Coventry Automatics gründen.

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Die ersten Jam-Sessions bringen außer der Erkenntnis, dass Roots Reggae und Punk nicht so leicht in Einklang zu bringen sind, den Kompromiss, sich des verwandten, in den 60ern durch jamaikanische Musiker bekannt gewordenen Ska anzunehmen und fortan eine fruchtig-tanzbare Mischung unters Volk zu bringen.

Im März 1978 nimmt die Band in London erste Demos auf. Keyboarder Jerry Dammers entpuppt sich schnell als die treibende Kraft des Ganzen und als er erfährt, dass Johnny Rotten die Sex Pistols verlassen hat, will er den schrägen Vogel sofort für seine Band engagieren. Stattdessen lernt er aber Bernie Rhodes, den Clash-Manager, kennen und der verschafft dem Partyhaufen zwei Support-Auftritte auf Clashs "On Parade"-Tour. Joe Strummer ist hellauf begeistert und will die Automatics auf der gesamten Tournee mitnehmen, obwohl Suicide bereits gebucht sind.

Das New Yorker Elektropunk-Duo kommt bei den Clash-Fans auch bedeutend besser an, der unkoventionelle, mal zum Mitwippen, mal zum Pogen geeignete Stilmix der Automatics hingegen wird größtenteils abgelehnt. Rhodes nimmt sich nach der Tour der Truppe an und will ihnen ein neues Soundkonzept aufhalsen. Als die Band von seinem Plan erfährt, heimlich Automatics-Sänger Terry Hall abzuwerben, nimmt sie das Heft wieder selbst in die Hand.

Im März 1979 erscheint unter dem neuen Namen The Specials die in Eigenregie aufgenommene Split-Single "Gangsters" (B-Seite: "The Selecter"), ein Reworking von Prince Busters '64er Klassiker "Al Capone" und gleichzeitig eine Attacke auf die Musikindustrie. Am Songbeginn wird der Gangster aus Chicago mit dem bandeigenen Feind Bernie Rhodes ausgetauscht.

Die Scheibe erscheint auf dem eigens von Dammers gegründeten Label 2-Tone. Das Konzept geht auf, die Single knackt - nicht zuletzt dank der Begeisterung von Radio-DJ John Peel - die englischen Charts und mit Madness, The (English) Beat und The Selecter unterzeichnen Bands bei 2-Tone, die dem Label in besagtem Zeitraum zum Ruf des heißesten Indies der Insel verhelfen.

Dazu trägt nicht zuletzt Dammers' Vision eines soundeigenen Lifestyles bei: die Band kleidet sich, dem Vorbild der Mods (remember Quadrophenia?) in den 60ern gleich, in schwarz-weißen Anzügen, und entlehnt mit sogenannten Pork Pie Hats (runde Filzhüte) und Loafers (Halbschuhe) das Outfit der jamaikanischen Rudeboys (randalierende, meist trinkfeste Anhänger des 60er Ska). Dazu bekommt das Label mit schwarz-weiß kariertem Logo eine Identität verpasst, welche die anti-rassistische Haltung aller Bands symbolisiert.

Sämtliche Major-Plattenfirmen, die bei den Specials anklopfen, beißen auf Granit. Selbst Mick Jagger taucht nach einem Gig im Sommer '79 mit Bodyguard auf, um die Band für sein "Rolling Stone Records"-Label zu gewinnen. Die Band spielt weiter vor ausverkauften Häusern, u.a. als Support von UK Subs und Gang Of Four, wo der zukünftige Produzent Elvis Costello im Publikum steht.

Jener legt Hand am großartigen Debütalbum an, das die Band in nie wieder erreichter Spiellaune zeigt und zu Recht von Spex unter den wichtigsten 100 Platten des 20. Jahrhunderts aufgeführt wird. Mit vier Top Ten-Hits steigen die Specials in England zu Stars auf, in Amerika können sie jedoch nicht Fuß fassen. Die '80er Tour ist zwar durchweg ausverkauft, die Band zermürbt aber zunehmend an den endlos langen Tagesreisen und der ständigen Gemeinschaft. Auch mit der Kommerzialisierung in der Heimat des Kapitalismus hat Bandleader Dammers so seine Probleme.

The Specials - Protest Songs 1924-2012
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Die Ska-Legenden covern Cohen, Marley und Zappa.
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Nachdem er in einem Interview verrät, er habe "auf einem Schulausflug in Russland mehr Spaß gehabt als in Amerika", sinken die Albumverkäufe rapide. In Japan fallen der Band gar 2-Tone-Zigaretten und Kung Fu-Comics mit Specials- und Madness-Mitgliedern in die Hände. Im Laufe des Jahres sinkt das Interesse an der Ska-Bewegung und mit ihr der Stern von 2-Tone. Zum einen wechseln Madness nach der ersten Single ("The Prince") für ihr Debüt "One Step Beyond..." zum Majorlabel Stiff, doch vor allem die Specials selbst verwirren mit ihrem vom Ska abgekommenen, poppig-jazzigen Sound des "More Specials"-Albums nachhaltig ihre tanzbereiten Fans.

Besonders Jerry Dammers drängte auf den Stilwechsel und hat bald ein neues Genre namens "Muzak" vor Augen, ein mutiges Zitat dieser Zeit lautet: "Ich will Musik für Fahrstühle und Supermärkte machen." Die Presse ist von der neuen, ruhigeren Ausrichtung der Songs begeistert, die Fans weniger. Während es für 2-Tone zunehmend schwieriger wird, sich um alle unter Vertrag stehenden Bands zu sorgen, feiern die Specials im Sommer 1981 mit der von rassistischen Spannungen und Massenarbeitslosigkeit handelnden Single "Ghost Town" ihren größten Erfolg.

Die Veröffentlichung fällt mit den Rassenaufständen in Brixton und Liverpool zusammen und wird von der BBC indiziert, dennoch erreicht der Song Platz eins der Charts. Doch aller Jubel kann den Band-Split nicht mehr aufhalten. Sänger Terry Hall gründet über Nacht mit Percussionist Staple und Gitarrist Golding die mäßig erfolgreiche Formation Fun Boy Three, die dank Ex-Specials-Manager Pete Waterman (ja, der von Stock/Aitken!) auch mit Bananarama kollaboriert.

Ende der 80er Jahre startet Hall eine Solokarriere und arbeitet u.a. mit Dave Stewart, Damon Albarn und den Lightning Seeds zusammen. Auf der '95er EP "Rainbows" findet sich eine Live-Version von "Ghost Town" mit Gastsänger Tricky, im Gegenzug lädt dieser ihn zu den Aufnahmen seiner "Nearly God"-Platte ein.

Ex-Specials-Chef Jerry Dammers, persönlich beleidigt nach dem Fortgang seiner drei Kumpels, werkelt mit Drummer Radiation als The Special AKA weiter und erzielt 1984 mit "Nelson Mandela" noch einen Single-Hit in England. Später engagiert er sich bei "Artists Against Apartheid" und zieht sich aus dem Musik-Biz zurück. Bradbury, Golding und Staples formen Anfang der 90er mit ehemaligen Mitgliedern von The (English) Beat die Band Special Beat, woraus 1995 die wiedergegründeten Specials werden.

Da Leib-und-Seelen-Komponist Dammers und Sänger Hall die Legende nicht wiederbeleben wollen, macht sich der Rest mit Erfolg daran, diese zu Grunde zu richten. Auf dem Album "Today's Specials" covern sie größtenteils Ska-Klassiker im Stile einer Oldie-Festzelt-Band.

Was bleibt sind Erinnerungen, die man am besten mit den Klängen des Specials-Debüts oder denen der 1998 erschienenen BBC-Sessions auffrischt (sämtliche Perlen aus der Anfangszeit unter der Regie John Peels). 2001 erscheint beim deutschen Ska-Label Pork Pie der Tribute-Sampler "Spare Shells", auf dem sich junge Bands aus allen Kontinenten an den zeitlosen Ska-Klassikern versuchen.

Ex-Sänger/Percussionist Neville Staple veröffentlicht drei Jahre später mit "The Rude Boy Returns" ein neues Soloalbum, dem eine Bonus-DVD mit Live-Auftritt und Interviews beiliegt, auf der neben Pete Waterman auch Roddy Radiation zu Wort kommt.

 - Aktuelles Interview
The Specials "Trumps Mauer ist ein einziger Witz"
Terry Hall über die Album-Reunion, die 2-Tone-Ära, Auftritte mit Tricky und den Brexit.

Ebenfalls 2004 springt Terry Hall über seinen Schatten und performt nach langer Zeit mal wieder einen Specials-Song live vor Publikum. Die britische Band The Ordinary Boys überredet ihn zu diesem Ereignis und so tanzt das Londoner Publikum zu den Klängen des Klassikers "Little Bitch". 2005 präsentiert auch Specials-Gitarrist Roddy Radiation ein Solowerk: Mit "Skabilly Rebel - The Roddy Radiation Anthology" liegen 18 Songs vor, die er über die Jahrzehnte mit den Kapellen The Tearjerkers, The Bonediggers und The Raiders einspielte und die vor allen Dingen dem rauh-melodischen Rockabilly huldigen.

2006 lassen sich Jerry Dammers und Neville Staples von Hard-Fi überreden, für den Song "Ghost Town" im Rahmen einer "Rock Against Racism"-Veranstaltung zu den Newcomern auf die Bühne zu steigen. 2007 sieht man Terry Hall zusammen mit Lynval Golding bei Damon Albarn auf der Glastonbury-Bühne.

Trotzdem überrascht die Meldung einer möglichen Specials-Reunion im Frühjahr 2008 selbst die kühnsten Optimisten. 27 Jahre nach ihrer Auflösung befinden sich alle sieben Original-Mitglieder im Proberaum, um die Stimmung zu testen, wie die britische Presse aufgeregt protokolliert. Wie sich bald heraus stellt, ist es um diese Stimmung aber nicht allzu rosig bestellt. Der frühere Bandleader Dammers kann sich mit seinen alten Kollegen erneut nicht auf eine Marschroute einigen.

Über den erneuten Bruch sagt Gitarrist Golding: "Er wollte wieder der Boss sein wie 1981, als wir den Karren an die Wand gefahren haben. Wir sagten: Schau, wir sind keine naiven Schulbuben mehr, wir wollen ein Familiending und alle an einem Strang ziehen. Sechs von sieben Leuten waren dieser Meinung. Er kam damit nicht klar. Nun, die Berliner Mauer ist gefallen, Diktaturen funktionieren nicht mehr."

Der Freude über die Reunion der übrigen Specials tut dies keinen Abbruch. Die Band tourt unablässig quer über den Erdball und lässt sich feiern, bis die Gruppe 2015 zwei Schicksalsschläge ereilen. Im September stirbt Posaunist Rico Rodriguez im Alter von 80 Jahren, mit dem die Band ihre wichtigen zwei Alben eingespielt hat. Nur drei Monate später stirbt der 62-jährige Drummer John Bradbury, der den Sound der Band maßgeblich prägte.

2018 platzt die Bombe, dass das erste Specials-Studioalbum seit 1982 eingespielt ist. "Encore" erscheint im Februar 2019 und wurde von den Gründungsmitgliedern Terry Hall, Lynval Golding und Horace Panter zusammen mit dem dänischen Produzenten Torp Larsen eingespielt. Im laut.de-Interview erzählt Hall, dass die Band mit ihren Songs einmal mehr Optimismus verbreiten möchte, verbunden mit der "vielleicht idealistischen und naiven Hoffnung, dass die Menschheit irgendwann einmal über Hautfarben hinwegsehen wird." Im Zuge des neuen Albums gehen The Specials Ende 2019 auf ausgedehnte Europa-Tournee - gerade noch rechtzeitig, wie sich bald erweisen sollte.

Die Pandemie verleiht ihnen die Zeit, die Black Lives Matter-Bewegung die Wut, um gleich nochmal ein Album einzuspielen. Auf "Protest Songs 1924-2012" interpretieren die Briten zwölf Protestlieder von Größen wie Frank Zappa, Leonard Cohen oder Bob Marley. Lieder über Polizeigewalt, Rassendiskriminierung und Straßen-Aufstände. Und kommen damit in gewisser Weise zurück zu ihren Ursprüngen. Es sollte das letzte Album der Besetzung sein. Im Dezember 2022 stirbt Terry Hall im Alter von 63 Jahren an Krebs. Im September wurde bei ihm Bauchspeicheldrüsenkrebs diagnostiziert.

In einem längeren Facebook-Posting erzählt Panter, dass es Hall wichtig war, seine Erkrankung geheim zu halten. Das Trio hatte bereits ein Studio in Los Angeles gebucht, um mit Co-Produzent Roger Rivas von The Aggrolites ein Reggae-Album einzuspielen. Hall hätte diesbezüglich von acht rudimentären Demos berichtet. Im November verschlechterte sich sein Zustand jedoch so rasant, dass diese Pläne auf Eis gelegt wurden.

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The Specials - Encore: Album-Cover
  • Leserwertung: 4 Punkt
  • Redaktionswertung: 4 Punkte

2019 Encore

Kritik von Michael Schuh

Rude Boys outta Ruhestand: Gegen Misogynie und Rassismus. (0 Kommentare)

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