Porträt

laut.de-Biographie

Kutiman

"Kutiman ist eine Offenbarung", schwärmt man bei hamburgfunk.de. "Er produziert einen Sound, der wie eine Allstar-Band bestehend aus Sly Stone, Fela Kuti, David Axlrod und James Last klingt, die gerade das Finale des Battle of the Year musikalisch untermalen." Nebenbei eröffnet die Ein-Mann-Funk-Armee Kutiman auch noch eine neue Dimension des Mash-Ups: Sein Online-Projekt ThruYou zeigt ganz ohne Promo-Budget, was eine mächtige Harke ist.

Kutiman - Wachaga Aktuelles Album
Kutiman Wachaga
Neuartige Auslegung von Jazz, Worldbeat und Synthie-Musik.

Dabei hat Ophir Kutiel, der 1981 in Jerusalem das Licht der Welt erblickt, anfangs keine Ahnung, dass Soul, Funk oder gar Afrobeat überhaupt existieren. Musik bedeutet für den in einem Dorf im Norden des gelobten Landes aufgewachsenen Knaben in erster und weitgehend einziger Linie Jazz.

Mit sechs Jahren erhält er Klavierunterricht, mit 14 kommen Gitarre und Schlagzeug dazu. Auf seinen eigenen Nummern wird der Komponist, Produzent, Arrangeur und Animationsfilmer später die meisten Drums, Percussion, Keyboards und den Bass persönlich einspielen.

Doch wie gesagt: Zunächst regiert der Jazz. Ophir zieht um die Jahrtausendwende in die Metropole Tel Aviv, um dort ein Musikstudium aufzunehmen. Neue akustische Welten eröffnet allerdings der Nebenjob: Im Laden dudelt nämlich ein Radio. "Ich hörte den ganzen Tag einen lokalen College-Sender", erinnert er sich im Interview mit clashmusic.com. "Erstmals kam ich mit einer solchen Bandbreite von Genres und mit so grandioser Musik in Berührung, von der ich zuvor nie etwas mitbekommen hatte. Es fühlte sich an wie Magie."

Sein Kumpel DJ Sabbo, über den er ebenfalls in Tel Aviv stolperte, tritt die Lawine endgültig los: "Er bekam mit, dass ich von dieser Art Musik keinen blassen Schimmer hatte und gab mir eine verstaubte Box mit einigen CDs."

Ophir entdeckt King Crimson, Soft Machine, Sly & The Family Stone, Cymande, Lonie Smith, James Brown - und allen voran Fela Kuti. Die Ähnlichkeit der Namen inspiriert Ophir Kutiel zu seinem Alias Kutiman, die Musik der Afrofunk-Legende zu eigenen Taten.

"Ich war so geflasht, dass ich mich einfach an den Rechner gesetzt habe und angefangen habe, zu jammen." Ein Trip nach Jamaika eröffnet zudem Reggae-Horizonte: Kutiman kollaboriert mit Stephen und Damian Marley und mit Turbulence.

Von solchen Erfahrungen angeregt, arbeitet er nach der Rückkehr in die Heimat mit zahllosen israelischen Künstlerkollegen. Das Grundgerüst seines selbstbetitelten ersten Albums schraubt er innerhalb von fünf Monaten zusammen. Bis zur Veröffentlichung wird es allerdings Herbst 2007. Zuvor legt Kutiman seine erste Single auf den Tisch, die ihrem eigenen Titel "No Groove Where I Come From" schamloser Lügen straft. Oliver von Felbert wittert Morgenluft, platziert die Nummer auf einem Labelsampler und nimmt Kutiman 2006 bei seinem in Köln residierenden Melting Pot Music unter Vertrag.

"Kutiman", das Album, verbindet Funk und Afrobeat mit Einflüssen aus Jazz, Reggae, Psychedelic Rock und R'n'B. Der in aller Regel geschmacksichere Hamburger DJ Master Quest freut sich in seinem Blog über "irrsinnig tighte Weltraumfunknummern" schier die Füße ab. Als wahrhaft prophetisch erweist sich jedoch die Einschätzung bei Under The Radar: Hier kürt man Kutiman neben Glasvegas und MGMT zum "artist to watch in 2008".

Die letzte Berechtigung dafür liefert Kutiman Anfang März 2009 mit seinem Mash-Up-Projekt ThruYou: Aus bei YouTube zusammen geklaubten Clips, in der Mehrzahl Lehrfilmchen und Home-Videos von Hobbymusikern bastelt er neben der "Mother Of All Funk Chords" in Heimarbeit ein komplettes Online-Minialbum.

ThruYou wächst sich zum viralen Phänomen aus: Nur an ein paar Freunde gab Kutiman den Link weiter. Via Mundpropaganda und allem voran über Twitter macht die Kunde des israelischen Funk-Monsters in rasender Geschwindigkeit die Runde.

Die Blogosphäre steht Kopf. In weniger als einer Woche verzeichnet ThruYou über eine Million Zugriffe, die Presse zieht angesichts der Sample-Leistung Parallelen zu DJ Shadows "Endtroducing", und techcrunch.com bringt die Sache auf den Punkt: "Kutiman dürfte in der Tat der erste Musik-Star sein, dessen Karriere bei Twitter begann."

Nach dem Hype tritt eine lange Pause ein. Der Multimedia-Artist versteht sich mehr als technischer Alleskönner, weniger als Typ fürs Rampenlicht. Zudem lässt er sich für die Auswertung von aufgenommenem Material oft lange Zeit, bis er aussortiert und eine fertige Platte oder einen Film zusammenstellt.

Im Jahr 2014 unternimmt er eine Erkundungstour durchs ostafrikanische Land Tansania, in die Nähe des Kilimanjaro und durch Städte wie Arusha und Moshi. In seinem Jeep hat er Videokameras dabei, filmt lokale Gruppen beim Tanzen und Trommeln; aus den Tonspuren werden später andere Songs, zu denen er "seinen Senf" hinzugibt.

Schulkinder werden beim Musizieren und Spielen auf Video verewigt, Kutiman sammelt Alltagsgeräusche. Er lernt auch besondere Instrumentierungen kennen, etwa Tänzer, die Glocken tragen, um im natürlichen Rhythmus ihrer Bewegungen bequem Percussion-Arbeit zu verrichten.

Der Maasai Tribe Choir zählt zu den wenigen Combos, die Kutiman trifft, deren Menschen eigentlich nomadisch leben. Doch dieser Lebensstil fällt den Maasai angesichts diverser Umstände schwerer: Wachsende Touristen-Nationalparks verdrängen sie aus ihren gewohnten Lebensräumen, Seuchen infizieren die Viehbestände, immer wieder kam es in den 1970er und 80er Jahren zu gravierenden Dürreperioden. Von den benachbarten Wachaga lernten die Maasai die Kultur der sesshaften Landwirtschaft, viele Familien betreiben heute Restaurants, Läden oder Marktstände oder Läden.

Jene Wachaga sind es, die Kutiman faszinieren und deren Musik er mit Tönen seiner israelischen Jazz-Blasmusiker neu zusammensetzt. Er selbst nutzt Synthesizer. Parallel zur Arbeit am großen Klangabenteuer "Wachaga", das im Sommer 2020 fertig ist und auf CD erscheint, entstehen auch 2016 und 2018 Alben. Eines durch einen besonderen Auftrag: Sein Verhältnis zu den Kontinenten, seine Reisefreudigkeit und abstrahierende Darstellung von ethno- und geographischen Beobachtungen bringt Kutiman einen Job für Greenpeace ein. Das Album "Antarctica" vertont er auf Geheiß der Umwelt-NGO als jazzige Ambient-Platte mit langen Instrumentalstücken, z.B. "Hello Glacier".

Das Abschmelzen der polaren Eismassen und seine Impressionen und Dystopien stellt Kutiman mittels Schlaginstrumenten und Keyboards dar. Noch deutlicher von der elektronischen Seite zeigen sich, trotz voller neunköpfiger Jazzband-Montur, zwei elfminütige Live-Aufnahmen von 2018. Sie erscheinen während des Corona-Lockdowns im Mai 2020 als WAV-Mitschnitte auf Bandcamp. Dort findet sich auch der komplette Back Catalogue, darunter der abgefahrene Tune "Mix Hamburg" zusammen mit dem deutschen Drummer-Quartett ElbtonalPercussion.

"Wachaga" ist außer dem akustischen auch wieder ein visuelles Erlebnis - in einer Ästhetik fernab unserer Trends und Sehgewohnheiten. Neun hypnotische Videoclips begleiten den Album-Release. Manches schaut nach Goa-Trance aus. Auf der Ebene des Loopens von Sequenzen, bedient sich der Filmfreak eines analogen Video-Synthesizers der 80er Jahre, auch auf für Schnitt, Farbabmischung und Ton-Bild-Spurenmix kommen bei Kutiman Retro-Geräte zum Einsatz. Der kreative Wirbelwind bleibt für multimediale Überraschungen gut.

Alben

Kutiman - Wachaga: Album-Cover
  • Leserwertung: 4 Punkt
  • Redaktionswertung: 4 Punkte

2020 Wachaga

Kritik von Philipp Kause

Neuartige Auslegung von Jazz, Worldbeat und Synthie-Musik. (0 Kommentare)

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