laut.de-Kritik

Jede Silbe ein Projektil.

Review von

Fragt bei Gelegenheit doch mal zufällig ausgewählte Zeitgenossen nach klassischem Rap-Shit aus New York City. Ich wette auf die Antworten: Public Enemy, Biggie, Nas, immer wieder Wu-Tang. Beflissenen Heads fallen außerdem A Tribe Called Quest, KRS-One, Gang Starr, hoffentlich die Urväter-Dreifaltigkeit Herc-Bambaataa-Flash, Mobb Deep, EPMD und Run DMC ein. Big L? Schön! Biz Markie sagen die Spinner, MF Doom die, die tiefer im Untergrund wühlen.

Wieso denkt eigentlich nie jemand an Cannibal Ox? Wir ja offenbar auch nicht. Zumindest nicht mehr. Anderenfalls hätten wir Vast Aire, Vordul Mega und ihren weiland verantwortlichen Produzenten El-P an dieser Stelle schon viel früher abhandeln müssen. Die Typen sind aber auch selbst schuld: Sprengen einem 2001 mit "The Cold Vein" den Verstand zu Konfetti, um dann einfach mal kein Nachfolgealbum aufzunehmen.

Zehn verdammte Jahre hab' ich gewartet, noch einmal zwei, und noch eins. Nüschte! "Blade Of The Ronin" erschien dann klammheimlich im Frühjahr 2015, als ich die Warterei längst aufgegeben hatte. (Falls ihr es ebenfalls verpasst und bisher nicht nachgeholt habt: Ändert das! Ist ein Spitzenalbum geworden, obwohl die Produktion nicht mehr in El-Ps Händen lag.)

Wieso aber verzehrt sich überhaupt jemand eine Dekade und länger nach einem Album, das einfach nicht kommt? Wer diese Frage stellt, hat, was viel schlimmer wiegt als "Blade Of The Ronin" nicht mitbekommen zu haben, ganz offensichtlich "The Cold Vein" nicht gehört. An dieser Stelle sehe ich mich gezwungen, zu drastischen Mitteln zu greifen. Zu Majuskeln, ausnahmsweise: ÄNDERT DAS! Hölle, ändert es sofort.

"We planted our flags on your soils", hieß es damals im episch betitelten "Battle For Asgard". Diese Fahnen stehen immer noch herum. Im Gegensatz zu manch anderem ähnlich alten Hip Hop-Album hat "The Cold Vein" die Jahre, die seit seiner Veröffentlichung 2001 ins Land gezogen sind, schadlos überstanden. Mehr noch: El-Ps finstere, damals komplett futuristische Produktion klingt noch immer, als sei sie nicht für die Gegenwart, sondern für eine Zukunft ersonnen, die erst noch anbrechen muss. "Beats that have to be registred as sex offenders", mindestens.

"Rap vocals for the new millennium" verspricht Vordul Mega zudem in "Atom". Wenn "The Cold Vein" weiter so exzellent nachreift: Gut möglich, dass er damit schon die 3000er-Jahre ins Visier genommen hat. Grenzen scheinen für ihn und Partner Vast Aire ohnehin fast ausschließlich zum Überwinden zu existieren. Als Anreiz, um über sich und die miserablen Bedingungen, in die man hinein geboren wurde, hinauszuwachsen.

Die Aktualität, die beider Zeilen anhaftet, begründet (außer ihrer Qualität) auch ein trauriger Umstand: Manche Dinge ändern sich einfach nie. Die Zustände in den Vierteln abseits von Glitzer und Glamour gehören dazu, Polizeigewalt und Rassismus ebenfalls. Ganauso wie Macht- und Perspektivlosigkeit, die Flucht in den Drogenrausch, die damit einhergehende Kriminalität, die immer neue Gewalt hervor bringt, die wiederum unentwegt weiteres Elend gebiert.

Big Apple is rotten, "New York is evil at its core". Gleich im über sechsminütigen Eröffnungstrack "Iron Galaxy" zeichnen Vast Aire und Vordul Mega ein trostloses Bild ihrer verlorenen Stadt. Das gerät derart plastisch, dass man sich mit Haut und Haaren in ein Gotham City verpflanzt fühlt, in dem jederzeit Daredevil um die eine und der Robocop um die andere Straßenecke biegen könnten.

Anspielungen entstammen den Marvel- und DC-Universen, die Texte zitieren aus oder verweisen auf "The Big Chill" und "Star Trek", "True Romance", "Blade Runner", "2001: Oddyssee Im Weltraum", "Die Glorreichen Sieben", "American Beauty", "Clash Of The Titans", "Nightmare On Elm Street", "Requiem For A Dream", die "German scheisse films" nicht zu vergessen ... eine Liste, die sich fast beliebig lange fortsetzen ließe.

Trotz der unzähligen Comic- und Kinoreferenzen wirken die Bilder, die die Emcees zeichnen, geradezu übertrieben realistisch. Vast Aire und Vordul Mega scheuen so genau hin, dass es körperliche Schmerzen verursacht. "Little. Black. Girl. Got. Shot." Wie Kugeln fliegen die Worte, treffen mitten ins Herz und schlagen blutende Wunden. El-P an den Reglern verwandelt jede einzelne von Megas Silben in ein Projektil.

Gnadenlos brutal beschreiben beide Rapper, wie es sich anfühlt, in - euphemistisch formuliert - bescheidenen Verhältnissen in Harlem aufzuwachsen, ohne Väter, ohne Perspektiven, ohne Ziel, ohne Hoffnung. Von romantisch verklärter Glorifizierung des Ghetto-Lifestyles könnten sie sich dabei kaum weiter entfernt bewegen. Viel mehr erheben sie die Frage zum Dreh- und Angelpunkt des Albums: Formen die Umstände den Menschen oder der Mensch seine Umstände?

Analog: Beherrscht der Körper den Geist oder umgekehrt? Folgt die Form tatsächlich der Funktion? Wie um alles in der Welt lässt sich die Flucht aus dem Hustler-Hamsterrad bewerkstelligen, wie die Abwärtsspirale der Gewalt durchbrechen? "It's a cold world out there", erinnert Vordul Mega unbarmherzig und warnt sich selbst und andere: "Sometimes I think I'm getting a little frosty myself."

Wie gelingt die Metamorphose von der Taube, "Pigeon", einem in der mickrigen Hilflosigkeit der eigenen Existenz gefangenen kleinen Mann von der Straße, zu denen sich Vast Aire und Vordul Mega ausdrücklich selbst zählen, zu etwas anderem, etwas größerem? In die Ecke getriebene, verletzte Tiere sind, das sollte besser jeder wissen, die gefährlichsten. Haben sie überhaupt eine Chance?

"Scream Phoenix" gibt die Antwort. Noch in der dunkelsten Stunde glimmt ein Funken Hoffnung in jedem einzelnen, der seine Ketten sprengt, seinen Geist befreit und sich zu neuen Höhen aufschwingt. Klingt abgeschmackt und superkitschig, nicht jedoch in den Worten zweier begnadeter Poeten. Bei Cannibal Ox tönt solches einfach nur mörderisch.

Optimistisch gerechnet, verstehe ich vermutlich gerade einmal ein Drittel der Wortspiele, Querverweise und Vieldeutigkeiten, vor denen die Lyrics schier bersten. Genug, um mir locker zwei Dutzend Ausdrücke für Weed und zwanzig neue Formulierungen für Jemandem-die-Rübe-Wegblasen mit auf den Weg zu geben und außerdem meine Kenntnisse von Supreme Alphabet und Supreme Mathematics aufzufrischen.

Jede Menge Five-Percenter-Metaphorik steckt in den Texten, die nahezu überall mindestens zwei, oft sogar noch mehr Lesarten gestatten. "The Cold Vein" birgt Stoff für mehrere sprachwissenschaftliche Arbeiten, die Worte wuchsen dabei zugleich ohne jeden Zweifel im Dreck der Straße. Battle-gestählte Rapper, die keine Konfrontation scheuen, gießen sie in Gedichte und erschaffen daraus Fitness-Rap für den Geist.

Die Reime, Seele der Tracks, brauchen noch einen maßgeschneiderten Leib: "The sample's the flesh an the beat's the skeleton." El-P, auf dessen Label Def Jux "The Cold Vein" als erstes Album in voller Länge erscheint, kümmert sich um beides. Die "El Pro percussion hits", die er für Cannibal Ox aus dem Ärmel zieht, gehören zum besten, das Untergrund-Hip Hop hervorgebracht hat - weil sie Hörgewohnheiten und Erwartungen mächtig in den Arsch ficken, ein ums andere Mal.

Wieder und wieder lullt El-P seine Hörerschaft ein, ehe er ihnen unvermittelt glühende Stahlträger durchs Hirn jagt. Was sich eben noch wie eine Umarmung angefühlt hat, artet kaum einen Lidschlag später zum mörderischen Klammergriff aus, der dir den Atem raubt.

"My shell, mechanical found ghost / But my ghetto is animal found toast." Das wiederkehrende Motiv vom Geist in der Maschine setzt El-P perfekt um. Über den Trümmerfeldern, die er aus Industrial- und Elektro-Sounds, quakenden, pumpenden Bässen und allerlei Geräuschen konstruiert, schweben geisterhafte Fetzen von Chören, hängt noch eine schwer greifbare Ahnung von Soul in der Luft. Die Erinnerung an glücklichere Zeiten oder eine Verheißung auf kommende? Sucht es euch aus.

Brian Eno landet genauso im Wolf wie Salt-N-Pepa. In "Pigeon" bedient sich El Producto beim erklärtermaßen weltbesten Bassisten Jaco Pastorius. Die Fröhlichkeit, die die "Painkillers" versprechen: auch akustisch eine trügerische. Das stets gegenwärtige Elend kratzt allüberall am Trommelfell, unentwegt.

"Ich will ja nicht die Überraschungen verderben, die hinter jeder Ecke lauern", schreibt Christopher Dare für Pitchfork. "Aber stellt euch den Sound, den Company Flows CEO El-P (...) liefert, so vor: Geloopte Beats halten sich im Hintergrund, während UNKLE-artige Synthiechords hochblubbern, mit einem Oldschool-Videospiel-Sample kollidieren, das immer weiter beschleunigt, bis sich die letzten Sekunden des Songs anfühlen wie ein Richie Hawtin-Rave." Uffz!

Zweimal greift El-P zudem selbst zum Mikrofon: in "Ox Out The Cage" und "Ridiculoid". Letzteres hatte er eigentlich für sein Solo-Album "Fantastic Damage" vorgesehen, allzu schwer scheint das Opfer, es auf "The Cold Vein" unterzubringen, aber nicht gefallen zu sein. Schließlich präsentierten Cannibal Ox ihre Platte punktgenau mitten in einem kleinen Hype, den die Vorab-Veröffentlichung zweier Tracks, "Iron Galaxy" und "Straight Off The D.I.C.", auf einer Split-Single mit Company Flow anfachte. "Iron Galaxy" erschien zudem bereits auf dem Labelsampler "Def Jux Presents", die erste Single "Vein" mit "A B-Boy's Alpha" als B-Seite befeuerte die Erwartungen zusätzlich.

Trotz seiner immensen Komplexität empfiehlt es sich dringend, sich "The Cold Vein" am Stück zu Gemüte zu führen. Erst dann offenbaren sich die vielen Verbindungen der Songs untereinander, der größere Zusammenhang und die wieder und wieder in anderen Kontexten verwendeten Motive, wie etwa die Vögel, die in vielerlei Gestalt durch die Zeilen flattern. Bei "The Cold Vein" handelt es sich nicht lediglich um eine Ansammlung von Tracks, sondern um ein Album, das diese Bezeichnung tatsächlich verdient.

Seinen Titel darf uns Vast Aire persönlich erklären: "'The Cold Vein' ist eine Metapher, mit der wir die Not bezeichnen, wenn die Scheiße wirklich finster wird. Wenn Luke seine Arm verliert und an diesem winzigen Ding hängt, dann ist er in der 'Cold Vein'. Wenn die Stromrechnung fällig ist, und zugleich Weihnachten vor der Tür steht, das ist 'The Cold Vein'. Alles, das eine Widrigkeit oder ein Problem darstellt, besonders das Überleben an sich: Das ist 'The Cold Vein'." Brrr.

Pitchfork erkennt das Potenzial der Platte: "'The Cold Vein' gehört auf jede Liste der besten Untergrund-Hip Hop-Platten des Jahres", befindet Christopher Dare. Seinem Rat schließen wir uns an dieser Stelle voll umfänglich an: "Consume it, just watch it doesn't consume you."

Stevie Chick spricht im NME eine noch dringendere Empfehlung aus: "Ein 'What's Going On?' für das Hip Hop-Zeitalter", zieht er Parallelen zu Marvin Gayes bedrückendem Meisterwerk. "Das Pathos und die Poesie werden dir Narben für die Ewigkeit bescheren." Hast du die erst einmal davon getragen, wartest du auch zehn Jahre und länger auf die nächste Gelegenheit, um dich brandmarken zu lassen. Versprochen.

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. Iron Galaxy
  2. 2. Ox Out The Cage
  3. 3. Atom
  4. 4. A B-Boy's Alpha
  5. 5. Raspberry Fields
  6. 6. Straight Off The D.I.C.
  7. 7. Vein
  8. 8. The F-Word
  9. 9. Stress Rap
  10. 10. Battle For Asgard
  11. 11. Real Earth
  12. 12. Ridiculoid
  13. 13. Painkillers
  14. 14. Pigeon
  15. 15. Scream Phoenix

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