laut.de-Kritik

Die Grunge-Legenden klingen wie Epigonen ihrer eigenen Epigonen.

Review von

Netterweise hat die Sache mit dem Älterwerden die Gewohnheit, nicht über Nacht zuzuschlagen. Der körperliche Zerfall und die persönliche Entwicklung der Menschen erfolgt nicht von jetzt auf gleich, sondern schleicht sich ein. Hätte man meinem 19-jährigen Ich 1994 zum Beispiel die Pearl Jam-Version des Jahres 2024 gezeigt, ich hätte mir abrupt die Haare abgeschnitten, mein Holzfällerhemd verbrannt und möglicherweise sogar geduscht.

Es sind Kleinigkeiten, die sich mit der Zeit veränderten, aber letztendlich zu einer Diskrepanz im Gesamtbild führen. Ganz oben auf der Liste steht die Zusammenarbeit mit Ticketmaster, die bei der "Dark Matter"-Tour für obszöne Ticket-Preise sorgte. Ausgerechnet von der Band, die vor dreißig Jahren gegen das Unternehmen in den Ring trat. Nur weil man sich mittlerweile an etwas gewöhnt hat, bedeutet es nicht, dass es richtig ist und man es hinnehmen muss.

Dazu kommt Eddie Vedder, der mal wieder im besten PR-Sprech wie zu jedem neuen Release ein "Ohne zu übertreiben, ich denke, das ist unsere beste Arbeit" von sich gibt. Wohl wissentlich, dass da draußen einige Fans dank "Ten", "Vs." und anderen Großtaten der Vergangenheit am Ende möglicherweise anders denken könnten. Aber Hauptsache, die Erwartungen und so den Absatz gesteigert. Hinzu kommt auch ein Cover-Artwork, als hätten Tool einen schlechten Tag gehabt, und schließlich die Wahl von Andrew Watt (Justin Bieber, Iggy Pop, Post Malone, Miley Cyrus) als Produzent, der mit seinem Standardsoundbrei bereits Vedders "Earthling" und "Hackney Diamonds" verhunzte. Letztendlich für die Rolling Stones des Grunge nur eine logische Wahl.

All dies dient nur als Rahmenhandlung, letztlich zählt bei der Bewertung eines neuen Longplayers alleine die Musik. Nach dem eher durchwachsenen "Gigaton" war eine Frischzellenkur durchaus nötig. Josh Evans ließ Pearl Jam ungewohnt hüftsteif klingen, und schon wieder zu Brendan O'Brien zu greifen, wäre auch irgendwie öde gewesen. Watts erstickt "Dark Matter" jedoch. Zeigen die Songs selbst den kleinsten Hauch von Dynamik, drückt er ihnen so lange ein Kissen ins Gesicht, bis ihnen die Luft weg bleibt. Er lässt die Band teilweise wie die Epigonen ihrer eigenen Epigonen klingen.

Abgesehen vom aufgeblasenen Sound hat sich gar nicht so viel verändert. Der in gerade einmal drei Wochen in den Shangri-La-Studios geschriebene und aufgenommene Longplayer gibt sich zu Beginn mit "Scared Of Fear", "React, Respond" und dem Titelsong temperamentvoll wie lange nicht mehr. Gerade in der ersten Hälfte zeigen sich Pearl Jam spielfreudig, strotzen zeitweise vor Energie und führen auf eine falsche Fährte. Legt man das mittlerweile zwölfte Album aber kurz zur Seite, zeigt sich schnell, wie wenig von den Songs hängen bleibt. Letztendlich bedienen sie beim Songwriting ihre von sich definierten Standards, spielen diese nur etwas kraftvoller. Die Stücke verfügen zwar über ein hohes Niveau, doch fehlt ihnen so ein langfristiger Wiedererkennungswert. Was wiederum nichts an der Klasse des Gitarrensolos in "React, Respond" ändert.

Schnell verfällt "Dark Matter" wieder in den Midtempo-Rock, den man mittlerweile mit Pearl Jam verbindet. Über die Jahre entwickelte sich dabei ein Hang zum Schwülstigen. Als deutliches Highlight stellt sich hier schnell "Wreckage" heraus, auch wenn es zeigt, wie sehr Pearl Jam ihre Tracks mittlerweile nach Zahlen malen. Dennoch dürfte sich der Titel wohl langfristig in die Live-Setlists mogeln. Eher unangenehm fällt hingegen der triviale Schunkler "Something Special" aus.

"Running" möchte die Wut früher Ausbrüche wie etwa in "Lukin" ("No Code") einfangen, bleibt aber viel zu geordnet. "Waiting For Stevie" verfügt über eine gehörige Portion 1992-Seattle-Vibe. Dies zeigt sich besonders, wenn für einen kurzen Moment Gitarre und Bass für sich stehen. Kurz darauf dümpelt das Schlagzeug hinein. Der Sound verkommt leider zu einem einzigen Klumpatsch, in dem sich das Gitarrensolo komplett verirrt. Hervor sticht der gelungene Abschluss "Setting Sun" mit deutlichen Bruce Springsteen-Parallelen ("My Hometown"). Ein versöhnlicher Abschluss für ein launenhaftes Werk.

Wie jedes Album ab dem 2006 veröffentlichten "Pearl Jam" spielt "Dark Matter" einem im ersten Moment vor, ein wirklich gutes Pearl Jam-Album zu sein. Tritt man einen Schritt zurück, stellt sich jedoch schnell fest, dass man auch diese Lieder wieder wahllos über die letzten fünf Werke verteilen könnte, es würde keinen Unterschied machen, wo sie landen. Viele verfügen über eine einwandfreie Qualität, doch der bleibende Funke, die Magie ging ihnen schon lange flöten.

So nehmen Pearl Jam letztlich die Position ein, die in ihrer Blütezeit Teenager Acts aus den 1960ern und 1970ern belegten. Jene Jugendliche von einst, auf die damals geschimpft und deren Musik nicht ernst genommen wurde, dürfen nun endlich auch Sätze wie "Das war noch Musik!" absondern. Die Band verkörpert unterdessen in den Augen vieler junger Menschen von heute genau die Art von Langweiler:innen, von denen sie sich distanzieren. Dabei sind sie sich noch nicht bewusst, dass ihnen und ihrer Musik, wenn sie nicht aufpassen, in dreißig Jahren genau dasselbe Schicksal blüht. Das Generations-Karussell dreht sich unbeirrt weiter. Pearl Jam liefern mit "Dark Matter" nur ein weiteres Zahnrad dafür. Nicht mehr, nicht weniger.

Trackliste

  1. 1. Scared Of Fear
  2. 2. React, Respond
  3. 3. Wreckage
  4. 4. Dark Matter
  5. 5. Won't Tell
  6. 6. Upper Hand
  7. 7. Waiting For Stevie
  8. 8. Running
  9. 9. Something Special
  10. 10. Got To Give
  11. 11. Setting Sun

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17 Kommentare mit 12 Antworten

  • Vor 6 Tagen

    Seltsame Kritik. Was will man denn hören? Tolles energiegeladenes Album mit selbst geschriebenen wirklich guten abwechslungsreichen Songs. Absolut top. Eine der wenigen Bands, die es schaffen, immer wieder tolle Alben zu produzieren. Wiedererkennungswert natürlich hoch. Das ist auch gut so. Schließlich will ich ja diese Band hören. Oder sollen die jetzt anfangen zu rappen?

    • Vor 6 Tagen

      habt ihr wirklich alle nix besseres zutun? dieses album macht vor allem eins, nämlich spaß! pearl jam war immerschon ein guter entertainer. diese musik funktioniert, wenn sie zur richtigen zeit mit den richtigen leuten abgespielt wird. dafür, dass pearl jam eine eigene meinung hat, kann man ihnen ja auch schlecht zum vorwurf machen. leben und leben lassen. schönen sonntag euch!

  • Vor 5 Tagen

    Immer noch eine gute Band. Die Rufe nach „auflösen“ können doch nicht ernst gemeint sein. Wenn man den Maßstab anlegt bleibt bei dem aktuellen Schrott nicht mehr viel übrig. Und ein PJ Konzert wird auch in 5 Jahren noch viel emotionaler sein als ein Avatar Konzert von anderen Bands. Vielleicht ist das allerdings der Zahn der Zeit. Definitiv ohne mich.

  • Vor 5 Tagen

    Auch nach drei Durchgängen bleibt es beim ersten Eindruck: belanglos !