laut.de-Kritik

Pompös, romantisch, kantig: Kontraste in sagenhafter Symbiose.

Review von

Bei "Woman" flehte ich noch ungeduldig, Justice sollen sich nicht wieder fünf Jahre Zeit lassen für ihr nächstes Album. Nun, jetzt sind es sechs Jahre geworden, und nein, weder zähle ihre Remix-Scheibe, noch die Eskapaden von Mitglied Gaspard Augé noch das Revival von Kavinsky dazu. Immerhin verkürzten sie die Wartezeit mit weiterhin famoser Musik.

An Neujahr 2024 entsandten die Hohepriester des French House ihre ersten beiden Vorboten und "Generator" beglückt die alten Fans, umarmt sie innig. Es stellt klare Rückbezüge zur wummernden, kratzigen, dreckigen, rohen Aura des Debüts und vereint zwei Techno-Samples aus den 90ern: "Brain Crash" von Hardsequencer und "Mentasm" von Second Phase. Wenn Streicher einsetzen, entsteht der sakrale Justice-Moment und zeugt davon, dass Disco sich auch in der Kirche zuhause fühlt. Der melodische Zwischenteil mit Funk-Bass nimmt sich elysisch zurück, damit das Ende um so mehr ballert. Ein certified Banger!

Weitaus genügsamer schmeichelt die zweite Single "One Night/All Night" zusammen mit Tame Impala. Ein weiteres 90s-Techno-Sample fungiert als Grundlage ("Go With The Flow" von Jeremy) für eine schmissige und sehr tanzbare Melange aus dunklem House und slappendem Disco. Justice sagen selbst darüber: "Wir wollten, dass dieser Track so klingt, als ob eine Dark/Techno-Variante von Justice ein Sample einer Disco-Variante von Kevin Parker gefunden hätte. Kevin hat einen Sinn für Melodien, der insofern faszinierend ist, als dass er es schafft, Melodien zu schreiben, die sich einfach und natürlich anfühlen, aber gleichzeitig auch sehr eigenartig sind. Dieser Song oszilliert zwischen reiner elektronischer Musik und reiner Disco, aber man bekommt nie wirklich beides gleichzeitig. Diese Idee, innerhalb eines Songs sofort von einem Genre in ein anderes zu wechseln, zieht sich durch die ganze Platte und wird vielleicht am deutlichsten in 'One Night/All Night' gezeigt."

Das beschreibt die Essenz von "Hyperdrama", dem vorliegendem vierten Studioalbum von Justice. Es zeugt von Reife und Inspiration, sich nicht auf bekannte Muster zu verlassen, nur weil sie gut funktionieren, sondern sich ständig Herausforderungen auszusetzen, um Reizpunkte zu schaffen, die zu großartiger Musik führen. Dafür weisen sie zum ersten Mal auch offensichtlich ihre Feature-Partner aus, die weitere Facetten zum Justice-Universum ergänzen. Selten habe ich so einem unvorhersehbaren und spannenden Projekt mein Gehör geschenkt, das mich in Sicherheit wiegt, nur um wie ein Hase wilde Haken zu schlagen, zu überraschen und meine volle Aufmerksamkeit zu verlangen. Einmal nicht die Lauscher gespitzt und prompt eine Nuance überhört. Es macht einen Heidenspaß, die 13 Songs auseinander zu nehmen, zu sezieren, zu dechiffrieren.

Das begann bereits mit der dritten Vorab-Single "Incognito", einem kunterbunten Mosaik, das mühelos an einem vorbeirauscht, dabei aber so viel unter der Haube versteckt: Am Anfang funkelt, glitzert, samtet es, bis urplötzlich die Rakete mit viel Dampf loszischt. Zackige und schnelle Melodien laden zum Einsteigen ein mitsamt dem 80er Sample "New Dream" von Clay Pedrini. In seinem Habitus erinnert es ein wenig an "Audio Video Disco", nur in maximal verspielt. Ein kurzer Scratch reicht aus, ein weiteres Puzzleteil fällt hinein, drei Sekunden später pumpt wieder eine andere Melodie. Am Ende stehen alle Regler am Anschlag, bereit fürs Abheben gen weit entfernte Galaxien – doch dann zieht das Duo die Reißleine mit dem liebenswürdigen Intro des Songs. Ein wilder Ritt.

Ähnliches in kleinerem Format servieren sie in "Dear Alan", was zunächst an eine 80er Space Opera samt 10cc-Einschlag erinnert, natürlich mit Funky Bass sowie elektronischen, leicht filterverzerrten Versatzstücken angereichert. Bei Minute 3:45 betritt eine 16-Bit-Melodie die Bühne, schraubt sich in den Wahnsinn und schießt anschließend wie ein Beyblade zurück zum Ursprungssong.

Wer jetzt die Befürchtung hat, "Hyperdrama" würde nur aus solchen bezaubernden, heterogenen Anstrengungen bestehen, der kann beruhigt sein, denn Justice spielen weiterhin auch die homogeneren Töne, beginnend mit der Eröffnung "Neverender", abermals mit Tame Impala. Das ist cool groovender French House mit clever gesetzten Rhythmusverlagerungen, der Pop und funky Electro miteinander leger verheiratet. Zu den beiden ersten Singles gesellt sich die niederländische Sängerin Rimon auf "Afterimage", einem etwas widerspenstigen, technoid-dissonanten Stampfer.

Noch ruhiger, gar romantisch geben sich die Franzosen beim folgenden Duo. Zum einen "Mannequin Love", die dunkle Synthwave-Variante von Daft Punks "Digital Love", wo die Gesangsspur wie ein Mantra segelt. Zum anderen "Moonlight Rendez-Vous", bei dem ein charmantes Saxofon und ein Klavier eine geheimnisvolle, verrauchte Jazzbar evozieren, in der ein Detektiv seiner Verflossenen nachstellt.

Das mündet in der Albumstruktur in "Explorer" mit dem neuseeländischen Psychedelic-Rock-Komponisten Connan Mockasin. Solch einen Track erwartet man überhaupt nicht von Augé und Xavier de Rosnay. Überaus experimentell, unheimlich, bedrohlich sowie langsamer als der Rest. Es weckt Reminiszenzen an 80s Horror-Vampir-Filme, minimal auch an Ghostbusters oder "Thriller" von Michael Jackson, besonders beim hinten raus ertönenden betulichen Gruselkabinett.

Neben solchen Neueindrücken schauen sie zurück auf bereits Etabliertes und exerzieren es aus. Das Chiptune-hafte aus "Close Call" vom Vorgänger übernehmen sie für "Muscle Memory" und ergötzen sich komplett darin. Nach anfänglich süßer Melodie explodiert die Bombe, dunkle, bratzige Synthie-Wände türmen sich auf. Es klingt wie ein Level aus einem alten Videospiel, bevor man den letzten Bossfight antritt. Nostalgie für Gamer:innen, bei der eine Synth-Harfe heftig im Hintergrund rotiert. Ebenjene bekommt ihren eigenen Song, das Interlude "Harpy Dream", durch das sie wie von der Tarantel gestochen hindurch musiziert und gegen die vielleicht einzige Schwachstelle klatscht.

Der R'n'B-Elektro-Mashup "Saturnine" poussiert zwar kantig und Schmachtfetzen Miguel bemüht sich redlich, doch bleibt er in seiner Kongruenz stark verhaftet. Justice zeigt sich hier seltsam eingegrenzt und es gelingt nicht so recht, aus dem gefälligen Korsett auszubrechen. Nicht falsch verstehen: Es ist ein immer noch ein hervorragender Song, der alles besser als der Mainstream macht, jedoch im Gesamtkontext des Albums etwas entfernt am Rande steht und zuschaut.

Wie beendet man denn nun solch einen Leviathan der Wagnisse? Pompös dröhnend und breitbeinig: Unprätentiös mit "The End" betitelt, entlässt uns Thundercat am Mikrofon, während ein sinistre Atmosphäre und ein schleifender Beat ihn ummanteln. Im Hauptteil rattert eine Gatling Gun, und seine Stimme passt stimmungsvoll zur Sirene beim Chorus. Er beschließt mit den Worten: "This is the end and I remember this feeling / now I can breathe easy, no need to feel sorry / we should move up, we should move on / 'Cause there's no coming back."

"Hyperdrama" stolziert als absoluter Eyecatcher am Ende einer Fashion Show. Nach den bereits erwähnten Alben der letzten Jahre, hinzunehmend noch eventuell Gesaffelstein, der sich durch die kurze Spielzeit von "Gamma" dem Zeitgeist anbiedert, warten alle gespannt auf das Supermodel, und Justice liefern ab. Sie lassen wie auf dem Cover tief in ihr Kreuz blicken und alle staunen. "Hyperdrama" quillt über vor Ideenreichtum und handwerklicher Raffinesse, die beiden Franzosen halten diese Fäden meisterhaft zusammen. Es ist für jeden was dabei: Für die Fans der ersten Stunde, für die Verträumten, für die gut betuchten Club-Besucher, die Nostalgiker, die Musiknerds. Ein Potpourri der kühnen Entscheidungen sowie Weiterentwicklung, das sich in knapp 50 Minuten die Zeit für seine Vision nimmt und diese auch kompromisslos durchzieht.

Mit anderen Worten: "Hyperdrama" ist das "My Beautiful Dark Twisted Fantasy" des French House. La vie est belle.

Trackliste

  1. 1. Neverender
  2. 2. Generator
  3. 3. Afterimage
  4. 4. One Night/All Night
  5. 5. Dear Alan
  6. 6. Incognito
  7. 7. Mannequin Love
  8. 8. Moonlight Rendez-Vous
  9. 9. Explorer
  10. 10. Muscle Memory
  11. 11. Harpy Dream
  12. 12. Saturnine
  13. 13. The End

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7 Kommentare

  • Vor 14 Stunden

    Hm, habe auch mehr erwartet. Äußerst vielversprechender Einstieg mit Neverender, astrein kitschig-groovender/s Champagner-Frenchhouse. Aber danach dümpeln die Songs größtenteils recht monoton rum. Einige nette Soundexperimente, die Justice-Trademarks (zerstückelter Groove, Furz-Bass) sind auch schon vorhanden, aber mir fehlt einfach die Catchiness, die z.B. auf Kavinskys grandiosem Reborn nahezu jeder Track ausstrahlt.

  • Vor 4 Stunden

    Habe mich aufgrund der Vorabsingles auf das Album gefreut.
    Final betrachtet finde ich das Album gut, auch besser als die Vorgänger, aber ich teile die Meinung das viele Songs, insbesondere ab der zweiten Hälfte „plätschern“. Man erwartet bei manchen Songs einfach einen besonderen Turn aber stattdessen laufen sie gefühlt ein wenig ins Leere.
    Kein schlechtes Album, aber auch nicht die Offenbarung. Anhand einiger dennoch starker Songs gebe ich 4/5. zumindest gehts wieder soundtechnisch in die richtige Richtung.

  • Vor einer Sekunde

    "Bei "Woman" flehte ich noch ungeduldig, Justice sollen sich nicht wieder fünf Jahre Zeit lassen für ihr nächstes Album. Nun, jetzt sind es sechs Jahre geworden"

    Woman kam 2016 raus. Also fast 8 Jahre.