2. Mai 2022
"Wer in der Schulzeit nicht peakt, hat noch eine Rechnung offen"
Interview geführt von Hannes HußMia Morgan hat sich ordentlich Zeit gelassen mit ihrem Debütalbum. Fast drei Jahre nach ihrer "Waveboy"-EP erschien letzten Freitag "Fleisch". Warum zwischen den Veröffentlichungen so viel Zeit liegt, worum es bei "Fleisch" überhaupt geht und warum Trends auf Tik Tok so schnell vorbei sind, hat sie uns im Interview erzählt.
Bis zum Release von "Fleisch" sind es noch zwei gute Monate an diesem Februarmorgen, Mia Morgan versprüht im Zoom-Interview dennoch pure Vorfreude. Zu lange schon sind die Songs für ihr Debütalbum fertig, um geduldig auf den April warten zu können. Musikalisch bewegt sich die Platte zwischen Synthpop, Poppunk, Industrial und noch vielem mehr. Es ist durchaus eine Abkehr vom "Waveboy"-Sound, der sie 2019 auf die musikalische Landkarte katapultiert hatte. Doch Mia Morgan ist mehr als nur Musikerin, wie sie im Interview klarstellt.
Hi Mia, wie geht's dir?
Geht so. Ich hatte Corona, also ich hab’s immer noch. Morgen teste ich bestimmt negativ. Zwei, drei Tage lang war es schlimm, aber seit zwei weiteren Tagen geht es mir schon wieder besser. Ich bin ein bisschen froh, dass ich es jetzt schon abgehakt habe, weil ich mich immer gefragt habe: When is it my turn? Durch den Booster war es letztendlich wie eine dolle Erkältung. Aber scheiß Timing. Ich muss aus meiner Bude raus, hab noch keine neue. Jetzt ist natürlich jeder krank, wir wollen anfangen, für die Tour zu proben und jede Woche kann jemand anderes aus der Band nicht. Mir ging es sicherlich schonmal besser, aber im Endeffekt ist das wahrscheinlich einfach normaler Stress in Berlin.
Fängt der Albumrollout schon an, zwei Monate vor Release?
Ich bin jetzt am Anfang, diese ganzen Materialien zu sammeln, den medialen Content für einen Release. Auch Interviews fangen an, ich war auf zwei Magazin-Covern, die auf das Album hinarbeiten. Das hat natürlich Raum und Zeit in der Vorbereitung beansprucht. So langsam geht es richtig los.
Wie fühlst du dich generell damit, dein Debütalbum zu veröffentlichen?
Als wäre ich zwei Jahre schwanger gewesen und das Kind ist saufett und muss unbedingt raus. Es ist sehr, sehr aufregend und schön und gleichzeitig sehr, sehr overdue. Ich bin wirklich an dem Punkt, dass ich es raushaben möchte, weil es für eine längere Zeit auf einer Festplatte lag, natürlich auch wegen der Pandemie. Ein paar Songs haben wir auch nochmal neu aufgenommen, deswegen fühlt es sich jetzt nicht oll an. Ich zähle wirklich die Tage runter, bis ich es raus kann.
Inwiefern unterscheidet sich das von den Gefühlen 2019, als die "Gruftpop"-EP rauskam?
(überlegt) Das war damals sehr überstürzt, das genaue Gegenteil von jetzt. Ich hab irgendwie dieses eine Konzert gespielt und dann sehr schnell Leute gefunden, die mit mir auf professionelle Art zusammenarbeiten wollten. Zu dem Zeitpunkt war ich schon ein paar Mal im Studio, aber dann haben wir uns eben ernsthaft daran gemacht, Musik aufzunehmen. Wir hatten da alle Lust darauf und wollten so schnell wie möglich die EP veröffentlichen, damit man auch einen Fuß in der Tür hat.
Ich finde nach wie vor, dass die "Gruftpop"-EP ein gutes Erstlingswerk ist, auf das ich immer noch stolz bin. Die hat immer noch mit mir zu tun und klingt auch weiterhin gut. Das war damals einfach ein rush, schnell, holprig und explosiv. "Fleisch" hingegen war viel organischer und hat sich viel mehr Zeit genommen.
Das hatte mich auch schon ein bisschen gewundert. Häufig sieht man ja, dass nach einer EP schnell das Debütalbum kommt. Du hast dir hingegen drei Jahre Zeit gelassen. Hattest du dir das vorgenommen oder war das durch die Umstände bedingt?
Ich lasse mir eigentlich mit gar nichts Zeit, ich bin der ungeduldigste Mensch der Welt. Bei Hausarbeiten mach ich lieber drei Stunden volle Pulle, als den ganzen Tag damit zu verschwenden, das Haus sauber zu kriegen. Eigentlich hatte ich vor, das schneller zu machen. Dass das so lange gedauert hat, ist jetzt wirklich der Pandemie und einzelnen Songs geschuldet. Mit denen war ich in der Produktion nie zufrieden und wollte immer noch ein bisschen dran arbeiten und was anders machen. Es hat einfach gedauert, sie wirklich auf den Punkt zu bringen und so klingen zu lassen, wie sie im Kopf von mir und Max klingen (Produzent Max Rieger, Anm. d. Red.). Aber die Hauptsache war ganz klar die Pandemie. Ich hab währenddessen nicht in Berlin gewohnt und hierher zu reisen war umständlich. Ich hätte es wirklich gerne früher fertig gehabt, so 2021 im Frühling. Damals war es dann aber nur fast fertig.
Was ist für dich das große Thema der neuen Platte?
Ein junges Mädchen sein. Einfach in dieser Welt ein junges Mädchen sein. Weibliche Körperlichkeit. Weibliches Begehren. Weibliche Gefühlswelt. Ich denke aber auch, dass sich nicht-weibliche Menschen mit dem Album identifizieren können. Die meisten Leute, die es vorab schon gehört und mit mir darüber gesprochen haben, nennen es ein Coming-of-Age-Album. Das finde ich selbst auch, selbst wenn jetzt gerade für mich nicht wirklich ein Coming-of-Age-Zeitpunkt ist. Es ist vielmehr eine Retrospektive mit Erinnerungen aus meiner Teenagerzeit. Der Song "Teenager" befasst sich zum Beispiel sehr damit, 17 zu sein und zu denken, 'Diese ganze brutale Welt steht mir offen, was kann ich als Frau in ihr machen, was bin ich überhaupt als Frau in ihr, was wird von mit verlangt, was will ich geben und was will ich haben?'
Schön, dass du "Teenager" ansprichst, damit habe ich mich sehr identifizieren können. Also mit dieser Uncoolness des Teenagerseins. Bis heute sitze ich immer wieder da und erinnere mich zufällig an diese Zeit und mein ganzer Körper zieht sich zusammen. Hast du eine Strategie, wie man damit umgeht?
Wenn du es herausfindest, lass es mich wissen. (lacht) Ich hab versucht, einen Song darüber zu schreiben, um es mit einem zwinkernden Auge aufzuarbeiten. Das war auch die Idee hinter der Clown-Symbolik im Video. Ich versuche immer mich zu trösten mit dem Gedanken, dass die meisten Leute, die mich inspirieren, früher wahrscheinlich ziemlich uncool waren. Das steht dann auch häufig in ihren Biographien. Ich glaube auch, wenn man in der Schulzeit nicht peakt, dann hat man immer noch eine Rechnung offen. Die zu begleichen, kann einen dann zu einem besseren Menschen machen, als man es sonst vielleicht gewesen wäre.
Vollkommen. Man fühlt sich so, als müsste man der Welt noch etwas beweisen.
Total. Im Großen und Ganzen ist das dann natürlich auf der einen Seite eine Art von Druck, aber auch etwas Schönes. Ich möchte mich eigentlich nie fertig fühlen.
Du bist ja anfangs nur mit einem DJ aufgetreten, jetzt hast du live eine ganze Band dabei. Was ist der Unterschied bei den Liveauftritten?
Es ist viel, viel geiler geworden. Das mit dem DJ war ja auch aus der Not heraus, weil ich Musik immer sehr einsam gemacht habe. Ich habe niemals jemand anderen rangelassen, meine Demos waren immer etwas sehr Intimes. Alles stammte von mir, ich wollte nicht, dass jemand anderes seine Finger da dran legt. Als ich mich Max Rieger anvertraut habe, mit mir zusammen zu produzieren, war das so, als würde ich ihm mein Tagebuch geben. Das war etwas sehr Intimes und deshalb ist es so schön, dass wir einen freundschaftlichen Umgang haben. Dadurch fühle ich mich nicht so, als würde ich mein Tagebuch in fremde Hände geben. Ich habe vielmehr das Gefühl, dass er versteht, was ich will. Ich bin auch keine gute Instrumentalistin, ich hab die ganzen Demos autodidaktisch zusammengeschustert, ohne jegliches musikalisches Fachwissen.
In meiner Heimat Kassel hatte ich auch keine Freund*innen, die Instrumente spielen konnten, ich konnte mich also nie mit jemandem zusammensetzten. Deswegen hatte ich immer Angst, dass es mit einer Band nicht klappen würde und ich mit einer Liveband nicht umsetzen könnte, was ich brauche und den Leuten geben will. Jetzt hatte ich halt das Glück, Leute zu treffen, die diese Vision teilen. Daraus hat sich dann die Band peu à peu zusammengesetzt. Mit meinem Gitarristen bin ich ja auch schon ein paar Mal aufgetreten und hab dann ein Casting für die restliche Besetzung veranstaltet. Ich hatte einfach großes Glück, da nette Leute gefunden zu haben. Mit denen aufzutreten, macht einfach tausendmal mehr Spaß. Die checken das alle und sind supernette Leute. Anders als ich erwartet hatte, ist das nicht bedrückend oder nimmt mir etwas weg, sondern gibt mir etwas dazu. Ich bin auch weiterhin Chefin, wir schreiben die Songs nicht zusammen, aber einfach direktes Feedback zu bekommen, hat mir total geholfen und ich bin daran auch wirklich gewachsen.
Hat sich dadurch auch deine Art, Songs zu schreiben, geändert?
Ja! Auf jeden Fall. Die sind alle rockiger. Ich hab viel mehr Bock auf Lautstärke und Shredden und live nochmal ein Gitarrensolo dranhängen. Es geht vielmehr in die Richtung, wie es live nochmal fetter klingen kann.
"Bubblegum-Pop, inspired by Nine Inch Nails"
Das Gefühl habe ich auch bei deiner neuen Platte, die ja auch deutlich anders als "Gruftpop" klingt. War das auch eine bewusste Entscheidung?
Für mich war das einfach logisch. Ich hatte ein paar Songs für das Album auch schon bei den Aufnahmen zu "Gruftpop", aber ich wollte die EP wirklich unter diesem Titel lassen. Also, dass die Songs auch dazu passen und eine Ouvertüre sind zu dem, was noch kommen wird. Ich wusste aber auch schon damals ziemlich genau, wie das Album klingen soll. Also nach 'Trent Reznor war bei Doll Skill einkaufen und ist ein OnlyFans-Girl geworden.' Ein bisschen Bubblegum-Pop, aber obviously inspired by Nine Inch Nails und andere härtere Geschichten. Der Song "Schönere Frauen" ist ja auch offensichtlich von Rammstein inspiriert. Rina Sawayama hat das vor zwei Jahren sehr ähnlich gemacht. Auf ihrer Platte gibt es so ein paar Songs, die zuerst nach ultrakrassem 90s Rock klingen und dann kommt sie mit so einer Stimme rein, die total zuckersüß R'n'B-mäßig ist. Ich gucke ja prinzipiell nicht in Deutschland nach Inspiration. Ich finde das, was hier passiert, cool und höre das selbst, aber ist nicht wirklich meins. Ich kann mich damit einfach nicht identifizieren und das ist nicht die Musik, die ich machen möchte.
Ich habe mich immer gefragt, warum man in Deutschland nicht versucht, international klingende Musik zu machen. In den frühen 2000ern gab es Sachen wie Preluders oder eine Sarah Connor, auch wenn das eine ganz andere Schiene ist. Die haben Musik gemacht, die meiner Meinung nach auf dem internationalen Markt funktioniert hätte, minus den deutschen Akzent. Die haben sich daran orientiert, was in der gesamten Popwelt passiert, nicht nur auf dem Singer-Songwriter-Contest in Flensburg, no offense. Hier ist alles super soft und Akustikgitarren-lastig. Das sind alles gute Künstler*innen und gute Freund*innen von mir, die Indie-Szene ist krass gut, aber ich wollte immer lauten, großen, drückenden Pop machen. Also so, wie die Musiker*innen, die ich gerne höre. Marina, Lady Gaga, Charli XCX und so weiter.
An Sarah Conner lässt sich doch diese Reprovinzialisierung des deutschen Pop super festmachen. Sie hat mal internationalen Pop gemacht und jetzt singt sie auf deutsch, womit sie noch mehr auf das Formatradio schielt.
Ich verstehe nicht so ganz, warum das so ist. Kurz vor dem Lockdown war ich in Berlin auf einem Charli XCX-Konzert und da waren so wenige Leute. Das ist ein krasser Weltstar und das zündet einfach nicht. Die große Mehrheit will sich wahrscheinlich einfach leicht berieseln lassen, ein bisschen was fürs Herz. Das hören die dann nach ihrem beschissenen Nine-to-Five-Job im Auto. Das strengt sie nicht an, das fordert sie nicht heraus, das kitzelt nichts, was nicht gekitzelt werden will. Ich will aber nicht nur kitzeln, sondern kratzen und schütteln. Das soll dann trotzdem noch zugänglich sein und keine Artsy-Fartsy-Musik, sondern auch auf eine Art und Weise verdaulich. Nur eben ein etwas anderer Geschmack. Ob das den Leuten jetzt gefällt oder nicht, das obliegt ihrer eigenen Beurteilung. Ich finde es einfach schade, dass im deutschen Mainstream – bis auf ein paar Ausnahmen – alles so ein Einheitsbrei ist. Jetzt gar nicht in der Indie-Bubble, da gibt es super krasse Künstler*innen, die super krasse Sachen machen. In Richtung Bedroom-Pop tut sich hier total viel, was interessant und geil ist. Aber im Mainstream nicht.
Bei der deutschen Indie-Szene, wie du sie genannt hast, finde ich superspannend, dass es immer mehr um Mental Health geht. Das kommt endlich auch in Deutschland an. Warum erst jetzt?
Wir sind da ja immer ein bisschen verspätet, auch mit Klamottentrends. Ohne zu weit zu greifen, es gibt auch in meiner Familie diese deutsche Mentalität 'Du bist nur krank, wenn du Fieber hast, natürlich gehst du zur Arbeit.' Hier werden Werte geschätzt, die über Mental Health hinweg gehen. Fleiß und die Priorisierung des Arbeitsplatzes werden über das eigene Wohlbefinden gestellt. Ich kenne das eben auch aus meiner erweiterten Familie, dass es nicht ernstgenommen wird, wenn es jemandem seelisch schlecht geht. Die Leute hier wollen immer gescheit sein und nicht rumheulen, deswegen hat das Thema Mental Health auch länger gebraucht. Man ist nicht so in touch mit sich selbst als in anderen Teilen der Welt, wo es mehr um das Genießen geht.
Um kurz noch bei den deutschen Indie-Künstler*innen zu bleiben. Du meintest mal in einem Interview, ähnlich wie Edwin Rosen, wie wichtig die erste Drangsal-Platte für dich war. Warum war die so wichtig für so viele Leute?
Max (Gruber) hat es einfach gemacht. Wie Max geht es wahrscheinlich vielen Leuten, dass er viele 80er Einflüsse hat, auch dieser 90s Rock, den man jetzt auf den späteren Platten herausgehört hat. Er hat sich gefragt 'Wo ist das jetzt' und hat es dann einfach gemacht und sich getraut. Er war in der Hinsicht der Erste, zumindest kenne ich niemanden, der das davor gemacht hat. Mir ist da wirklich ein Licht aufgegangen. Ich habe durch meine Eltern die gleiche Musik gehört, Neue Deutsche Welle und andere Wave-Acts liefen bei uns zuhause immer. Meine Mutter ist riesiger Depeche Mode-Fan und ich habe das als Kind immer gehört. Später habe ich mich dann gefragt, wann es endlich mal etwas Neues in der Richtung gibt. Als dann "Harieschaim" kam, war das eben, was ich mir gewünscht habe. Ich war damit auch offensichtlich nicht die Einzige, da haben viele Leute drauf gewartet. Dementsprechend ist Max für mich ein Pionier, weil er immer noch einfach macht. Ich finde es superspannend, das mitzuerleben, wie sich das in den weiteren Platten in immer neue Richtungen weiterentwickelt. Solche Leute braucht es. Trotzdem war das für mich kein Anstoß, exakt dasselbe zu machen. Ich hab vielmehr geschaut, wie ich diese Macherart nutzen kann. Wegen "Waveboy" und unserer Freundschaft wird da immer eine Ähnlichkeit der Musikrichtung gesehen. Wir singen beide auf deutsch und machen Sachen, die es ansonsten in Deutschland nicht so gibt. Max ist wahrscheinlich der beste deutsche Künstler, ich bin unglaublich dankbar, dass wir ihn haben, und bin selbst großer Fan.
Beim Thema 80er muss ich natürlich noch die Standardfrage stellen: Kann man die Smiths noch hören?
Schwierige Frage. Leider haben sich die meisten meiner Faves in den letzten Jahren als mehr der weniger problematisch herausgestellt. Bei der neuen Kim Petras-Platte gibt es wieder so einen Scheiß, obwohl die so geil ist. Die hat ihre Platte einfach von Dr. Luke produzieren lassen. Da habe ich wirklich Hemmungen, das anzuhören, weil das alles Songs sind, in denen es um Sex geht. Die wurden einfach von einem rapist produziert. Ich denke aber, dass man das für sich selbst entscheiden muss. Es lässt sich keine allgemeingültige Richtlinie für alle Leute festlegen. Wenn auf Shuffle "Big Mouth Strikes Again" kommt, höre ich das natürlich, weil das so ein unglaublich geiler Song ist. Trotzdem unterstütze ich natürlich in keiner Weise die Aussagen von Morrissey oder irgendeinem anderen problematischen Typen. Da muss jede*r nach dem eigenen Moralkompass entscheiden, ob die Person noch okay ist. Es gibt ein paar Leute, die es sich bei mir komplett vermiest haben, da hab ich auch keine Lust mehr, die Musik zu hören. Aber das Empfinden bei den Smiths hat sich einfach nicht geändert, obwohl ich natürlich gegen Morrissey bin.
Gut zu hören.
Es gibt irgendwie ein Skala von 'Ganz schlimm' bis 'Scheiße, aber irgendwie noch ok.' Dieser Moralkompass, der sich im Internet entwickelt hat, ist wichtig und wir sollten über ihn reden und Leute zur Verantwortung ziehen. Aber wenn ich keine Medien mehr konsumieren soll, die von Leuten gemacht wurden, die sich irgendwie etwas zu Schulden haben kommen lassen, dann kann ich keine Medien mehr konsumieren. Wir haben alle etwas auf dieser Skala getan. Natürlich würde ich die Leute bei 'Ganz schlimm' meiden. Wer aber mal eine homophobe Beleidigung benutzt, sich entschuldigt hat und sich bemüht, ein besserer Mensch zu sein, dann kann man der Person immer noch zuhören und ihr zugestehen, dass sie gewachsen ist. Ansonsten haben wir ja alle verkackt. Als ob wir nicht auf dem Schulhof vor 15 Jahren was gesagt haben, was nicht ok war. Jetzt wissen wir es besser und machen es nicht mehr.
Ich will gar nicht dran denken, was ich auf dem Schulhof gesagt habe ...
Ich will mich jetzt nicht rühmen, aber ich denke schon, dass ich immer Rücksicht nehmen wollte. Einfach, weil ich immer diejenige war, die gemobbt wurde. Aber wir wussten ja vieles nicht. Klar gibt es Worte, die man nicht benutzt, aber homophobe Schimpfwörter haben wir in der siebten Klasse um uns herumgeworfen, ohne darüber nachzudenken, was das eigentlich bedeutet. Gerade, wenn man selbst Teil der queeren Community ist und daran denkt, dass man sich früher selbst beleidigt hat. Total bescheuert. Aber man war ja ein Kind und es gab noch nicht diese wichtige Aufklärung, die es heute wichtiger Weise gibt.
Bei diesem Internet-Moralkompass hinkt Deutschland doch auch wieder hinterher. Hier ist die Mentalität vielmehr: 'Ach, das haben wir damals eben so gesagt.' Deswegen werden dann auch nicht Konsequenzen wie in den USA teilweise gezogen.
Ich finde es auch total bescheuert. Es ist ein Riesenunterschied zu sagen 'Das haben wir damals so gesagt und deswegen ist es nicht schlimm' oder 'Ja, das haben wir damals so gesagt, haben daraus gelernt und entschuldigen uns jetzt.' Man kann ja anerkennen, dass das früher im Kontext ok war, aber auch gleichzeitig klarstellen, dass es das jetzt nicht mehr ist und ein Fehler war. Ich finde es auch superschlimm, wenn Leute vorgeben, seit jeher eine weiße Weste zu haben. Es gibt wahrscheinlich niemanden auf der Welt, der noch nie eine andere Person verletzt hat. Natürlich gilt da auch wieder die Skala. Zwischen 'Dumme Sau' und Slur ist ein gewaltiger Unterschied. Deutschland ist wie so häufig late to the party.
Das Ganze hat ja schon 2012 auf Tumblr angefangen, wo Diskussionen darüber geführt wurden und Triggerwarnungen dazugestellt wurden. Das war auch mein erster Berührungspunkt damit und ich fand das auch schön, in dieser Dystopie des Internets eine Art von Safe Space zu haben. Endlich wurde darüber gesprochen. Hier sind wir leider ein bisschen zu vernarrt in die Freiheit, mit Onkels am Biertisch zu sitzen und Sprüche zu klopfen, nach denen man sich mit den Ellenbogen anstößt. Solche Leute, die sich rühmen, politisch inkorrekte Witze zu machen, die haben einfach keinen Spaß im Leben. Die wissen einfach nicht, wie man lustig ist ohne Leute zu diskriminieren und ein Arschloch zu sein. Aber die Generation wird auch immer älter und ist irgendwann weg.
Aber aktuell sitzt sie noch in wichtigen Positionen und verteidigt reflexartig solche Äußerungen.
Klar, das ist ultrabescheuert.
"Teenager sind das beste Publikum"
Um nochmal auf das Thema Internet zurückzukommen. Als "Waveboy" herauskam, warst du Mia Morgan aus dem Internet und wurdest nicht so ganz als Musikerin wahrgenommen. Hat sich das inzwischen geändert?
Ich war schon immer Musikerin und Mia Morgan aus dem Internet. Ich war auch immer jemand, der geschrieben und Kunst gemacht hat, sich für Mode interessiert. Ich finde es ganz schwierig, dass man Leute in der Öffentlichkeit immer so eindimensional wahrnehmen will. Es gibt immer einen Aufschrei, wenn jemand ein Buch veröffentlicht, der davor etwas anderes gemacht hat. Man darf ja nur eine Sache können und sich für eine Sache interessieren. Bei den meisten Leute aus meinem musikalischen Umfeld existieren Interessen in andere Richtungen. Die schreiben, malen, fotografieren, manche modeln nebenbei. Als kreativer Mensch kann man sich nicht nur auf eine Sache festfahren. Für mich war das in der Jugend lange Zeit ein Problem. Ich hatte das Gefühl, dass ich eindimensional sein muss, damit man mich kategorisieren kann.
Mittlerweile ist es für mich superschön, vieles auf einmal zu sein. Ich möchte natürlich zuerst als Musikerin wahrgenommen werden, weil dafür mein Herz am stärksten schlägt. Die Musik ist für mich auch das Organischste. Aber ich will nicht darauf reduziert werden. Ich will auch Gehör bekommen, wenn ich etwas schreibe oder Fotos poste. Warum Leute auf Eindimensionales reduzieren? Das gilt natürlich auch für Privatpersonen, die keine Sachen auf Bühnen machen. Die haben ja auch mehr als ein Hobby. Da ist man ja auch nicht nur der Fahrradfahrer, wie bei dir. Wir sind alle mehrdimensional.
Zum Thema Mode wollte ich dir noch ein paar Fragen stellen. Aktuell kommt ja die 2000er Nostalgie, die mich total verwirrt. Warum sind auf einmal die Nullerjahre wieder cool?
Dafür gibt es eine ganz einfache Erklärung: Tik Tok und Social Media allgemein. Es gibt das Phänomen des Twenty Year Trend Cycle, also dass sich Trends alle 20 Jahre wiederholen. In den 80ern gab es Referenzen zu den 60ern, in den 60ern zu den 40ern und in den frühen 2000ern dann wieder auf die 80er mit Neon und allem Möglichen. Dieser Trend Cycle ist aber tot. Momentan wiederholt sich alle zehn Jahre alles. Deshalb sehen wir aktuell Sachen aus den 2010ern wie "George Gina & Lucy"-Taschen, die sich alle Leute kaufen – inklusive mir selbst. Statt Croptops gibt es wieder längere Oberteile, wenn man sich nur mit Mode befasst, was dann natürlich auch etwas über Musik aussagt. Durch die größere Verfügbarkeit von Content im Internet kommen und gehen Trends viel schneller. Früher hat man ja nicht mitbekommen, wenn es in New York einen Trend gab. Das kam erst sehr viel später in Deutschland an. In meiner Schulzeit waren bestimmte Jacken oder Marken ewig lange angesagt. Heute ist das ganz anders.
Letztes oder vorletztes Jahr gab es ein grünes Kleid von der Marke "House Of Sunny", das auf einmal alle Influencerinnen hatten. Es war nur superschwer, an dieses Kleid zu kommen, weil das fair produziert war und man monatelang drauf warten musste. Als die Leute dieses Kleid dann endlich bekommen haben, war es nicht mehr in. Keine Influencerin hat das mehr getragen. Die Folge davon war, dass alle Reseller-Plattformen von dem Kleid überschwemmt wurden. Das ist super toxisch und ein Riesenchaos. Was in der Mode passiert, spiegelt sich dann auch in der Musik wider. Wir haben aktuell dieses krasse Poppunk-Revival, Machine Gun Kelly macht Rocksongs mit Willow, die letztes Jahr ein totales Emogirl-Album herausgebracht hat. Bis die Mehrheit jetzt mit ihrem Poppunk-Album ankommt, sind wir aber insgesamt schon wieder bei 2000er R'n'B oder absurder Scheiße wie LMFAO, weil das der Natur des Trend Cycle entspricht. Davor hab ich Angst!
Ich auch, das klingt ehrlich gesagt dystopisch.
Das war super viel Gelaber, aber das interessiert mich total. Ich checke das irgendwie, aber ich finde es schrecklich. Auf Tik Tok sieht man das mit Musik ganz deutlich, wie schnell Trends wieder sterben. Das sind häufig keine neu erschienenen Songs, sondern häufig ältere Songs von gar nicht so bekannten Künstler*innen, die durch irgendeinen Trend populär werden. Einen Monat lang werden die tot gestreamt und danach ist alles wieder vorbei.
Kann man dadurch eine nachhaltige Karriere aufbauen?
Natürlich guckt man immer so ein bisschen neidisch auf Leute, die so einen viralen Tik Tok-Hit haben. Aber die Quintessenz, wie sie das geschafft haben, ist Zufall. Bekannte Leute nutzen dieses Lied. Ich persönlich mache lieber 20 Jahre lang gute Musik, die nicht viral geht, als ein halbes Jahr viral zu gehen und danach in der Bedeutungslosigkeit zu verschwinden. Man kann trotzdem als Musiker*in organisch Musik machen, weil es immer noch Leute gibt, die das wertschätzen. Wenn man aber von einem jüngeren Publikum ausgeht, das auch Hallen füllt und Merch kauft, dann wird es schwierig ohne Social Media-Tools. Ich bin ja auch bei Social Media und versuche, einen Mittelweg zu finden. Ich will meine Musik organisch produzieren und schaue trotzdem, ob mir ein Social Media-Trend gefällt. Ich will nicht nur ein Wegwerfprodukt zum Konsumieren liefern, sondern als Person geschätzt werden.
Aber widerspricht das nicht deinem Album? Es dreht sich um die Teenagerzeit, aber wird in deren Social Media-Sphären nicht großartig stattfinden. Ist es dann nicht mehr für Erwachsene, die nochmal die Teenagerzeit behandeln möchten?
Genau. Ich dachte immer, ich hätte jüngere Leute, bis ich mich mit meinen Social Media-Statistiken befasst habe. Die Leute sind alle so alt wie ich. Natürlich gibt es auch ein paar jüngere Leute und ich freue mich sehr, wenn Teenager*innen meine Musik gut finden. Letztendlich sind die das beste Publikum. Man fährt nie wieder so sehr auf eine Band oder eine Künstlerin ab wie mit 18. Da schwänzt man die Schule, um denen hinterherzufahren. Aber um "Fleisch" wirklich nachzufühlen, muss die Teenagerzeit schon vorbei sein.
Du meintest mal, du willst Popstar werden. Kommst du dem Ziel näher?
Ja. Gerade fühlt es sich nicht so an, es ist mehr so ein Teilzeitjob. Aber sobald ich auf der Bühne stehe, werde ich mich wieder wie ein Popstar fühlen.
1 Kommentar mit 2 Antworten
Allein durch ihre Interviews ist mir Mia sehr sympathisch. Ihr Zugang zur Musik gefällt mir sehr und die Musik selbst erst recht, auch wenn ich wahrscheinlich nicht zur ersten Zielgruppe gehöre. Ich wünsche ihr, dass sich doch zumindest so viel Erfolg einstellt, dass sie von ihrer Kunst leben kann.
Fand das Interview sehr sympathisch und die NIN_Referenz hat mich aufhorchen lassen. Leider musste ich das Album nach 3 Songs abbrechen. Bin ich rund 15 Jahre zu alt für, löst Fremdscham aus.
Alte schwäbische Stricherweisheit: agunt is a gunt.