laut.de-Kritik

Selbstfindungstrip auf Travis Barker-Drums.

Review von

Eyeliner-umrandete Augen, Netzstrümpfe, Nietengürtel, all-black von Kopf bis Fuß: So trat die 20-jährige Willow diesen Mai bei der "Tonight Show Starring Jimmy Fallon" auf. Der Look hat sich komplett verändert. Ihr Auftreten ebenfalls. Bei der 2019 EMA Honors Benefit Gala war ihr Gig sanft, lieblich und voller Soul. War sie damals rosa, dann ist sie jetzt das intensivste rot, das man sich vorstellen kann. Auf "Lately I Feel Everything", oder kurz "lifE", gibt sich Willow Smith energiegeladen. Explosiv. Fordernd.

Das Album markiert einen 360-Double-Flip, der schon lange in ihr loderte. Authentischer als die Pop-Punk-Versuche zeitgenössischer TikTok-Stars, mit einer Mischung aus prätentiösem Punk und nostalgischem Disney-Channel-Openings-Charme (dem Halloween-Special) schlägt Willow den Bogen zwischen angsty Selbstreflektion und eklatanter Savageness.

"t r a n s p a r e n t s o u l" schlägt als Hit-Single durch, die auf TikTok inzwischen nahezu 400.000 Videos untermalt. In einem Genius-Interview erklärt Willow, wie die transparente Seele als Zustand durch exzessive spirituelle Übung und den daraus resultierenden Ego-Tod erreicht werden kann. "You have to clean your soul, clean your ego, clean those traumas", führt sie das Thema der Single aus.

Mit musikalischen Referenzen an Runaways und Joan Jett greift sie auf den Punk-Rock der 70er-Jahre zurück. Aber die Einflüsse fächern sich weiter auf: Die Nu-Metal Band ihrer Mutter, Wicked Wisdom, ist ein Referenzpunkt, gemäß der Altersklasse inspirierten sie natürlich auch Y2K Emo-Punk-Bands wie Fall Out Boy, My Chemical Romance und Paramore.

Trotzdem merkt man: Das ganze Projekt wurde stark von Blink 182-Drummer Travis Barker mitgestaltet. Nach seinen zahlreichen Kollaborationen mit Artists wie Yungblud, Kid Cudi oder Machine Gun Kelly erschuf er sich eine Dominanz im modernen Pop-Punk wie kein Anderer. Sein Markenzeichen? Vielschichtige Drumbeats, die durch gekonnte Variationen so ziemlich jeden Song catchy machen können.

Aber diese Eingängigkeit schafft auch Probleme: "Gaslight" ist lyrisch nicht das Wahre. Hat man die erste Hälfte des Songs gehört, kennt man die andere schon. Willows Stimme überzeugt nicht und wird von der Produktion an die Wand gefahren. Sie verlässt sich rein auf Barkers Getrommel und vergisst, wo ihre eigentlichen Stärken liegen.

Hört man sich die langsameren Tracks des Albums wie "Naïve" oder "4ever" an, fällt auf, dass mit simplen Gitarrenriffs und dezenter Drumbegleitung Willows R'n'B-Vergangenheit aufblüht. Vor allem bei der Vocal-Performance. Ihre Stimme ist besonders, und das ist eine herausragende Stärke. Der darüber gelegte Reverb-Effekt schafft eine atmosphärische Tiefgründigkeit, in die man kopfüber eintauchen kann. Tyler Coles Produktion und Willow gehen Hand in Hand. Immerhin sind sie schon durch das 2020 erschienene Album "The Anxiety" ein eingespieltes Team: Man verarbeitete gemeinsam Angstzustände und mentale Struggles in Musik.

Und Willow beweist später doch, dass sie nicht nur atmosphärisch singen kann, sondern auch in der Lage ist, catchy Hooks mit gefühlvollen Lyrics zu koppeln: "I never wanted to just suffer inside / Hurt don't heal when I'm always tryna hide / And I'm looking at pain like my old close friend / Open arms for her when I see her again" singt sie auf "Lipstick" und ein beeindruckendes Fade-out führt direkt zu "Come Home" mit Ayla Tesler-Mabe.

Übrig bleiben noch mehr Koops. Die auffälligste ist die von Pop-Rock-(Ex-)Sternchen Avril Lavigne in "G R O W". Man braucht nur noch einen Discman (OG Baujahr 2002), Sony Kabel-Kopfhörer und das Sentiment eines ziemlich naiven Teenagers, um hiermit sehr stilecht an einer Bushaltestelle herumstehen zu können. Zwei Minuten dauert der Song. Und nach dem zweiten Durchhören wird er auch ziemlich schnell ... vorhersehbar? Diese Art von Musik ist wohlbekannt. Von Avril, von Barker, seit zwanzig Jahren.

Grundsätzlich sind Out-of-the-Box-Genre-Experimente keine falsche Idee. Wichtig dabei ist, authentisch zu bleiben. Willow ist schon über die Hälfte ihres Lebens in der Musikindustrie unterwegs. Als Kinderstar hatte sie mit "Whip My Hair" einen riesigen Erfolg. 2015 erschien ihr erstes Album "ARDIPITHECUS", auf dem sie sich erstmals neu erfand. Seitdem bleibt ihre musikalische Identität fluide. Sie spiegelt wider, was sie beschäftigt, mit wem sie zusammenarbeitet und womit sie aufgewachsen ist. Sie vertritt das Pop-Punk-Revival authentisch und mit Kante. Ob sie mit "LifE" nicht ein kleines bisschen über dieses Ziel hinausgeschossen ist, wird sich in ihrer kommenden Entwicklung zeigen.

Trackliste

  1. 1. t r a n s p a r e n t s o u l (feat. Travis Barker)
  2. 2. F**K You
  3. 3. Gaslight (feat. Travis Barker)
  4. 4. Don't Save Me
  5. 5. Naive
  6. 6. Lipstick
  7. 7. Come Home (feat. Ayla Tesler-Mabe)
  8. 8. 4ever
  9. 9. XTRA (feat. Tierra Whack)
  10. 10. G R O W (feat. Avril Lavigne & Travis Barker)
  11. 11. Breakout! (feat. Cherry Glazer)

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