laut.de-Kritik

Heilige Scheiße! Ist das schade drum!

Review von

Marzahn, Mutterficker, Marzahn! Verschüttet geglaubte Erinnerungen werden wach, wenn "der Stolz der Ostler" zum neuerlichen Sturm aus der Platte auf die Platte bläst. Ein Ausflug in das natürliche Habitat des Protagonisten war zeitlich diesmal leider nicht drin. Sobald ich allerdings den nächsten Besuch in Berlins finsterem Osten ins Auge fasse, werde ich mich um Joe Rilla als Stadtführer bemühen, ich schwör's bei Mom. Nach dem Genuss von "Auferstanden Aus Ruinen" hege ich zwar einige Zweifel, nicht jedoch an dem Umstand, dass dieser Kerl seine Gegend genauestens kennt.

Fraglich bleibt: Genügen unbestrittene Authentizität, Ortskenntnis und ein Horizont, der an der nächsten Häuserfront endet, um auf Albumlänge zu unterhalten? Ich sage entschieden: NEIN. Tatsächlich konstatiere ich immense Schwierigkeiten, mir Joe Rillas Erguss ohne erheblichen Einbruch in meiner Lebensfreude am Stück anzuhören. Genau genommen überfällt mich etwa nach dem dritten Track der unwiderstehliche Wunsch, mich in Adiletten und ein gepflegt eingeschmuddeltes Feinrippunterhemd zu werfen und mich ausgiebig am Sack zu kratzen. (Finden Sie den Fehler in diesem Bild!)

Die unfrohe Mischung aus Ostblock, Ostblock, Plattenbau, Marzahn, Mutterficker, tausendmal gehörten Durchhalteparolen ("Du kannst es schaffen, Junge, komm klar!"), den obligatorischen Liebeserklärungen an Frau und Kind und noch ein wenig Ostblock, Ostblock, Plattenbau würde mich vermutlich auch dann nicht vom Hocker reißen, trüge sie ein wortgewandter Techniker vor. In Joe Rilla begegnet einem jedoch keineswegs ein Zungenakrobat. Statt sich in ausgefeilte Sprachkonstrukte zu versteigen, setzt er auf stumpf-dumpfe Hammer-auf-Amboss-Reime, die er zudem nicht gerade übertrieben charismatisch präsentiert. "Ich hab Beton auf der Zunge." Diese Feststellung aus "Was Ich Mach" gilt für Joe Rilla wie für seinen Gast Fler gleichermaßen, die sich in der Disziplin Pointenloser Vortrag in Nichts nachstehen. Aber das ist ja auch kein Feature, Junge, das ist Loyalität. Ach, so.

In "1 Für Die Kohle", aus dem von Don P zu verantwortenden Beat ich Warren Gs Klassiker "Regulate" beziehungsweise das diesem zugrunde liegende "I Keep Forgetting" von Michael McDonald herauszuhören glaube, erscheint das Schwergewicht am Mikrofon erstmals ein wenig flüssiger. Ebenso in "Du Kannst Es Schaffen", ein Track, den ein übertrieben eingesetztes, unglaublich nervtötendes, auf Helium-Tonlage gepitchtes Voice-Sample vollkommen unerträglich macht. OSO am Pult sei Dank.

"Wo sind meine Ostler, Junge?" "Hier ist ein Ostler, jetzt!" "Der Osten is back", "weil der Osten was zu sagen hat", nämlich. Bloß ... was? Über weite Strecken wird inhaltlich außer Jonglage mit plakativen Slogans, Hammer, Sichel und Hakenkreuzschmierereien nichts geboten. Wenn ich für jeden Track, in dem ich jemand schon das "Wenn ich noch einen Tag zu leben hätte"-Szenario zücken hörte, ein Huhn besäße, ich wäre Herrin über eine beachtliche Legebatterie. Originell waren die Pläne der Jungs, wie sie denn ihre letzten 24 Stunden zuzubringen gedenken, in den seltensten Fällen.

"Ich hab' noch so viel vor, will noch so viel machen."
"Ich glaub' an das Gute, glaub' an Rap mit Herz." "Ich wünsch' allen Rappern da draußen Glück auf ihrem Weg." "Auf Rap ist Verlass."

In solchen Momenten wird mir der harte Brocken allerdings richtig sympathisch. Zweischneidig wird es aber, wenn (auch das habe ich bereits viel zu oft hören müssen) der zartbesaitete Familienvater ausgepackt wird. Kein Zweifel, Kinder verändern ihre Eltern. Doch interessiert das wiederholt beteuerte, durchaus begrüßenswerte Versprechen, Joe Rillas Tochter solle es unbedingt besser haben als er selbst, außerhalb seiner Familie irgendjemanden?

Muss man persönliche Tragödien ("Vater Und Sohn") tatsächlich ans Licht der Öffentlichkeit zerren und damit riskieren, dass ein Kritiker die von Shizoe gelieferte gesungene Hookline der melancholischen Nummer in den Dreck tritt, weil sie in ihrer unerträglichen Rührseligkeit da verdammtnochmal hingehört? Meine Nerven, solche Tracks verfasst man zur Traumabewältigung und hört sie sich zu Hause an. "Dieses Leben schrieb diese Geschichte", schon klar. Klar aber auch, dass nicht jedes Leben Geschichten von allgemeinem Interesse zu bieten hat, weswegen man manche Stories vielleicht besser für sich behält.

Mit unwesentlichen Einschränkungen stellen sich wieder einmal die Beats als das Lohnendste, das "Auferstanden Aus Ruinen" bietet, heraus. Angefangen beim von Shuko vorgelegten Titeltrack über DJ Shustas "Wo Sind Die Ostler" hin zu Desues "Du Kennst Ein Dreck" bekommen wir es mit durchwegs mächtigen, unheilverkündenden, atmosphärischen Monstern zu tun. "Ostberlin", ebenfalls aus Shukos Feder, eröffnet die wunderbare Marlene Dietrich mit Auszügen aus dem Chanson "Das Ist Berlin", wie sie stimmungsvoller nicht hätten gewählt werden können.

Joe Rilla selbst beweist sich darüber hinaus erneut als Mann der Regler: "Der Osten Rollt" breitflächig, wie in Zeitlupe, und doch unaufhaltsam. Allseits bekannte Versatzstücke wie das Gitarrenriff aus Bon Jovis "Runaway" verwurstet er ebenso effektiv, wie die Goofiesmackerz-Produktion "Denk An Mich" "Kayleigh" von Marillion aus der 80er-Schublade zieht. Auch hier wäre man allerdings ohne die R'n'B-lastige Hook geschmackssicherer gefahren. Wirklich schöne Pianoläufe untermalen "Auf Der Suche", schräg tönt es in "Meer Aus Beton", und die knarzenden, nervenzerfetzenden Spannungsbögen aus "24 Stunden" zwingen einmal mehr zu maßlosem Bedauern: Heilige Scheiße! Ist das schade drum!

Trackliste

  1. 1. Auferstanden Aus Ruinen
  2. 2. Wo Sind Meine Ostler
  3. 3. Egal Woher Du Kommst
  4. 4. Ostberlin
  5. 5. Das Leben Satt
  6. 6. 1 Für Die Kohle
  7. 7. Du Kennst Ein Dreck
  8. 8. Junge Komm Klar
  9. 9. Was Ich Mach
  10. 10. Der Osten Rollt
  11. 11. Du Kannst Es Schaffen
  12. 12. Denk An Mich
  13. 13. Ich Schwörs Bei Mom
  14. 14. Meer Aus Beton
  15. 15. Sie Kennen Mich Nicht
  16. 16. Auf Der Suche
  17. 17. 24 Stunden
  18. 18. Vater Und Sohn

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