laut.de-Kritik

Produzenten-Guru Richard Russell dirigiert ein Star-Ensemble.

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Richard Russell ist jemand, der lieber im Hintergrund bleibt, um stattdessen seine Künstler über sich hinauswachsen zu lassen. Seinerzeit gründete er das britische Label XL Recordings und arbeitete mit Indie-Pionieren wie Damon Albarn, aber auch Koryphäen wie Bobby Womack oder auch Adele zusammen.

Und so trägt diese Platte nur deshalb seinen Namen, weil der ehemalige Rave-DJ den größten gemeinsamen Nenner aller beteiligten Künstler darstellt. Die Idee, die hinter "Everything Is Recorded" steht, steht bereits im Titel. Es ist die Grundhaltung des nimmermüden Produzenten und Idealisten, für den Musik immer über den eigenen Persönlichkeiten steht.

Russell hat eine Tradition daraus gemacht, jeden Freitag eine Art Tag der offenen Tür in seinem Studio in Notting Hill zu veranstalten und zum gemeinsamen Basteln und Improvisieren zu laden. Das klingt fast zu romantisch und zu sehr nach Bohème, um wahr zu sein. Doch die Musik, die dabei so scheinbar im Vorbeigehen entsteht, könnte diesen Geist nicht freier atmen. Egal, ob Ghostface Killahs Sohn, Ibeyi oder Sampha - irgendwie klingt das nicht nach einem Showcase um der Promo willen, sondern nach genuiner Lust am gemeinsamen Machen, nach einem Ort, an dem andere Regeln gelten, einem Kleinod, das den Interessen der Musikindustrie ein wenig trotzt.

Das hört man bereits dem Auftakt "Close But Not Quite" an, in dem Sampha, der gleich bei vier Songs mitverantwortlich zeichnete, seine wundersam somnambule Stimme über den angesoulten Opener legt, der Curtis Mayfields "The Making Of You" samplet. Und diese fast minimalistische Nummer, die in Frank Ocean-Manier beweist, wie unaufdringlich schön und unverziert R'n'B klingen kann, zieht direkt in seinen Bann und demonstriert, fast schon unabsichtlich, wie Russell Einflüsse mischt und Songs nach 70ern und 2018 gleichzeitig klingen lassen kann. Kein Wunder, wenn man seit drei Jahrzehnten den Sound einer Szene prägt und immer wieder neu erfindet.

'Alles wird aufgenommen' bedeutet auch, dass man dem Produzenten Russell über die Schulter schauen kann, wenn er einem Giggs in "Wet Looking Road" den Klick auf die Ohren gibt, und dieser nur lachend abwinkt und meint, dass er keinen braucht: Nach einem Gorillaz-ähnlichen Sample-Einstieg stellt er dies auch unter Beweis. Irgendwo im dunstigen Nebel zwischen Retro-Funk, Afro-Beat und feinst ausproduziertem Sample-Hip Hop, der sich Keith Hudsons Reggae-Track "Dark Night On A Wet Looking Road" bedient, rappt Giggs da sowas von unbeeindruckt seinen Stiefel - ein Abnicker erster Güte.

Russell bleibt knietief im High-Hop und überführt diesen aber immer wieder in neue Gefilde. Auf "Mountains Of Gold" stimmt Sampha einen endzeitlichen Hintergrundgesang an, ein schleppender Beat trägt den fast erzählend langsamen Flow von Wiki. Irgendwann steigt dann einfach Tenorsaxofonist Kamari Washington ein und soliert vogelfrei in und außerhalb der Tonart.

Auch Infinite und Green Gartside fügen sich mit "Bloodshot Red Eyes" nahtlos in das Ensemble ein. Auch deshalb, weil der falsettartige und urpoppige Gesang an sich bereits so reibungslos daherkommt, dass man kurz denkt, Charlie Puth stünde am Mikrofon. Und das Schöne daran: Zu keiner Zeit fehlt die Kante. Stattdessen lässt man sich von der Karamell-Pop-Glasur einfach einlullen.

Fremdkörper gibt es scheinbar keine. Das gilt auch für "Be My Friend" (featuring Ghostface Killah-Sprössling Infinite Cole), das im an SBTRKT erinnernden Refrain mit der Future-R'n'B-Hookgewalt eines halben Chors jegliche Bedenken endgültig hinwegfegt. Mit der größte Trumpf dieser Platte: Die stetige Neugierde auf das nächste Lied, die so gut wie nie enttäuscht wird. Immer wieder taucht etwa dieser okkulthafte Chor auf und stellt sich den elektronischen Sounds und teilweise trappigen Beats entgegen.

Der Titeltrack mit Sampha und Owen Pallet kombiniert raffiniert die sich dramatisch hochschaukelnden Streicher-Arrangements Pallets mit der verzweifelten Stimme Samphas. Ein bisschen klingt das, als hätte jemand mit den Versatzstücken eines Destiny’s Child-Songs gespielt, die Ad-Lips ausgespart und dem Ganzen ein moderneres Soundgewand verpasst. Ein Song-gewordener Cliffhanger, ein Thriller von monumentalem Ausmaß. Am Ende freut man sich ungemein über Russels Tage der offenen Studiotür und fragt sich, warum er mit diesem Projekt 30 Jahre lang gewartet hat.

Trackliste

  1. 1. Intro
  2. 2. Close But Not Quite
  3. 3. She Said
  4. 4. Wet Looking Road
  5. 5. Mountains Of Gold
  6. 6. Show Love
  7. 7. Echoes In The Bone (Interlude)
  8. 8. Bloodshot Red Eyes
  9. 9. Cane
  10. 10. Purify (Interlude)
  11. 11. Be My Friend
  12. 12. Everything Is Recorded

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