laut.de-Kritik

Das Meer, die Summe, die Teile.

Review von

"Somebody was trying to tell me that CDs are better than vinyl because they don't have any surface noise. I said, 'Listen, mate, life has surface noise'" – so verkündete es dereinst John Peel. Ein Einstieg, so alt wie der erste Kratzer in der Plattensammlung. Und die gleichzeitig logischste Annäherung an ein Werk, das in seiner Wechselbeziehung aus schamloser Weiterverwertung und gleichzeitiger Unnachahmbarkeit unerreicht ist.

Mit "Since I Left You" schwoft in den frühen 2000ern ein schillerndes Chamäleon mit entwaffnender Leichtigkeit übers Parkett – und hinterlässt Fans früher psychedelischer Elektronik mit großen Fragezeichen und noch größerem Grinsen. "Since I Left You", das ist ein sechzigminütiger Tauchgang durchs Algendickicht der Musikgeschichte, ersponnen und entworren von sechs Grünschnäbeln aus Down Under. Wie konnte es dazu kommen?

Bevor die mehrjährige Arbeit am Debütalbum nach der Jahrtausendwende endlich ein Ende findet, haben Robbie Chater, Darren Seltmann, Tony Di Blasi, Gordon McQuilten, DJ Dexter Fabay und James Dela Cruz mehr als eine Findungsphase hinter sich. Ursprünglich eine waschechte Gitarrenband, dauert es nicht lange, bis die Sechssaiter zugunsten des Yamaha Promix 01 und Akai S2000 aus dem Proberaum fliegen. Hip Hop und Sampling lauten die neuen Kerninteressen – verquere Beastie Boys-Parallelen dabei unüberseh- und hörbar.

Ein Ausschnitt aus dem australischen Musik-TV-Format "Recovery" zeigt die unverkennbare Halbstarken-Attitüde: auf weirde Raps folgen wilde Scratches und herzzerreißende Schallplattenwürfe. Mit dieser rohen Energie und steigendem Wagemut bricht sich Seltmann bei späteren Tourneen beide Beine, woraufhin es erst mal nur noch DJ-Sets mit Percussions und Theremin zu hören gab. Punk as fuck. Oder?

Nur wenig später küren The Avalanches das Sampling endgültig zur Ausdrucksform ihrer Wahl. Zwischen 900 und 3500 Samples vermutet man auf "Since I Left You", nicht wenige davon bis heute nicht identifiziert.

Zurückgespult: Ein paar neurotische Crate-Digger arbeiten an etwas Großem – es spricht sich herum im feierwütigen Australien, jenem Staat, der die Abbamania wie kein zweiter feierte und sich kurz vorm Millennium einer lebendigen Szene aus Techno- und Rave-Events erfreut.

Mit genau dieser selbstironischen, ja bisweilen introvertierten Einstellung beginnt auch "Since I Left You": Der gleichnamige Opener hakt sich mit einem geschmeidigen "Get a drink, have a good time now / Welcome to paradise" unter, und während Orgeln, Flöten und Akustikgitarren weiterer Vinyl-Untiefen durch den Raum flirren, drücken The Avalanches uns sanft in die Arme fluffiger Doo-Wop-Harmonien des 60er-Jahre-Sunshine-Pop-Quartetts The Main Attraction.

Der Titeltrack zeigt auf, was fürs Hören nüchtern betrachtet unwichtig, aber emotional verdammt wichtig ist: die archaische, durch und durch forensische Vorarbeit der beiden Produzenten Chater und Seltmann.

"It couldn't have been made anywhere else", sagte Robbie Chater dem Guardian Jahre später in Bezug auf den Heimatkontinent. Die Mengen an vermeintlichem Junk, an musikalischen Eintagsfliegen aus aller Welt, die die Gezeiten in australische Second-Hand-Plattenläden spülen, sehen The Avalanches als Herausforderung: Eine über Jahre hinweg betriebene Suche nach versteckten Beats, Grooves und Harmonien – die vielleicht schönste Form von Musikjournalismus.

"Since I Left You" ist durch und durch bunt, psychedelisch und tanzbar: Doch nicht nur der Titel, auch die Geschichte der Samples per se beschert dem Album eine Grundmelancholie, die auch in den wildesten Passagen nicht verloren geht. "Almost the entirety of the musical world that created it is gone", schreibt Charles Fairchild in seiner wissenschaftlichen Abhandlung über das niemals fertig zu analysierende Werk. Nicht nur Künstlerinnen und Künstler, ob identifiziert oder nicht, sind nicht mehr da, auch das Equipment, mit dem "Since I Left You" produziert wurde, hat lange ausgedient.

Und dann sind da eben noch die Vorbesitzerinnen und Vorbesitzer der kistenweise erstandenen Second-Hand-Platten: Die Story hinter dem deutlich knisternden Kratzer des jazzigen "Tonight"-Loop? Eine schleifende Nadel, eine aus der Hülle gefallene Platte – in diesem Leben werden wir es nicht mehr erfahren. Memento mori also? Nur auf den zweiten Blick. Denn eben durch die brutale Zurschaustellung der Imperfektion des schwarzen Goldes zelebrieren The Avalanches als letzte Kuratoren immer auch den Moment.

Und in dem können sich Hörerinnen immer wieder aufs Neue verlieren: ob in der euphorisch French-House-lastigen Glut eines "Electricity" (Rarität: mit echten Vocals, unter anderem von Seltmanns späterer Frau) oder in der verrucht loungigen Wärme der knisternden Klavierloops von "Tonight". "Since I Left You" bedient sich ohne Scheuklappen der Coolness des Jazz, der Seele des Souls und der Attitüde des Rocks.

Die zahllosen 60er-Jahre-Samples aus Jazz, Funk und Easy Listening ermöglichen dabei schon von Natur aus keine punchigen Drums und wummernden Bässe. Stattdessen offenbart sich ein beängstigendes Talent beim Übereinbringen von Harmonien, Tempi und Pitches – wechselseitig zusammengeschnippelt, unter anderem in Chaters Schlafzimmer, das den Titel "Studio" wohl nur mit zwei geschlossenen Augen verdient.

Noch zu Weird-Rap-Zeiten unterschreiben The Avalanches 1998 bei Modular Records. Im Jahr darauf erscheinen zwei EPs, die die Band ins Vorprogramm von Public Enemy, Beck und natürlich den Beastie Boys katapultieren. In dieser fruchtbaren Phase holen sich Chater, Seltmann und Kollegen auch DMC-DJ-Championships-Alumni Dexter Fabay ins Boot – eine Geheimwaffe in Sachen Scratching, wie die spätere Hitsingle "Frontier Psychiatrist" zeigt.

Dabei sticht der Song nicht nur durch exquisiten Turntablism und das skizzenhafte Arrangement hervor, sondern zeigt noch einmal deutlich, dass sich die schwindelerregende Zahl an Samples von wirklich überall her speist: so auch aus Filmen, Serien und – wie hier zu hören – alten TV-Dialogen. Von "Sesamstraße" bis "Lawrence von Arabien". Das Musikvideo: Ein Bände sprechender Fiebertraum aus dunklen Nächten.

"Since I Left You" hat keinen Anfang und kein Ende: mit fließenden Wechseln zwischen Exzess, Orientierungslosigkeit und Ruhepolen, mit sich langsam aufbauenden und wieder zerfallenden Grooves und dem Wiederauftauchen vertrauter Elemente (oh, hallo Madonna!) inszeniert das Album die hedonistische Hausparty in allen klanglichen und räumlichen Facetten – vom Funk der Tanzfläche ("Close To You") über die Ruhepause an der Bar ("Tonight") bis zum kollektiven Sonnenaufgangswatching auf der Dachterrasse ("Extra Kings").

The Avalanches gebären "Since I Left You" in eine Welt des Millennium-Umbruchs. Die ist zwar (mal wieder) von Gitarrenbands geprägt, aber eben noch nicht von Myspace und Kazaa. Eine Zeit, die sich schon fünf Jahre später unglaublich lange her anfühlte. "Since I Left You" ist bestenfalls Thema in frühen Messageboards, eigentlich aber sind es selbst überspielte Tapes, die es über den großen Teich schaffen.

Großbritannien ist schon im Jahr vorm Release heiß wie Frittenfett, die zirkulierenden Bootleg-Versionen des Albums bescheren dem Plattenlabel manche Sorgenfalte. Erste-Hilfe-Maßnahme: ein auf 500 Stück limitiertes Tape mit dem Namen "Gimix", Untertitel: "Contains Elements from Since I Left You". Es zeigt, wie das Album ohne jegliche Lizenzierungsbemühungen (und folglich ohne legales Release) geklungen hätte: Hier nämlich kommen neben unbekannten Soul-, Funk- oder Psychedelic-Acts juristisch kaum zu clearende Samples auf den Seziertisch – Cyndi Lauper, Michael Jackson, The Beatles, Fatboy Slim, De La Soul und natürlich Men At Work.

"Gimix" ist das wohl beste Sommer-Mixtape aller Zeiten – und zugleich ein willkommenes Negativ, das die Stärken des eigentlichen Werks noch einmal sichtbar macht: Denn abgesehen vom als erstes autorisiertes Madonna-Sample in die Annalen eingegangene "Holiday" ist es doch gerade die Unbekanntheit der endlosen, in Perfektion geloopten Instrumentalschnipsel, die "Since I Left You" bis heute zu einem der frischsten und zeitlosesten Klangerlebnisse überhaupt macht.

Nicht, dass die fehlende Dokumentation der Samplequellen nicht bis heute Probleme bereiten würde: gefühlt jede Reissue wartet mit neuen Kürzungen und Korrekturen auf – mit einer nachsynchronisierten Version von "Frontier Psychiatrist" als wohl bitterste Quittung dieses vermeintlichen Spiels ohne Regeln.

Doch mit einer internationalen Veröffentlichung, wie sie schließlich im April 2001 erfolgte, konnten The Avalanches in einem Anflug von Grundbescheidenheit eben nicht rechnen. Gerade außerhalb von Australien bot das Album große Projektionsfläche: Wer würde sich nicht zu "Live At Dominoes" (mit Thomas Bangalter-Sample) einer idealisierten Vorstellung von Down Under mit pulsierenden Strandpartys an endlosen sonnenverwöhnten Küsten mit kristallklarem Wasser und perfekt brechenden Wellen hingeben? Dass es vom Avalanches-Geburtsort Maryborough über 100 Kilometer bis zum nächsten Strand sind, muss die Illusion dabei ja nicht stören.

Robbie Chater verriet einst, "Since I Left You" sei als Konzeptalbum über eine internationale Liebesgeschichte von Land zu Land geplant gewesen. Ein Konzept, das die Band jedoch früh verworfen habe. Dennoch spricht die lebendige Netzkultur, die dieses Werk bis heute hinterlässt – mit regelmäßigen Samplefund-Durchbrüchen nach einem Vierteljahrhundert – dafür, dass diese Liebe lebt. Mit und dank all ihren Konstanten der Ungewissheit.

Denn ganz gleich ob nun Australien oder irgendwo anders da draußen: "Since I Left You" ist und bleibt ein magischer Ort, an dem der Rest der Welt weit, weit weg ist.

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. Since I Left You
  2. 2. Stay Another Season
  3. 3. Radio
  4. 4. Two Hearts In 3/4 Time
  5. 5. Avalanche Rock
  6. 6. Flight Tonight
  7. 7. Close To You
  8. 8. Diners Only
  9. 9. A Different Feeling
  10. 10. Electricity
  11. 11. Tonight
  12. 12. Pablo's Cruise
  13. 13. Frontier Psychiatrist
  14. 14. Etoh
  15. 15. Summer Crane
  16. 16. Little Journey
  17. 17. Live At Dominoes
  18. 18. Extra Kings

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