"Der Jazz ist oder hat ein Problem, weil er hauptsächlich improvisierte Musik ist" meint der Neue Musik-Komponist Pierre Boulez. Lassen wir dieses Statement von Harald Härter erwidern. Er muss es wissen, schließlich spielt der schweizer Saitenderwisch in der Champions League der Jazz-Jetztzeit.

"Klassisch denkende Menschen meinen manchmal, man müsse ganz viele Überlegungen anstellen, um auf etwas Schlaues und Wertvolles zu stoßen. Jazzmusiker glauben das Gegenteil! Sie glauben, wenn du genügend Vorarbeit leistest, nämlich sehr viel übst, du fähig bist, genauso wertvolle Musik im und aus dem Moment zu kreieren. Ich würde ihm sagen: 'Herr Boulez, haben sie schon einmal mit ihrer Frau etwas ganz Spontanes, wahnsinnig Interessantes und Unglaubliches erlebt. Das ist ja auch Jazz, denn sie haben sich nicht zehn Stunden darauf vorbereitet, sie haben es einfach passieren lassen. Finden sie das wirklich wertlos?' Und dann kann er vergleichen. Ist Jazz wertloser oder wertvoller als Auftragskompositionen? Für mich ist alles gleich wertvoll. Spontan oder vorbereitet. Nur gut muss es sein" (Harald Härter).

Lassen wir das mal so stehen und wenden uns der Geburtsstunde des Jazz zu. "Am 13. Mai 1896 um 19.05 Uhr Ortszeit erfand Buddy Bolden in New Orleans den Jazz", behauptet das Fachmagazin Jazzthing in Ausgabe Nummer 45.

So einfach ist es natürlich nicht! Genauso wenig, wie ernst gemeint. Aber einen ersten Hinweis auf die Herkunft und Chronologie des Jazz liefert das Jazzthing durchaus.

Angefangen hat alles auf den Sklavenplantagen. Die Gesänge der Baumwollknechte, die nicht nur in der Entwicklung des Blues, sondern auch für etliche Arten moderner Popularmusik ihre Stimmbänder im Spiel haben, vermischen sich im kulturellen Exil auch mit europäischer Blasmusik!

Das Ergebnis dieser Liaison sind die Marching Bands (Brass Bands), die das wichtigste Stilmittel des Jazz, die Improvisation, in die strenge europäische Form einführen. Gleichzeitig entwickelt sich in der Melodie ein synkopisches Spiel. Dabei werden die Akzente von den schweren Taktzeiten auf die unbetonten Taktteile, die Offbeats, verschoben.

Um die Jahrhundertwende erlebt der Jazz in New Orleans eine erste Blütezeit. Maßgeblich daran beteiligt ist die 1897 dort eingeführte Legalisierung der Prostitution, die den Jazzmusikern vielfältige Arbeitsmöglichkeiten eröffnet.

Der Begriff 'Jazz' wird erstmals 1917, ausgerechnet von einer weißen Band, im musikalischen Kontext benutzt. Die "Original Dixieland Jass Band" nimmt seinerzeit in New York die erste Platte unter diesem Namen auf. Etymologisch wird Jazz häufig auf das unter Schwarzen gebräuchliche Slangwort "Jazzy" (erregend, bunt) zurückgeführt. Aber auch andere Theorien kursieren in der Fachwelt.

In den 20er Jahren entwickelt sich Chicago zur Metropole des Jazz. Ab jetzt spielen die Weißen eine entscheidende Rolle in der Entwicklung. Sie führen die Soloimprovisation ein und helfen dem Jazz dadurch, seine bisherige Funktion als Tanzmusik abzulegen.

Dieser Entwicklung stellt sich in den 30er Jahren zunächst der Big-Band-Swing entgegen, der als durchkomponierte Musik die eben erworbenen Freiheiten wieder einschränkt. In den 40ern knüpft der Bebop an die improvisatorische Entwicklung aus Chicago an und erneuert den Jazz auch auf Grundlage eines erstarkenden politischen Bewusstseins der Schwarzen. Die 50er sind von unterschiedlichen stilistischen Ausprägungen gekennzeichnet, von denen Cool Jazz und Hard Bop sich am ehesten durchsetzten.

In den 60er platzt die Bombe dann endgültig. Im Jahrzehnt des Free Jazz werden alle bis dahin geltenden Regeln gebrochen, alle Grenzen gesprengt. Nach dieser Zeit der größtmöglichen Freiheit, die kommerziell natürlich völlig gegen die Wand fährt, entwickelt sich in der folgenden Dekade der Jazzrock. Die Fusion des Jazz mit der Rockmusik, lässt ihn ein weiteres Mal eine Blütezeit mit großer Breitenwirkung erleben. Protagonisten hierbei sind etwa das Mahavishnu Orchestra, Frank Zappa und Miles Davis.

Diese Entwicklung der genreübergreifenden Fusionen hält bis heute an. Während sich der Jazz bereits in den 70ern um die Implementierung exotischer Melodien und Instrumente bemüht, bleibt das Genre World-Jazz bis heute nicht genügend ausgereizt. Zahlreiche Kollaborationen schöpfen aus den vielfältigen und schier unerschöpflichen Möglichkeiten der interkulturellen und globalen Fusion ihre Innovationskraft. Dhafer Youssef, Rabih Abou-Khalil und Joe Zawinul seien deshalb nur exemplarisch als Vertreter des World-Jazz genannt.

Gegen Ende der 80er setzt sich Acid-Jazz in den Köpfen, Herzen und Popos der Jazzsympathisanten fest. Es sind vor allem britische DJs, die ältere Soul- und Funkaufnahmen aus den 60ern und 70ern für den Dancefloor aufbereiten. Die Jazzpolizei lehnt diese Entwicklung jedoch ab und verweist auf den allzu gefälligen Geist des Acid-Jazz, der discoide Tanzbarkeit ins Zentrum des Interesses stellt und eingefleischten Jazzfans als zu smooth gilt.

Apropos smooth: Neben der Entwicklung des Nu Jazz, der die späten 90er und 2000er mitbestimmt, nimmt auch der Smooth Jazz eine bestimmende Rolle im Zirkus der improvisierten Musik ein. Interpretinnen wie Diana Krall, Norah Jones, Silje Nergaard, Rebekka Bakken, Viktoria Tolstoy und viele andere bestimmen das Geschehen Anfang des Jahrtausends und auf die Frage "Hörst Du Jazz?" hört man immer öfter die Antwort "Norah Jones".

Echten Jazzerinnen und Jazzern ist dieser Adult Contemporary-Ansatz natürlich zu billig. Aber echten Jazzerinnen und Jazzern kann man eh nichts recht machen. Deshalb noch einige provokante Zitate zum Thema: "Ich mag keinen Jazz, weil er mich an Leute erinnert, die in einem Kreis sitzen und reden" (John Cage). "Jede Musik, über die man erst groß nachdenken muss, ist akademischer Müll" (Steve Reich).

Doch, Hilfe naht! "Es ist eine der schönen Begleiterscheinungen am Älterwerden, dass du plötzlich die Geduld für Gedichte oder Jazz aufbringst", weissagt Roisin Murphy im Gespräch mit Laut.de. Hilfe naht auch von medizinischer Seite. "Jazz beansprucht das Gehirn mehr also trockener Techno", hat Arthur Hörwarth, ärztlicher Direktor der Abteilung Psychiatrie am Uni-Klinikum Hoppegarten, als Ergebnis einer ärztlichen Studie 2002 herausgefunden.

Lassen wir zum Abschluss John Philip Sousa, den 1932 verstorbenen amerikanischen Marschmusikkomponisten und Sousaphon-Erfinder, zu Wort kommen, der ein salomonisches Urteil spricht: "Der Jazz wird so lange existieren, wie die Leute ihn mit den Füßen und nicht mit dem Verstand hören."