laut.de-Kritik

Das bessere "Kid A" in vollendeter Form?

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Viele Live-Alben kann man im Grunde in die Tonne hauen. Matschiger Sound, träge Dynamik, genuschelter Gesang und Overdubs en masse. Wirklich schlimm und geradezu sinnlos wird es, wenn sich ein Live-Release komplett auf ein einziges Album konzentriert. Letztlich hat es durchaus einen Grund, dass Studios erfunden wurden. Auf der Gegenseite all dieser negativen Veröffentlichungen gibt es dann Kostbarkeiten wie Radioheads "Hail To The Thief (Live Recordings 2003-2009)".

"Kid A" mag den deutlichsten Bruch in der Diskografie der britischen Band markieren, doch schon 2003 überstrahlte "Hail To The Thief" seinen Vor-Vorgänger in vieler Hinsicht. Die nun veröffentlichten, über sieben Jahre hinweg entstandenen Mitschnitte aus London, Amsterdam, Buenos Aires und Dublin verleihen dem Werk nochmal eine ganz neue Energie, die den Originalen stellenweise fehlte. Selbst Thom Yorke war davon so überrascht, dass ihm im Grunde nichts anderes blieb, als sie nun zugänglich zu machen.

"Als ich darüber nachdachte, wie ich Arrangements für die Shakespeare-Hamlet/'Hail To The Thief'-Theaterproduktion gestalten könnte, bat ich darum, einige archivierte Liveaufnahmen der Songs zu hören", erklärt er. "Ich war schockiert über die Energie, mit der wir damals gespielt haben. Ich habe uns kaum wiedererkannt, und es hat mir geholfen, einen Weg nach vorn zu finden. Wir beschlossen, diese Liveaufnahmen zu mischen und zu veröffentlichen (es wäre verrückt gewesen, sie nur für uns zu behalten). Das Ganze war ein sehr kathartischer Prozess. Wir hoffen sehr, dass ihr sie genießt."

Bereits der auf Orwells 1984 verweisende Opener "2 + 2 = 5" zeigt Radiohead in beeindruckender Form. Hier trifft die Energie ihrer frühen, gitarrenorientierten Phase auf die komplexere Ästhetik von "Kid A". In der Live-Version bewahrt die Band die Klarheit der Studioaufnahme und entwickelt gleichzeitig eine kompromisslose Dringlichkeit. Yorkes Stimme schwankt zwischen verletzlicher Zurückhaltung und rauer Direktheit. Gerade ihr gelegentliches Kippen macht die Darbietung verletzlicher, somit menschlicher und letztendlich eindringlicher.

"Sit Down. Stand Up" (oder wie Badesalz es nennen würde: "I setz mi nieder, lachens / I steh auf, hörns auf") profitiert ebenso von der Live-Atmosphäre, entwickelt sich besonders gegen Ende zu einem echten Hurrikan von Song. Das dramatische Finale kommt live noch stärker zur Geltung, reizt die Spannung des Stücks konsequent aus. Zu dem sich im Kreis tanzendem "the raindrops" verdichtet sich die Intensität ins Unerträgliche, was die apokalyptische Stimmung der Performance immer mehr unterstreicht.

"The Gloaming" lässt einen kalten Schauer zurück. Langsam entwickelt es sich zu einer jener Spukgestalten, die unter deinem Bett warten und dann nachts heimlich hervor kommen und dich im Schlaf an deinen Nervenbahnen kratzen. "Myxomatosis" wütet bassgeladen voran, während "Where I End And You Begin" eine frostige Mischung aus Rhythmus und Atmosphäre formt. Aus "I Will" entsteht ein jaulendes Klagelied, das sich zerschunden an die zweite Stimme der Studiofassung klammert.

Radiohead nutzen "Hail To The Thief (Live Recordings 2003–2009)" zudem, um einen Kritikpunkt an der Vorlage anzugehen. Schon kurz nach der Veröffentlichung des Studioalbums wurde es – auch von der Band selbst – als zu überfrachtet und lang angesehen. Nun schrumpfen vierzehn Tracks auf zwölf. Zum Leidwesen von Fans der Songs "Backdrifts" und "A Punch Up At A Wedding" entsteht nun eine kompaktere Neuinterpretation, die sich ansonsten aber an die bisherige Reihenfolge der Lieder hält.

"Hail To The Thief (Live Recordings 2003–2009)" malt die Vorlage nicht einfach nach Zahlen nach. Viel mehr verleihen Radiohead den Tracks eine ungeahnte Wucht, die manche Momente der klinischen Präzision des Studios etwas eingestaubt wirken lässt. Wo auf der einen Seite Perfektion herrscht, entwickelt die Live-Version ein kompromissloses Flackern aus Wut, Angst und Melancholie. Für die perfekte Form von "Hail To The Thief" hätte es wohl den Hybrid aus beiden Welten gebraucht. So roh und unverstellt funktioniert es aber verdammt gut.

Trackliste

  1. 1. 2 + 2 = 5
  2. 2. Sit Down. Stand Up
  3. 3. Sail To The Moon
  4. 4. Go To Sleep
  5. 5. Where I End And You Begin
  6. 6. We Suck Young Blood
  7. 7. The Gloaming
  8. 8. There, There
  9. 9. I Will
  10. 10. Myxomatosis
  11. 11. Scatterbrain
  12. 12. A Wolf At The Door

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3 Kommentare mit 7 Antworten

  • Vor 3 Tagen

    Badesalz gekonnt in ner Radiohead-Rezi unterbringen 5/5.
    Chappi-eau!

  • Vor 2 Tagen

    HTTT überstrahlt KID A in vieler Hinsicht?! In welcher denn? Da wäre ich wirklich mal interessiert.

  • Vor 2 Tagen

    In keiner Welt ist das besser als Kid A. Nicht mal Top 5 Radiohead Album

    • Vor 2 Tagen

      Wenn man bedenkt, dass Radiohead nur sechs Studioalben veröffentlicht haben, ist das schon ziemlich hart.

    • Vor 2 Tagen

      Okay, Du hast mich, Gleepi...

      ...welche drei von Radiohead hast Du in deinem Scheibenuniversum über den Heimatplanetenrand schwappen lassen? :mad:

    • Vor 2 Tagen

      Keine.

      Ist aber ein relativ häufiger Fehler, dass Leute denken Pablo Honey, The Bends und OK Computer von Radiohead wären von Radiohead. Dabei ist das ganz offensichtlich eine ganz andere Band, die halt zufällig den gleichen Namen hat.

    • Vor 2 Tagen

      :D

      Das geht dir bestimmt nur so, weil die streng genommen kein klassisches "Transitionsalbung" hatten. Bei Tool ist es die "Ænima", die den Übergang von einer jungen, hungrigen, aber insgesamt doch noch recht konventionell tönenden Rock-Band zu dem dokumentiert, was immer sie auch seit der "Lateralus" genau sind. Bei Meshuggah ist das für mich die "Destroy | Erase | Improve", die mit einem Bein noch in den leichter nachvollziehbaren Arbeiten des Frühwerks verharrt, während das andere umso wild zappelnder aus Experimenten mit verschiedenen Stilen und Tempi die Trademarks einzustampfen beginnt, die seit "Chaosphere" dann relativ unisono als "Meshuggahs ureigener Stil" wahrgenommen werden.

      Das fehlt halt bei Radiohead, das geb ich dir. Oder ist vielleicht nicht ganz so offensichtlich bzw. einheitlich unter Fans mit der "OK Computer" verknüpft. Bei mir allerdings schon... Mir sind die ersten beiden Radiohead-Scheiben bis heute annähernd egal, vielleicht war ich dafür einfach die entscheidenden 3-5 Jahre zu jung bei Erscheinen. Aber die "OK Computer" war schon ab VÖ ein steter Begleiter meiner "Teenage Angst & Depression".

      Der Stilbruch mit "Kid A" hat mich dann mindestens so kalt erwischt wie alle anderen Musikliebhaber*innen zu der Zeit auch, aber mit dem Blick von heute zurück (ggf. nostalgisch verklärt) würde ich schon behaupten, dass "OK Computer" an vielen Stellen belegt, wie eine Band nach zwei Alben zu einer außergewöhnlichen Selbstfindung ansetzt und zur VÖ von "OK Computer" wahrscheinlich selbst noch keinen Schimmer hat, wo sie mit "Kid A" u. ff. landen wird, aber angetrieben von dem unbedingten Willen bleibt, dass es keinesfalls nochmal so öder, konventioneller und teilweise mit dem verkaufsüblichen Britpop seiner Zeit völlig austauschbarer Scheiß wie auf den ersten beiden Scheiben werden soll.

      Es bleibt sicher schwieriger (an)zu erkennen, da die elektronischen Elemente auf "OK Computer" noch beinahe völlig fehlen - aber das Songwriting würde ich schon als die Brücke von der "The Bends"-Band zur "Kid A" u.ff.-Band (an)erkennen wollen.

    • Vor einem Tag

      Ja, habe auch überlegt, in welche Gruppe ich OK Computer jetzt packen soll. Habe mich hauptsächlich für die erstere entschieden, weil so der Spruch mit der Top 5 noch etwas lustiger war. ;-)