6. November 2020

"Nick Caves 'Ghosteen' find ich katastrophal"

Interview geführt von

"Und ich warte, warte, warte, dass etwas passiert", singt Max Rieger auf dem neuen Album seines Soloprojekts All Diese Gewalt, "Andere". Passiert ist ziemlich viel in den letzten Jahren, jedenfalls in seinem musikalischen Kosmos. Im Interview gewährt er Einblicke in seine Arbeit.

Max Rieger ist längst mehr als "der Typ von Die Nerven". Als Produzent war der 27-jährige Wahlberliner zuletzt unter anderem an Platten von Drangsal, Mia Morgan, Jungstötter und Ilgen-Nur beteiligt, zusammen mit Ralv Milberg und Thomas Zehnle (Levin Goes Lightly) gründete er das Electronica Projekt Jauche, bei Langeweile schrubbt er unter dem Pseudonym Obstler wüsten Black Metal und Noise. Vor Kurzem schnupperte er bei Burhan Qurbanis moderner Kinodeutung von "Berlin Alexanderplatz" sogar Filmmusikluft.

Und dann ist da noch All Diese Gewalt. Was 2014 mit einem halbstündigen Longtrack auf der EP "Ich Berühre Dich Nicht" begann und klang wie ein Swans-Demo, mündete 2016 in das elegante Ambient Rock Werk "Welt In Klammern" und steht heute bei knackigen Popsongs mit Kante.

"Andere", das dritte All Diese Gewalt-Album, zeigt die Glurak-Version von Max Rieger: einen in jeder Hinsicht weiterentwickelten Musiker. Wir sprachen mit ihm darüber, was sich seit "Welt In Klammern" verändert hat, was er von Lo-Fi und Poetisierung in der Musik hält, warum die Stadt Berlin Hits begünstigt, über Nine Inch Nails, Nirvana, Talk Talk, Nick Cave, Tokio Hotel, Idles, Herbert Grönemeyer ... und darüber, wie ein Maschinengewehr auf dem Albumcover landete.

Welche Grenzen überschreitest du mit "Andere"?

Max Rieger: Meine eigenen hoffentlich.

Auch musikalisch?

Ja, auf jeden Fall. Allein die Tatsache, dass es jetzt Refrains gibt, ist für mich schon eine Grenzüberschreitung verglichen mit dem, was bisher da war.

Man hört Zeilen wie "Halte mich bedeckt" und "Alles ist Fassade". Verstellst du dich auf dem Album?

Ja und nein. Ich hab' mich verstellt. Aber mit etwas Distanz – das Album ist ja inzwischen seit fast einem Jahr fertig – stelle ich fest, dass ich mich eigentlich gar nicht verstellt hab', sondern dass ich das zu dem Zeitpunkt tatsächlich war.

Demgegenüber stehen Zeilen wie "Du weißt alles ist wahr." Die Differenz zwischen Verstellen und Preisgeben scheint sich als roter Faden durch "Andere" zu ziehen.

Auf jeden Fall. Etwas preisgeben und doch das Geheimnis für sich behalten.

Wie viele echte Erfahrungen sind in das Album eingeflossen?

Alle.

Du wirst zitiert, dass du das Album selbst "furchtbar" findest. Warum?

Ganz einfach gesagt: Weil die letzten vier Jahre furchtbar für mich waren. Weil das Album ein Spiegel dessen ist, was in den vier Jahren passiert ist. Man wächst ja auch daran. Ich bin froh, dass es fertig ist. Ich bin froh, dass ich jetzt was anderes machen kann. Es war wirklich schwer, das zu machen.

Die Arbeiten am Album begann schon vor einigen Jahren. Wann wusstest du, was der rote Faden sein würde und warum?

Der rote Faden kam erst sehr, sehr spät. Mein vorheriges Album "Welt In Klammern" von 2016 war von Anfang an auf eine musikalische Erfahrung über einen bestimmten Zeitraum ausgelegt. Die Songs gingen ineinander über, ich habe Stücke geschrieben oder gestrichen, bloß weil ich fand, dass in der Tracklist-Dramaturgie dieses fehlt oder das nicht funktioniert. Bei "Andere" war es ein ganz anderer Arbeitsprozess, weil ich wollte, dass jeder Song auch für sich genommen funktioniert. Mir ging es erstmal nur um die Songs an sich. Ich habe sehr, sehr lang gebraucht, genug Material zusammenzukriegen, um überhaupt damit anzufangen, das in irgendwelche Reihenfolgen zu kriegen. Selbst vor zwei Monaten habe ich nochmal überlegt, beim Presswerk anzurufen und die B-Seite vor die A-Seite zu stellen – und das Album ist ja nun wirklich schon eine Weile fertig. Ich habs dann nicht gemacht. Die Tracklist ergibt schon Sinn so. Ich finde auch, dass es jetzt einen roten Faden gibt, aber er kam wirklich sehr spät.

Was würdest du als roten Faden für dich beschreiben?

Ich weiß gar nicht, ob ich das konkret benennen kann und ob man es konkret benennen muss. Ich betreibe auf der Platte kein Storytelling, erzähle keine Geschichte, sondern ich kuratiere Zeit. Ich überlege mir: Zu welchem Zeitpunkt will ich, dass was passiert? Das ist der rote Faden – mehr ein Gefühl als ein Narrativ.

Das Artwork – eine in Tuch gehüllte Gestalt mit Maschinengewehr – spiegelt die Musik recht gut wider, finde ich. Eleganz trifft auf Brutalität, Verschleiertes auf Rampenlicht, Mystik auf Realität. Wie entstand die Idee dazu?

Besser könnte ich es nicht sagen, ich müsste das jetzt eigentlich wiederholen. Die Idee war, ein Bild zu machen, das gleichzeitig extrem introvertiert und extrem extrovertiert ist – das gleichzeitig etwas preisgibt und ein Geheimnis für sich behält. Es ist jetzt das dritte All Diese Gewalt Album. Auf dem ersten war eine verschwommene, grob gerasterte Kugel drauf. Auf dem zweiten war immer noch sehr grob gerastert eine Marianne Stokes Malerei von einem Jungen mit Wanderstab. Das jetzt ist die Fortführung, aber plötzlich ist das Bild super Hi-Fi, megaultrascharf, extrem hochauflösend ... und trotzdem weiß man irgendwie nicht, was man da sieht. Ich mochte die Diskrepanz aus diesen beiden Dingen – das Superkonkrete und das total Unklare. Ganz am Anfang des Prozesses ging es auch schon um eine Fortführung der bisherigen Albumartworks. Das Kind von "Welt In Klammern" sollte ich sein. Also dachte ich mir: "Okay, dann muss ich diesmal wirklich auf dem Cover sein", hab' erstmal ein Foto von mir selbst gemacht und mir gedacht: "Mann, wie uncool ist es, heutzutage ein Foto von sich selbst aufs Cover zu klatschen – ich mach’ das jetzt einfach." Ich packe das dann auch immer in iTunes zu meinen Demos, gucks mir an, wenn ich sie höre und überlege, ob sich das richtig anfühlt oder nicht. Nach ein paar Monaten fand ich dann, dass es überhaupt nicht geht. Viel zu klar, viel zu narzisstisch, viel zu eitel. Dann wollte ich es wie bei René Magrittes "Die Liebenden" machen. Da küsst sich ein Paar mit weißen Tüchern um die Köpfe. Davon habe ich dann ein Bild gemacht, das schon in die richtige Richtung ging. Das finale Ding hab' ich tatsächlich geträumt. Klingt ein bisschen pathetisch. Da war das Tuch nicht mehr weiß, sondern rot und ich hatte ein Maschinengewehr. Ich bin aufgewacht und habs sofort gezeichnet. Das ist es dann geworden.

Mit wem hast du es umgesetzt?

Mit David Spaeth. Er musste auch durch gen ganzen Prozess durch, weil ich schon vor zwei Jahren bei ihm ankam: "Mann, ich möchte unbedingt dieses Foto von mir auf dem Cover haben, es hat aber so schlechte Auflösung... Kann man da was machen?" Und er so: "Oh Gott, nee, eigentlich nicht." Ein paar Monate später kam ich mit der nächsten Idee: "Das ist es jetzt!" Zwischenzeitlich wollte ich einen Hund auf dem Cover und er meinte: "Jaja, ich besorg' dir den Hund." Aber es wurde nie konkret und irgendwann war dann klar: Okay, das wird das Cover. Da habe ich es dann auch wirklich gespürt. Und als ich es ihm beschrieben und die Zeichnung gezeigt habe, hat ers sofort verstanden. Wir haben das Bild ganz kurz vor Lockdown gemacht. David Spaeth hat das Foto gemacht und produziert, Manuel Wagner war für die Postproduktion zuständig und Teresa Grosser als Kostümbildnerin. Das Krasse war: Wir hatten dieses Shooting angesetzt, David und Manuel sind nach Berlin gefahren, wir haben diese Waffe ausgeliehen, Teresa hatte diesen Stoff gekauft … und in ihrem Büro war ein paar Tage vorher eine Mitarbeiterin als dritte Berliner Patientin positiv auf Corona getestet worden. Sie kam nämlich aus Mailand von der Fashion Week. Da habe zum ersten Mal gespürt, dass es weird wird. Aber beim Shooting haben sich noch alle umarmt. Teresa ist auch getestet worden. Damals sind noch Leute zu dir nach Hause gekommen, um an der Haustür einen Abstrich zu nehmen. Lang ists her, aber das ist die Geschichte zum Cover.

Du stellst dich im Pressetext als Gegner von Poetisierung in Musik dar – im Wortlaut: "Die Vorstellung, man müsse Sprache in Musik poetisieren, finde ich nicht treffend." Teilweise fallen deine Texte auf "Andere" zwar direkter aus, oft aber doch verdichtet und unklar. Poetisierst du denn hier nicht auch selbst? Wie passt das zusammen?

Der Gedanke kam erst, als das Album schon fast fertig war. Aber ich hab' in den letzten Jahren gemerkt, dass es mir nicht mehr so unendlich viel Spaß macht, komplett verschleierte Texte zu haben, die nur selbstreferenziell sind und wo eigentlich überhaupt nichts erzählt wird. Ich habe den Eindruck, dass verklärte Sprache inzwischen von Leuten instrumentalisiert wird, mit denen ich nichts zu tun haben möchte. Das hat auch eine politische Komponente. Persönlich in meinem eigenen Leben mag ich es tatsächlich viel lieber, wenn Dinge klar ausgesprochen werden. Ich höre den Großteil der Zeit auch lieber gute Nachrichten und Wissenschaftspodcasts als Musik – einfach um eine Festigkeit zu haben. Die Informationen, die in die Welt hinausgeschickt werden, werden so diffus. Dazu möchte ich eigentlich nicht beitragen – kann aber irgendwie auch nicht anders. Natürlich weiß ich, dass ich meinen Grundsatz aus dem Pressetext direkt selbst verrate, denn natürlich ist es poetisch. Mir ging es mehr darum, mit wenigen Worten auszukommen; darum, dass es keine Verzierungen oder Verschönerungen gibt, dass es keine zusammengesetzten, erfundenen Substantive gibt – das, was Poesie und deutsche Songtexte oft haben. Man sollte mit den Worten hantieren, denen man auch im Alltag begegnet und nicht die Musik abkoppeln von der Sprache, die man jeden Tag benutzt.

"Musik zu machen ist nicht so schwierig"

Kommen wir zur Musik. Was fiel hier für "Andere" in deinen Aufgabenbereich?

Ich hab' alles gemacht. Aber nicht mehr so krass wie beim vorherigen Album, wo ich wirklich alles gemacht habe und auch keine GastmusikerInnen hatte. Jetzt habe ich eingesehen, dass einige Sachen andere Leute deutlich besser können als ich. Zum Beispiel habe ich einen tollen Schlagzeuger – der Garagen Uwe. Er ist mit mir durch den ganzen Prozess durchgegangen. Auf dem Album ist er nur in vier, fünf Songs zu hören, aber über die Jahre habe ich mit ihm bestimmt über 20 Stücke aufgenommen. So nach dem Motto: "Ich hab' 'nen Song und brauch da ganz schnell Drums." Wir hatten unsere Studios im selben Gebäude, also bin ich immer hoch, hab’ die Drums aufgenommen, weitergearbeitet und den Track ein halbes Jahr später wieder verworfen. (lacht) So wars ganz oft. Ich bin froh, dass er mir seine Freundschaft nicht gekündigt hat. Er war der Kollaborateur, mit dem ich am meisten gemacht habe. Einen Song gibt es, der tatsächlich nicht von mir allein geschrieben wurde, sondern von der All Diese Gewalt Band. 2016 und 2017 waren wir mit der vorherigen Platte auf Tour und während wir 2016 auf diese Tour geprobt haben, haben wir "Grenzen" geschrieben. Den Song haben wir dann auch immer live gespielt. Jetzt ist er auf dem Album gelanden. Außerdem gibt es Gastgesang von Albertine Sarges von Itaca und Die Heiterkeit. Tolle Musikerin. Es gab also ein kleines Team.

Trennst du Songwriting und Produktion oder geht das ineinander über?

Das ist immer dasselbe. Mich reizt es nicht so, am Klavier oder an der Gitarre Songs zu schreiben. Ich brauche meistens irgendeinen Sound, der mich catcht. Es gibt eben nur eine bestimmte Anzahl an Akkordfolgen, die zumindest mich triggern, die ich geil finde. Wahrscheinlich wären alle meine Songs dieselben, wenn sie alle mit einer Gitarre gespielt werden würden. Deswegen geht es immer um Sounds und deswegen ist die Produktion von Anfang an dabei. Es passiert immer alles gleichzeitig. Diesmal habe ich mir am Ende aber noch Zeit genommen, die Platte in einem bestimmten Zeitraum zu mischen. Das führte dann dazu, dass wir für zwei Songs nochmal neue Drums aufgenommen haben, irgendwo einen neuen Bass und bei fünf Songs die Main Vocals neu gemacht haben. Mich stört nicht, dass das alles so durcheinander funktioniert. Kennst du von Nine Inch Nails "Closer"? Der geht sechs Minuten, wovon die ersten drei Minuten mit Gesang und die letzten drei instrumental sind. Es baut sich immer weiter auf und ganz am Ende steht diese kaputte Casio Piano Melodie als großes Finale. Diese Melodie ist tatsächlich erst beim Mastering dazugekommen. Vorher war sie nicht da. Daran denke ich immer. Wenn etwas sein muss, ist es scheißegal, in welchem Abschnitt des Albums man gewiss Sachen macht.

Du suchst also erst den Sound und versuchst dann daraus einen Song zu basteln?

Ja, es wird immer recht interessant, wenn es um Samples geht. Ich hab' irgendwo was gehört, finde den Sound geil und frage mich: Was mache ich damit? Gutes Beispiel ist der Opener ("Halte Mich"; A.d.R.). Da hatte ich mit meinem Handy einfach einen Pianoton aufgenommen. Ich hatte nur diesen einen Ton, mochte irgendwas an der Textur. Wenn in der Songwriting-Session jemand ankommen würde und sagt: "Hey, guckt mal, ich hab hier diesen einen Ton!" käme zurück: "Bist du bescheuert?" Ich mag es aber, darauf aufzubauen und habe angefangen, auf diesem Ton, der immer wieder geloopt wird, den Song zu schreiben.

Du stammst aus Stuttgart, bist dann nach Leipzig gezogen, seit ein paar Jahren lebst du nun in Berlin. Wie hat Berlin dein künstlerisches Schaffen beeinflusst?

Ich habe weniger Geduld. Darauf kann man es glaube ich herunterbrechen. Seit ich in Berlin bin, habe ich weniger Geduld. Meine Aufmerksamkeitsökonomie ist sehr begrenzt, was aber nicht per se eine schlechte Sache ist. Ich hab’ einfach keine Geduld mehr und ich weiß auch, dass viele MusikhörerInnen keine Geduld mehr haben. Don’t bore us, get to the chorus! Die Geschwindigkeit, mit der alles um einen herum passiert, spornt mich persönlich an, was Besseres zu machen. Bei Songs, die ich produziere, überlege ich, ob es irgendwo Speck gibt, den man wegschneiden kann. Irgendwas, was nicht sein muss, was zu lang ist. Lange war ich da sehr protetktiv dagegen und fand: "Nee, das muss so lang sein! Wenns nicht so lang ist, kann man sich nicht reinfühlen." Aber das stimmt nicht. Wenn ich mir heute Zeug anhöre, was ich vor ein paar Jahren gemacht habe, denke ich mir ganz oft, dass man es radikaler hätte kürzen müssen. In Leipzig sind die Lebenshaltungskosten nicht so hoch, man hat weniger Stress im Leben und hat dadurch mehr Zeit und Aufmerksamkeit. Das ist grundsätzlich eine schöne Sache. Aber ich hab' sie nicht und ich vermisse sie auch nicht.

Bist du deswegen nach Berlin gezogen?

Ja, weil mir Leipzig zu langsam war. Man kann sich in Leipzig sehr gut im kleinen Rahmen niederlassen und in seiner eigenen Bubble böse gesagt vor sich hinvegetieren. Das wollte ich nicht. Ich will, dass viele Leute hören, was ich mache. Weil ich glaube, dass es vielen Leuten gefallen kann, wenn sie bloß darüber stolpern und ein bisschen offen sind für Dinge, die nicht die allernaheliegendsten sind.

Neben All Diese Gewalt spielst du bei Die Nerven und warst als Produzent für so unterschiedliche Acts wie Mia Morgan, Jungstötter, Drangsal und Search Yiu aktiv. Inwiefern unterscheidet sich All Diese Gewalt von deinen anderen Projekten?

All Diese Gewalt ist, was ich für mich mache und ich ich nur vor mir selbst verantworten muss. Ich kann für mich selbst und vor mir Ideen umsetzen, worauf andere vielleicht nicht so Lust drauf hätten. Es ist zu hundert Prozent meins.

Welche Elemente von früheren Arbeiten hast du für All Diese Gewalt adaptiert?

Naja, man lernt bei jedem Projekt irgendwas Neues. Wenn man mit anderen Leuten zusammenarbeitet, kommt man auf die Ideen, auf die man alleine nicht gekommen wäre. So kann man bestimmte Ideen, Workflows, Mindsets in seinen eigenen Werkzeugkasten mit aufnehmen – wie man an Musik und an eine Produktion rangeht, wie man Songs schreibt, wie man mit Zeit, Arrangement und Text umgeht. Alles. Ich kann nicht konkret sagen, dass diese Idee so auf dem Album steht, weil X – sondern es ist ein konstantes Lernen. Das ist das schöne daran, wenn man mit so vielen Leuten arbeitet.

Max Gruber a.k.a. Drangsal verriet vor einer Weile im laut.de Interview, dass er dir nach Hörproben zu neuem Material den Rat gegeben hat, "hittigere" Songs zu schreiben. "Andere" hat nun durchaus solche Songs. Wie groß war sein Einfluss auf das Album?

Im Zeitraum, als ich das Album gemacht habe, sind Max und ich sehr gute Freunde geworden. Er war immer eine der ersten Personen, die neue Ideen von mir zu hören bekommen haben. Dass er einen Einfluss hatte, lässt sich nicht leugnen. Er hat mir das Gefühl gegeben, dass ich das tatsächlich auch kann und es kein Verrat ist, wenn man versucht, Musik zu machen, die auch meiner Mutter gefällt, und sich an diesem Handwerkszeug probiert.

Es gab da auch diesen Moment, als ich ihm die erste Version von "Erfolgreiche Life" geschickt habe. Dazu meinte er: "Ja, der ist geil. Und jetzt mach ihn mal in Dur." (lacht) Dann hab' ich mich tatsächlich rangesetzt und alle Moll-Akkorde in Dur-Akkorde umgewandelt und Autotune auf die Stimme gelegt, sodass nicht der Moll-, sondern der Dur-Ton getriggert wird. Das war ganz, ganz bizarr. Ich hab’s ihm geschickt und es kam: "Ja, jetzt ists perfekt!" Aber nee, nee, so weit kann ich nicht gehen. Ich transportiere ja trotzdem ein Gefühl und "Erfolgreiche Life" ist ein Song, der auch seine Boshaftigkeit, Bitterkeit und schwarzen Humor braucht. Das steckt für mich in diesem Song drin. Ich weiß nicht, ob das so rüberkommt, aber es muss da sein. Es gibt eben auch den Punkt, an dem zu einfach gemachte Musik zu einem Witz verkommt. Man muss den Pegel finden. Aber Max hatte auf jeden Fall Einfluss darauf, wie mit der Zeit auf dem Album umgegangen wird, ja. Zweifellos.

Die Dur-Version wäre doch eine schöne B-Seite.

Nee, nee, es reicht, wenn sie in meiner Erinnerung existiert.

Auf deiner Festplatte existiert sie nicht mehr?

Doch, bestimmt irgendwo. Es war auch nur ein Snippet. Ich hab' halt den Refrain raus-gebouncet und mir nicht die Mühe gemacht, den ganzen Song in Dur zu übersetzen. Aber lustig wars schon.

In deiner Bubble aktueller deutscher Pop- und Rockmusik scheinst du recht gut vernetzt zu sein. Popmusik, auch in Deutschland, ist gegenwärtig sehr auf Features ausgelegt. Warum machst du keine?

Ich möchte niemanden da mit reinziehen. (lacht) Nein, ich hatte bislang einfach nicht den Eindruck, dass ein Song das braucht. Es ist nicht so, als würde ich mich dem verschließen. Bisher ist es einfach noch nicht passiert, das ist alles. Da gibts kein ideologisches Dogma.

Du wirst inzwischen mit Produzentengrößen wie Rick Rubin, Holger Czukay und Brian Eno verglichen. Welche Vorbilder hast du selbst?

Als Produzenten/Musiker/Recording Artists Leute wie Trent Reznor und Atticus Ross, die es irgendwie geschafft haben mit "unangenehmer Musik" so eine große Karriere zu machen. Ich glaube, sie können nachts ruhig schlafen, weil sie nicht das Gefühl haben, ihre Musik zu verraten. Das finde ich den schönsten Gedanken. Musik zu machen, ist nicht so schwierig. Man kann relativ leicht catchy Songs machen. Man kann relativ leicht was produzieren, worüber andere sagen, dass es "fett" klingt. Aber manchmal ist "fett" ja gar nicht das, was man möchte. Es gibt Milliarden Abstufungen und damit beschäftige ich mich gerne. Aber lass mich mal überlegen, ob mir noch weitere Namen einfallen...

Es gibt einen Produzenten namens John Congleton – er ist nicht so unendlich bekannt. Ich mag ihn, weil er ein Workaholic ist und es ihm nicht wichtig ist, im Vordergrund zu stehen. Macht ganz, ganz viele Sachen, gefühlt zehn Albumproduktionen im Jahr und ist dabei hands on genug, aber auch laissez-faire genug, um mit so vielen Leuten zu können. Man ist ja als Produzent halb Dienstleister und halb Künstler. Man muss immer austarieren, wo der Grad ist. Das unterscheidet sich bei jedem Projekt. Beim Jungstötter Projekt war die Ansage: "Max, du machst da gar nichts. Immer wenn du das Gefühl hast, da müsste jetzt Reverb oder Delay hin – don’t do it!" Auch ziemlich geil. Bei Mia Morgan kommt Mia meist "nur" mit Text, Melodieführung, oft auf der Akustikgitarre geschriebenen Akkordfolge an und ich mache darauf die komplette Produktion und entscheide, welche Drums, welcher Bass, welche Gitarren, welche Keyboards, welche Samples draufkommen. Jetzt hab' ich mich ein bisschen verquatscht. (lacht)

Vor einer Weile hast du in einem Doppelinterview mit Drangsal über die Wichtigkeit von Produzenten gesprochen, am Beispiel von Nirvana und Butch Vig. Wie gewichtig schätzt du die Rolle eines Produzenten für den Erfolg einer Band ein?

Ich weiß nicht, ob man das so einfach sagen kann. Viel ist glaube ich Zufall, aber es gibt natürlich Leute, die einfach wissen, was gut und die richtige Entscheidung ist. Es gibt Produzenten, die eine Platte kaputt machen können. Es gibt Produzenten, die eine Platte total elevaten können. Und es gibt Produzenten, die kaum Einfluss haben auf die Musik, die tatsächlich dargeboten wird. Das kommt auch immer auf die Menschen an, die daran arbeiten, und auf das Projekt, an dem man arbeitet. Generisch kann man das nicht sagen, glaube ich. Kann man sagen, dass Butch Vig Nirvana groß gemacht hat? Auf jeden Fall! Trotzdem bin ich "In Utero"-Jünger. Das hat zwar nicht die besseren Songs, ist aber die bessere Platte, weil sie die Energie transportiert, die Nirvana hatten. Das schafft "Nevermind" nicht so gut wie "In Utero".

Wer hat eigentlich "Bleach" produziert? Ich hab' eine extreme Nirvana-Phase hinter mir, aber die "Bleach" ist eine katastrophale Platte. Wer auch immer die produziert hat, hatte überhaupt keine Ahnung, was er da tut. Die Drums klingen so flach-metallisch, die Gitarren auch... das ist alles so zweidimensional.

Welche aktuellen Platten sprechen dich insbesondere vom Standpunkt der Produktion an?

Was mich extrem stresst und ich mir deshalb kaum reinziehen kann, aber trotzdem total geil finde sind 100 Gecs. Sie haben z.B. auch für Charli XCX produziert. Diese extreme, ADHS-mäßige Sache, diese totale Informations- und Reizüberflutung … sowas finde ich echt geil. Im Grunde das, was Death Grips in ultraböse schon vor ein Jahren gemacht haben. Lass mal kurz gucken, was ich in letzter Zeit so gehört habe. Ah, die neue Idles!

Ohje, ich weiß nicht wieso, aber die Band spricht mich einfach nicht an.

Mich auch nicht, aber es klingt geil! Und der Titel ist sensationell: "Ultra Mono". Ich hab' heute viel Tokio Hotel gehört.

Neu oder alt?

Sowohl als auch. Und das Billy Soloprojekt. Weil ich heute Jan Müllers Reflektor-Podcast mit Bill Kaulitz gehört habe, versuche ich das gerade ein bisschen aufzuarbeiten. Ich fand das cool. Das beantwortet natürlich keine Frage, ich hab' das jetzt nur in Spotify gesehen.

Immerhin können wir jetzt eine Headline draus machen, dass du Tokio Hotel hörst.

Ja, gern! Also ich hab' vor ein paar Tagen auch wieder angefangen, Talk Talk zu hören. Perfektes Timing. Die waren ja Anfang der 80er eine Synthpop Band, dann eine New Wave Synthie Band, mit ihrem dritten Album plötzlich eine Artpop Band und dann ab ihrem vierten Album "Spirit Of Eden"... ein zeitloses Meisterwerk! Wenn du mich nach dem besten Album aller Zeiten fragen würdest, würde ich wahrscheinlich "Spirit Of Eden" von Talk Talk nennen. Ein un-glaub-lich-es Album. Die Band, die Post Rock erfunden hat. Das ist so bizarr. Die Platte ist wirklich, wirklich krass. Und wirklich zeitlos. Zeitlos in der Musik. Zeitlos in der Darbietung. Und auch zeitlos im Sound. Wenn man heute eine Platte genau so produzieren und veröffentlichen würde, würden alle sagen, dass das Top of the Pops ist. Besser kann man Sachen nicht klingen lassen. Es gibt überhaupt keinen Zeitstempel auf der Platte. Das finde ich immer noch gruselig. Ich fange übrigens irgendwie immer automatisch an, Talk Talk zu hören, wenn der Herbst beginnt. Das ist perfekte Herbstmusik. "Spirit Of Eden" ist für den Herbstanfang, im Übergang Richtung Winter hört man das Album danach. Da wurde es ruhiger. Von Synthie Pop zu Post Rock zu bloß noch Klavier oder Gitarre und Gesang beim allerletzten Album.

Beim Konsum von Musik spielt immer auch Wahrnehmung eine Rolle. Als Produzent hast du gewissen Einfluss darauf und kannst Wahrnehmung bis zu einem gewissen Grad auch steuern. Ist dir das bewusst und setzt du das Wissen darüber aktiv ein?

Natürlich. Es geht ja nur darum, was am Ende aus den Boxen kommt. Natürlich kann man alles nur bis zu einem gewissen Grad steuern. Wann etwas "fett", "voll", "gut" oder "schlecht" klingt ist zu einem sehr großen Teil subjektiv, in verträglichem Maße aber auch objektiv. Das ist mir klar und das nutze ich auch auf jeden Fall. Mir macht dieses Wahrnehmungsding ehrlich gesagt das Leben ein bisschen leichter. Weil es geht gar nicht zwingend darum, dass etwas genauso klingt wie ich denke, dass es klingen muss. Es reicht auch, wenn man an Punkt X aufhört und sagt: "Das reicht, um diese Wahrnehmung zu erzeugen." Mir selbst ist das ja eigentlich relativ egal. Mir würde es auch reichen, von meinen eigenen Songs nur die Demos rauszubringen. Denn ich weiß ja wie es eigentlich klingen soll. Die Frage ist: Wie weit erzählt man, wie etwas wirklich gemeint ist und wie sehr überlässt man die Leute ihrer Fantasie? Ich finde, das ist eine gute Sache und mache mich deswegen nicht verrückt. Ganz im Gegenteil.

"Ich hab' soft spots für eine Herbert Grönemeyer Produktion von 2018"

Was war dir wichtig, aufs Album zu packen?

Ich kann mich an einen Auslöser erinnern, als ich wusste, dass ich an einem neuen All Diese Gewalt Album arbeite. Da hab' ich noch in Leipzig gewohnt, war in Berlin zu Gast und habe Max Nossek von Karies getroffen. Er frage, was ich so treibe, und ich hab' geantwortet: "Ich mache gerade das neue All Diese Gewalt Album. Es geht diesmal richtig schnell. Ich hab' so viele geile Ideen. Und mein Ding ist, dass ich jetzt total viel mit Beats, Rhythmus mache. Ich arbeite viel mit Drums, mit Percussion." Das ist glaube ich, was sich am meisten verändert hat im Vergleich zur bisherigen All Diese Gewalt Musik.

Es gibt eine EP von 2014, die fast Ambient ist. Ambient war auch immer das, woraus ich fast alles für All Diese Gewalt gezogen habe. Alles spielte sich auf einem Drone ab. Ich hatte einen Drone und hab' darauf den Song geschrieben. Jetzt war alles plötzlich ganz anders. Rhythmusbasierter. Wenn ich jetzt einen Drone hatte, musste ich feststellen, dass ich ihn im Pre-Chorus wegen eines Tonartwechsels nicht laufen lassen kann und im Refrain auch nicht, weil ich den Raum mit anderen Sachen fülle. Es wurde voll. Ich wollte, dass es voller ist. Ich wollte, dass es konkreter ist. Ich wollte, dass es direkter ist – ohne was von dieser Mystik einzubüßen. Es war für mich der nächste logische Schritt.

Die Zeiten des Drone Pop sind also vorbei?

Ich weiß gar nicht, wer das Drone Pop genannt hat...

Du, glaube ich.

Echt? Kann ich mich nicht dran erinnern. (lacht) Aber zu dem Zeitpunkt war das ja auch richtig. Da steh' ich auch dahinter. Aber mal schauen. Erst vor zwei Wochen habe ich wieder einen neuen Song gemacht, bei dem ich mir dachte, dass es auf jeden Fall ein All Diese Gewalt Song ist. Ich schreibe ja immer viele Songs, habe inzwischen aber auch den Luxus, manche Stücke anderen MusikerInnen anbieten zu können, wenn ich ihn für keins meiner Projekte sehe. Deswegen ist gerade alles deutlich offener. Ich hab' in letzter Zeit auch ein paar Songs geschrieben, die "hittig" sind. Das muss aber für All Diese Gewalt nicht sein, also hab' ich sie bei verschiedenen Leuten aufgeteilt. Aber neulich habe ich einen All Diese Gewalt Song geschrieben – und der hat gar keinen Beat. Vielleicht wird es jetzt das komplette Gegenteil. Wenn ich noch ein All Diese Gewalt Album mache, bin ich jetzt noch in einem so frühen Stadium, dass man noch nicht sagen kann, was es am Ende wird. Vielleicht fliegt er wieder raus.

Sehr wahrscheinlich, wenn man dir so zuhört.

Mjaaa, neee, der ist geil! Es ist ein positiver Song. Er hat was Sakrales. Er fühlt sich richtig an.

Für "Welt In Klammern" hattest du vorab über 100 Songs. Wie viele standen diesmal zur Auswahl?

Weiß ich nicht mehr. Nicht so viele. Um die 40. Dass ich bei "Welt In Klammern" über 100 Songs hatte, hatte aber auch ein bisschen was mit meiner Interpretation davon zu tun, was als Song gilt. Das hat sich geändert. Dass ich über 100 Ideen hab', bedeutet ja noch lange nicht, dass es ein Song ist. Wenn man es darauf runterbricht, hatte ich diesmal wahrscheinlich deutlich mehr Songs als für "Welt In Klammern", aber weniger Ideen. Ich habe mir angewöhnt, den Mut zu haben, etwas sofort zu löschen, wenn es nicht schnackt – und nicht zu speichern. Früher hab’ ich jeden Furz gespeichert und das war dann auch ein "Song". Manchmal passiert einfach nach einer halben Stunde nix, dann ist das auch kein Song und einfach scheißegal. Aber es gab nie wirklich viel Ausschussmaterial für "Andere".

Was meinst du mit Ausschussmaterial? Stücke, die theoretisch noch drauf landen könnten?

Ja. Ab einem gewissen Punkt war immer relativ schnell klar, an welchen Songs ich mich entlang hangeln möchte. Als der rote Faden sichtbar wurde, gab es vielleicht noch fünf, sechs Songs, die noch in Frage gekommen wären, aber es letztlich nicht geschafft haben.

Mir kommt es so vor, als würden All Diese Gewalt mit jedem Album perfekter werden. "Ich Berühre Dich nicht" ähnelt Swans, ist sehr roh, bei "Kein Punkt Wird Mehr Fixiert" wirst du strukturierter, bei "Welt In Klammern" noch einmal mehr – aber es gibt weiterhin die Rockbasis und ein gewisses ausuferndes Feeling. Jetzt ist alles sehr kompakt, sehr klar … einfach "perfekter". War das auch immer dein Anspruch von Album zu Album oder hat sich der verändert?

Mir gehts nicht darum, perfekter zu werden. Wenn man etwas über einen längeren Zeitraum macht, wird man einfach besser darin. Objektiv besser. Andere Leute würden sagen: überproduziert. Aber es wird ja objektiv besser und nachvollziehbar. Es war nie geplant, dass "Ich Berühre Dich Nicht" und "Kein Punkt Wird Mehr Fixiert" so kaputt klingen und dass "Welt In Klammern" so distanziert klingt. Alles ist Kind seiner Zeit. "Andere" klingt auch nicht perfekt. Verglichen mit meiner Vorstellung von der Qualität, in der ich gerne Musik produzieren würde, klingt "Andere" immer noch relativ Lo-Fi, finde ich. Ich würde gerne noch in andere Sphären vordringen. Eigentlich ist es ein Lernprozess. Ich halte nichts von Lo-Fi im Sinne von "etwas schlecht aufnehmen". Ich mag, wenn man etwas schlecht aufnimmt, aber weiß, dass man es schlecht aufnimmt. Das find' ich geil. Das war bei den frühen All Diese Gewalt Sachen nicht so. Ich wusste nicht Mastermind-mäßig genau, was ich tue. Ich hatte überhaupt keine Ahnung, was ich da tue, war total überfordert mit den ganzen Spuren und mein Computer hat zu der Zeit nicht mehr mitgemacht. Also hieß es: I can't deal with this – es ist fertig. Die Computer werden besser, es gibt mehr Zeit, ich hab’ bessere Mikrofone, bessere Technik, bessere Lautsprecher… Natürlich will ich, dass es besser klingt.

Wenn "Andere" Lo-Fi ist – wohin willst du?

Zu Ultra-Klarheit im Sound. Was nicht bedeutet, dass es ultraklar in der Musik ist. Ich hab’ schon einen soft spot für eine Herbert Grönemeyer Produktion von 2018 oder sowas – also wirklich Top of the Pops, das Beste vom Besten. Vielleicht noch ein besseres Beispiel: Was Nick Cave in den letzten Jahren gemacht hat. Ausgenommen "Ghosteen", das find' ich furchtbar.

Wie bitte?

Find' ich katastrophal. Ich hatte auch mal diesen Microkorg Synthesizer und höre die ganzen Presets raus, die er dort die ganze Zeit laufen hat. Unerträglich für mich. Aber ich meinte das Album davor, "Skeleton Tree". Da würde ich sagen: Das klingt objektiv perfekt – ist aber in keinem Moment an klar. Sowas find' ich super.

Könntest du dir vorstellen, selbst eine Herbert Grönemeyer-Produktion zu machen, dich also diesem Standard anzupassen? Du kommst ja durchaus aus einer anderen Ecke, nennen wir es einfach mal grob Lo-Fi. Oder würdest du versuchen, eine Mischung zu finden und etwas eigenes zu kreieren?

Naja, es gibt diesen Standard und das ist der Industriestandard. Das find' ich auch geil und es ergibt Sinn, dass es der Industriestandard ist. Aber was mich vielleicht ein bisschen auszeichnet, ist, dass ich aus dieser Ecke komme ... ich würde es jetzt nicht Lo-Fi nennen, weil Lo-Fi eben seiner Zeit geschuldet ist, weil ich Musik zu einer Zeit produziert habe, wo andere Leute vielleicht gesagt hätten: "Na den Scheiß bring' ich aber nicht raus." Ich hab' den Scheiß halt trotzdem immer rausgebracht. Deswegen haftet das ein bisschen an mir. Ich hab' viel schlechte Musik veröffentlicht. Extrem viel. Damit kann ich auch leben. Aber es bedeutet nicht, dass ich das auch machen will. Mir geht es darum, in jedem Moment selbst die Entscheidung darüber treffen zu können, wie gut etwas klingt. Dass man es umsetzen kann, wenn etwas nach Industriestandard klingen soll – aber eben auch, wenn man möchte, dass es nach Lo-Fi klingt. Würde Herbert Grönemeyer mich anrufen, damit ich sein nächstes Album produziere, würde ich auf Dienstleistungsbasis natürlich versuchen, seine Songs so gut es geht auf Industriestandard zu heben, aber immer mit dem Gedanken im Kopf, wie es wahrgenommen wird und diese Sache mit dem Unklaren. Das Goal ist die bewusste Entscheidung darüber, wann man Lo-Fi und wann man Hi-Fi ist. Da will ich hin.

Kommen dabei auch Projekte wie Obstler und Jauche ins Spiel?

Jauche ist ja explizit Hi-Fi.

Eben. Es sind zwei Pole.

Jauche ist das schlechteste Equipment der Welt aufgenommen mit dem besten Equipment der Welt. Obstler ist Quatsch und scheißegal. (lacht) Der Grund warum ich das Ganze mache ist glaube ich, dass ich für mich nicht sagen kann: "Ich interessiere mich für diese Art von Musik und damit ist es gut." Das wird dem nicht gerecht. Heute hör' ich Tokio Hotel, morgen wieder Ambient Drone, übermorgen Katy Perry, dann Herbert Grönemeyer, dann Nick Cave, dann eine Woche lang nur Swans ... Ich will mich nicht festlegen. Ich finde auch nicht, dass man sich festlegen muss. Ich mag alle Musik. Ich find' alles geil.

Laut Instagram ist das neue Die Nerven-Album seit Sommer im Kasten. Was ist der aktuelle Status?

Wir waren im Studio und haben die Bandaufnahmen gemacht. Über einen Zeitraum von ungefähr einem Jahr haben wir Songs geschrieben und schon 2019 für diesen Sommer Studiozeit gebucht. Dann kam erstmal Corona und der Lockdown und wir mussten ein paar Sessions absagen, in denen wir eigentlich die Platte finalisieren wollten. Danach haben wir uns nur noch zu den Proben für die Studioaufnahmen getroffen. Wir haben ja immer relativ wenig Kontakt, wenn wir nicht gerade aufeinander rumhängen. Aber als wir zusammenkamen, stellten wir fest, dass die Songs plötzlich perfekt passen. Total gruselig. So wie die Platte jetzt ist, fühlt sie sich so an, als wäre sie im Lockdown geschrieben worden – dabei entstanden Songs und Texte vor über einem Jahr. Vielleicht ein ganz gutes Zeichen, dass es eine zeitlose Angelegenheit sein könnte.

Im Oktober stehen die Vocalsessions an und dann nehme ich mir sehr viel Zeit mit der Platte. Zeit hatten wir bei Die Nerven noch nie. Ursprünglich war mal angedacht, im Frühjahr 2021 mit dem Album zu kommen. Momentan ist mit Bleistift Herbst 2021 eingetragen. So habe ich auf jeden Fall noch ein paar Monate Zeit, um daran zu arbeiten. Ich würde die gerne ein bisschen produzieren und nicht nur aufnehmen und raushauen wie bisher. Das ärgert mich ja an jeder Die Nerven-Platte. Es gab einfach nie Zeit. Noch bevor wir mit "Fake" ins Studio gegangen sind, stand fest, wann das Album rauskommt. Das bedeutet: Da muss das Master fertig sein, da muss der Mix fertig sein, also müssen wir jetzt ins Studio. Total ungesunder Prozess eigentlich. Aber jetzt hab' ich die Zeit.

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LAUT.DE-PORTRÄT All Diese Gewalt

Max Rieger alias All Diese Gewalt ist Langeweile zuwider. Neben seinem Solo-Projekt betätigt er sich als Sänger und Gitarrist der Stuttgarter Band Die …

7 Kommentare mit 9 Antworten

  • Vor 3 Jahren

    Schnell die Headline geändert, weil es kein Schwein lesen wollte?

  • Vor 3 Jahren

    Krasser Typ, dessen "Pose", die er (live) innerhalb von Die Nerven öfter mal einnimmt, ich nach diesem Interview doch etwas besser zu verorten (und zu verzeihen) vermag.

    Hab vor paar Jahren ja mal geschrieben, dass ich während seines Arbeitsprozesses super gerne mal so was wie die Studioratte wäre, um ihm hier und da über die Schulter schauen zu können. Diesen Punkt hat er schon lange und insbesondere mit "All diese Gewalt" hinter sich gelassen, da aufgrund seiner ausnehmenden Eigenständigkeit im Klangbild inzwischen die Gefahr zu groß wäre, danach nur wie sein schlechter Abklatsch zu klingen - was nicht heißen soll, dass ich ihm die Adaption an andere Produktionsstile oder die Fertigkeit, so etwas wie ein kerniges Grönemeyer-Album zu produzieren, damit abspreche. Aber eine durch und durch erfrischende Gestalt im Post-Bourani & Ist-Giesinger-Zustand der deutschsprachigen Musiklandschaft.

  • Vor 3 Jahren

    Gutes Interview.
    Max Rieger hat "viel schlechte Musik veröffentlicht"?
    Also mir fällt da nichts ein, da ist er schon ziemlich überkritisch zu sich selbst, was ja für ihn spricht.
    Auch schön zu lesen, dass er beim Musikhören keine Scheuklappen aufhat aber bei einem Musiker seiner Güte überrascht mich das nicht wirklich.

  • Vor 3 Jahren

    Für nen Lauch macht er ganz akzeptable Musik. Aber auch wirklich nur für nen Lauch. Weiß er wohl selbst, sonst würde er nicht sinnloserweise mit dem Diss von besseren Musikern von sich reden machen wollen.

  • Vor 7 Monaten

    Gefällt mir das Interview.
    Max Rieger ist ein spannender Musiker, ich mag seine verschiedenen Ansätze und seinen Klangkosmos auf den bisher veröffentlichten All Diese Gewalt Alben. Andere hat mich echt berührt und voll reingezogen, eine gute Produktion die klar macht wie gut der Mann ist, beeindruckend.
    Welt in Klammern ist da ganz anders aber auf seine Art genau so gut.Max Rieger schafft mit seinen Arbeiten was ganz eigenes, persönliches, unangepasstes, besonderes, anderes, da passen viele Tribute und auch wenn es mal ein wenig Mainstreamiger wird hat es dieses besondere Qualität die ihm mittlerweile eigen ist.
    Ich bin freu mich schon auf das neue im November 23 kommende Album und bin sehr gespannt.