laut.de-Kritik

Scooters Urgroßväter im Auge des Sturms.

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Wie meilensteinig kann ein einzelnes Album eigentlich sein? "Chill Out" prägte eine ganze Musikrichtung und deren Namen. Über Umwege floss es mit dem Wort "chillen" sogar in die Jugendsprache der 1990er ein. Die The KLF-Platte avancierte zur Keimzelle, deren Gene sich über The Orbs "Adventures Beyond the Ultraworld" und Aphex Twins "Selected Ambient Works 85-92" in die ganze Welt verbreiteten. Mehr dürfte kaum möglich sein. Gut, "Chill Out" hätte sich außerdem gut verkaufen können. Aber das holten The KLF ein Jahr später mit "The White Room" nach.

Wie so vieles in der viel zu kurzen The KLF-Räubergeschichte klingt all dies aus heutiger Sicht erstunken und erlogen. Ein Schelmenstück, eine Eugenspiegelei, eine Münchhausiade, die einem keiner mehr glauben mag. Aber Bill Drummond und Jimmy Cauty verbrannten tatsächlich eine Millionen britische Pfund, brachten ein Polizeiauto an die Spitze der britischen Charts, schrieben das mit einer Geld-zurück-Garantie ausgestattete Buch "The Manual (How To Have A Number One – The Easy Way)", schockten mit einem toten Schaf die Aftershow-Party der BRIT Awards und zogen sich auf dem Höhepunkt ihres kommerziellen Erfolgs schlagartig aus dem Musikgeschäft zurück.

Dabei wechselten sie ihre Namen im Minutentakt. Mal brachten sie ihre Lonplayer als The Justified Ancients of Mu Mu, mal als The Timelords, The K Foundation, 2K oder The JAMS raus. Aber an keinem anderen hielten sie so lange fest wie an The KLF. Die Urgroßväter von Scooter waren Pop Art, Punk und für ein Augenzwinkern lang größer als Jesus und John Lennon zusammen.

Mitten in diesem aufgedrehten Tohuwabohu veröffentlichen sie mit "Chill Out" den Gegenentwurf zu ihrer eigenen Rastlosigkeit. Die komplette Reduzierung. Das Auge des Sturms. "This is the eye of the storm / It's what men in stained raincoats pay for but in here it is pure." (Pulp - "This Is Hardcore")

Aus der gleichen Session wie die The Orb-Maxi "A Huge Ever Growing Pulsating Brain That Rules From The Centre Of The Ultraworld" entstanden, geben The KLF mit "Chill Out" dem reichlich angestaubten Ambient-Genre eine eigene entschlackte Note und hieven diese erstmals auf Album-Format. Eine live eingespielte Bastelarbeit, die im Trancental-Studio nur unter Zuhilfenahme zweier DAT-Recorder entstand. Zwei Tage arbeiteten Cauty und Drummond an den Aufnahmen, fingen immer wieder von neuem an, bis sie mit dem Ergebnis zufrieden waren.

Erst nach den Aufnahmen entschieden sich The KLF für die Titel der ineinander fließenden Stücke. Der Leitgedanke bildet eine nächtliche Reise entlang der Golfküste Amerikas, von Texas nach Louisiana. "Ich war nie an diesen Orten", erklärte Drummond 1991 in einem Interview mit dem X Magazine. "Ich weiß nicht, wie diese Orte sind, doch in meinem Kopf kann ich mir vorstellen, dass diese Klänge von jenen Orten stammen, allein schon wenn ich auf die Karte schaue."

Am Anfang war das Nichts, aus dem sich zirpende Grillen erheben. Die Eisenbahn-Romantik eines auf Schienen rappelnden Zuges zieht sich als roter Faden durch das Album, verbindet Vogelgezwitscher, mähende Schafe, grunzende Schweine und den Kehlgesang tuwinischer Mönche. An unseren müden, halbgeschlossenen Augen ziehen Fragmente alter Gassenhauer und den späteren KLF-Hits "3 A.M. Eternal", "Justified And Ancient" und "Last Train To Trancentral" vorbei.

Rudimentäre Synthesizer-Motive und Graham Lees (The Triffids) Steel-Gitarre lassen erahnen, dass es sich bei "Chill Out" tatsächlich um Musik, nicht um eine Nachvertonungs-Schallplatte mit 80 Geräuschen und Klängen zum Thema "Reisen, Verkehr und Hobby" handelt. Mit ihren Samples, die sie wie Farbtupfer einsetzen, malen The KLF ein Gemälde. Wie bei Bob Ross ist alles erlaubt und nichts verkehrt.

Mit "Brownsville Turnaround On The Tex-Mex Border" setzt sich das Album langsam in Bewegung und nimmt nur selten etwas mehr Fahrt auf. Die Welt zieht nicht mit 300 Sachen an uns vorbei, wir sitzen nicht in einem ICE, sondern in einer gemächlichen Dampflok. In "Six Hours To Louisiana, Black Coffee Going Cold" begegnen wir erstmals den auf dem Cover, das bewusst Pink Floyds "Atom Heart Mother" nachahmt, versprochenen Schafen, die im weiteren Verlauf der The KLF-Geschichte immer wieder eine tragende Rolle spielen sollten. Eine nahezu stillstehende Synthesizer-Schleife ebnet den Weg zum brummenden Mönch in "Dream Time In Lake Jackson".

Im Echo versunken und von Lees Steel-Gitarre begleitet, singt Elvis Presley in "Elvis On The Radio, Steel Guitar In My Soul" noch einmal "In The Ghetto". "As the snow flies / On a cold and gray Chicago mornin' / A poor little baby child is born / In the ghetto." Glücklicherweise hatten Drummond und Cauty die Samples diesmal vorab geklärt. So entging "Chill Out" dem Schicksal des The Justified Ancients of Mu Mu-Debüts "1987 (What the Fuck Is Going On?)", das sie wegen eines nicht genehmigten ABBA-Samples vom Markt nehmen mussten und dessen restliche Kopien sie auf einem Feld bei Göteborg verbrannten.

Nach 23 Minuten setzten in "3 A.M. Eternal Somewhere Out Of Beaumont", dem Kernstück der Platte, erstmals zaghafte Hi-Hats und Percussions ein. Das Jesus Loves You-Sample "After the love is gone" erweitern The KLF mit einem aus ihrem späteren Hit "3 A.M. Eternal“ entliehenen "eternal". Eine Schlenker über verzweigte Zwischenspiele, entfremdeten Möwengesang, ein an Pink Floyds "Echoes" gemahnendes Echolot und Desperado-Gitarren führt letztendlich zu einer vagen Erinnerung an Fleetwood Macs "Albatros" und spielenden Kindern. Ein herausragender Ambient-Track.

Deutlich sticht "Wichita Lineman Was A Song I Once Heard" aus dem Konzept heraus. In einer Umgebung der Einkehr offensiv und melodieverliebt vorgetragen, prophezeit das Stück das vor uns liegende "The White Room". Für einen Moment verstummen Vögel, Bahn und Schafe. Nur eine rostige Stimme schimpft zu einer schimmernden Einleitung, einer behutsamen Bassline und zurückhaltenden Beats. "Yes I'm that preacher everybody's talking about." Aus einer Flaute heraus bäumen sich die euphorischen, mit der Klassik turtelnden Synthesizer-Streicher, die später den Break in "Last Train to Trancentral" bilden. "Go in to Atlanta City an' be a winner / Go down to Atlanta City come back fat as a rat."

Ein letztes Mal knödelt uns Eddie Van Halens "Eruption"-Solo aus "Rock Radio Into The Nineties And Beyond" entgegen. In der Außenwelt der Charts faselt Guru Josh in "Infinity" zu nervigem Saxophongedudel etwas von "1990's time for The Guru" und könnte nicht weiter daneben liegen. Auch das The KLF-Intermezzo endet 1992 bei den BRIT Awards mit einer Grindcoreversion von "3 A.M. Eternal", Maschinengewehrsalven und den finalen Worten: "The KLF has now left the music business." Vorher schickten sie uns mit "Chill Out" jedoch "into the nineties and beyond".

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. Brownsville Turnaround On The Tex-Mex Border
  2. 2. Pulling Out Of Ricardo And The Dusk Is Falling Fast
  3. 3. Six Hours To Louisiana, Black Coffee Going Cold
  4. 4. Dream Time In Lake Jackson
  5. 5. Madrugada Eterna
  6. 6. Justified And Ancient Seems A Long Time Ago
  7. 7. Elvis On the Radio, Steel Guitar In My Soul
  8. 8. 3 A.M. Eternal Somewhere Out Of Beaumont
  9. 9. Wichita Lineman Was A Song I Once Heard
  10. 10. Trancentral Lost in My Mind
  11. 11. The Lights Of Baton Rouge Pass By
  12. 12. A Melody From A Past Life Keeps Pulling Me Back
  13. 13. Rock Radio Into The Nineties And Beyond
  14. 14. Alone Again With The Dawn Coming Up

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