laut.de-Kritik

Die dunkelste und hellste Stunde Seattles.

Review von

Vor meinem eigenen Tod ist mir nicht bang / nur vor dem Tode derer, die mir nah sind. / Wie soll ich leben, wenn sie nicht mehr da sind?

Allein im Nebel tast ich todentlang / und lass mich willig in das Dunkel treiben. / Das Gehen schmerzt nicht halb so wie das Bleiben.

Der weiß es wohl, dem Gleiches widerfuhr / und die es trugen, mögen mir vergeben / Bedenkt: Den eignen Tod, den stirbt man nur / doch mit dem Tod der anderen muss man leben.

(Mascha Kaléko)

Tod und Gedenken. Nichts stellt den Menschen vor größere Rätsel. Wie erweist man Respekt, wie begegnet man dem Schmerz, wenn ein Teil des Lebens plötzlich wegbricht. Ob kollektiv in breiter Öffentlichkeit oder nach innen gerichtet. Ob mit klaren Worten oder mit Gesten, die uns und alle zu Lebzeiten an das Vergangene erinnern sollen. Harter Tobak, aber auch Teil jeder Kunst.

Tears in Heaven, Candle in the Wind, Bro Hymn – hinter jeder noch so schmalen Ecke der Popgeschichte verstecken sich musikalische Grabsteine, mit denen Angehörige oder Freunde ihren Abschied in Musik verpackten. Stärker als das gesprochene oder geschriebene Wort lebt das gesungene Wort weiter. Im hier vorliegenden Fall in Form eines ganzen Albums, das zu den versteckten Schmuckstücken aus den 90er Seattle-Jahren zählt und ausgehend von einem Schicksalsschlag einen ganz neuen Phönix aus der Asche des Verlustes steigen ließ. Doch der Reihe nach.

Als die Ärzte am 19. März 1990 in einem bleichen Krankenzimmer im Harbor View Krankenhaus in Seattle die lebenserhaltenen Maßnahmen für Andrew Wood einstellten, war vorerst noch keine Rede von einem musikalischen Tribut an den Sänger von Mother Love Bone. Zu tief saß der Schock einer ganzen Stadt, die mit einem goldenen Schuss die zentrale Figur der aufblühenden Musikszene verloren hatte.

Andy stand mit Mother Love Bone in Major-Würden kurz vor dem Sprung zum großen Geld. Mother Love Bone hatte genug 70er-Rockvignetten am Hemd um als Guns N' Roses-Alternativ-Version durchzugehen, konnten sowohl die Hooks als auch einen überragenden Frontmann vorweisen. Er war das Aushängeschild der brüderlichen Seattle-Szene, ein charismatischer Charme-Bolzen, cherubisch in einem Mix aus Glam-Show und Hardrock, gemacht für große Bühnen und Menschenmassen. Sein Mitbewohner: Soundgarden-Kehle Chris Cornell, der in Wood einen kreativ-ebenbürtigen Sparringpartner sah, mit dem er den Deal einging, täglich einen neugeschriebenen Song dem Mitbewohner vorzuspielen. Andy tat das Gleiche.

Schnitt. Soundgarden kehren im März 1990 von einer kleinen Europatour zu einer alles zerschmetternden Nachricht heim: Andrew Wood – er hatte schon eine Reha absolviert – setzt sich eine Heroin-Überdosis. Drei Tage lang wird er am Leben erhalten, damit Familie und Freunde Abschied nehmen können. Say hello to heaven.

"Es war das Ende der Unschuld von Seattle. Viele Leute glauben, es war später, als Kurt Cobain sich erschossen hat. Nein, das war der Verlust der Unschuld", erinnert sich Chris Cornell über 20 Jahre später an diesen grauen Beginn 'seiner' 90er zurück.

Das Ende der Unschuld ist gleichzeitig der Startschuss für Temple Of The Dog, Kollektiv und Album zugleich, von vorn bis hinten geprägt von unglaublichen musikhistorisch Verkettungen, die bis heute nachwirken. Nach Trauerphase und einer weiteren Soundgarden-Tour schreibt Chris wieder Musik im Andenken an seinen verstorbenen Mitbewohner. Dabei öffnet seine enge Beziehung zu Wood ein ganz neues Kapitel in seinem Sound im Vergleich zur metallischen Schwere und Punchiness von Soundgarden. Ruhiger, melodischer. Melancholie, die nicht zwangsläufig mit zentnerschweren Gitarrenwalzen das Volk einbetoniert, sondern durch die gesangliche Diktion und die Atmosphäre Gänsehaut verbreitet. Anders gesagt: Cornell begann, Balladen zu schreiben. "Black Hole Sun" vier Jahre später? Kaum denkbar ohne Temple Of The Dog.

So wühlt er sich markdurchdringend emotional in die im Blues verhaftete Nummer "Say Hello 2 Heaven", einem von zwei Songs, die er als direkte Reaktion auf Andys Ableben schrieb. Lyrisch kann man dem direkten Grabsteingespräch nichts mehr hinzu fügen:

"I never wanted to write these words down for you /with the pages of phrases of all the things we'll never do /So I blow out the candle /and I put you to bed /Since you can't say to me now / how the dogs broke your bone / there's just one thing left to be said"

Bestrebt, für Wood das Werk als Gedächtnis-Single herauszugeben, schnappt er sich die zwei übrig gebliebenen Mitglieder von Mother Love Bone Jeff Ament (Bass) und Stone Gossard (Gitarre), die schon vor MLB in Green River mit Mark Arm musizierten, einer weiteren Seattle-Ikone mit Langlebigkeitsfaktor. Mit der Aussicht auf eine ungezwungene Bandsituation mit alten Freunden stimmten sie zu.

Das Duo begann ohnehin gerade, auch eigenständig langsam wieder zur Musik zurückzufinden. Mit Schulfreund und Gitarrenschredder Mike McCready stampften sie im Sommer 1990 ein Demotape aus dem Boden, das die Hände eines gewissen Eddie Vedder erreichte. Wie es der Zufall will, packt Vedder seine sieben Sachen gerade nach Seattle, als Cornell alle ins Studio lädt, um seine Songs auf Band festzuhalten. Hinter den Drums saß der Einfachheit halber Soundgarden-Schlagzeuger Matt Cameron. Der Record-Knopf war schnell gedrückt. Wer es nicht gemerkt hat: Da saß 1990 schon die aktuelle Pearl Jam-Besetzung gemeinsam in einem Raum, bevor es Pearl Jam überhaupt gab.

Ob die Beteiligten in diesem Raum wussten, dass in weniger als zwei Jahren die ganze Welt nach ihrer Pfeife tanzen und ihre Heimatstadt zum neuen Mainstream-Mekka einer ganzen Generation werden würde? Wohl kaum. Ihnen ging es erst einmal darum, Andy anständig Tribut zu zollen.

Den Namen Temple Of The Dog leihen sich die Jungs vom Mother Love Bone-Song "Man Of Golden Words", weiteres Material aus Woods Feder griffen sie aber aus Respekt nicht auf. Den Vorwurf der Leichenfledderei galt es stets zu entkräften. Zu groß die Hürde, zu tief der Schmerz, zu eigenständig das künstlerische Selbstverständnis. Neben "Say Hello 2 Heaven" behandelt auch das zehnminütige Epos "Reach Down" den Verlust Woods, kathartisch in Szene gesetzt mit einem ausufernden Highlight-Gitarrensolo von McCready, der sich wieder und wieder in neuen Höhepunkten verliert und mehrere Beruhigungsphasen braucht, nur um danach wieder mit wütendem Feedback-Geschrei dahinter hervor zu brechen. Ein Fels von einem Song und wahrscheinlich der gitarrenlastigste Grunge-Moment (richtig gehört, Kim Thayil), der klassische, abgedrehte Gitarrensoli auch in Seattle wieder cooler machte, was generell einer der größten Verdienste von McCready ist.

Und dann sammelten sich ohne Erwartungshaltungen oder Labelvorgaben weiter Lieder. Die Clique hatte sichtlich Freude am kreativen Prozess, also warum es nur bei zwei Tracks belassen? Stone Gossard stellte einige Ideen vor und Cornell hatte sogar einen ganzen Rucksack voll passendem Material am Start, das sich wiederum nur schwer in die damalige Soundgarden-Struktur eingefügt hätte.

Der Prominenteste davon: "Hunger Strike", eine schwebende Alternative-Hymne für die Ewigkeit. Instrumental für Cornells Hauptband zu gediegen, für ihn jedoch der perfekte Spielplatz um neue Horizonte mit seinen Vocals auszuloten. Und da Eddie Vedder gerade rumstand und die tiefen Töne besser hinbekam als der Soundgärtner, stellt "Hunger Strike" auch die erste Dokumentation von Vedders Stimme auf Band dar. Und bei der Crackpfeife von Courtney Love schwöre ich: dieses Duett ist wohl einer der schönsten Seattle-Momente überhaupt: "I'm going hungry / going hungry, yeah".

Ein rumorendes Gossard- und Ament-Riff mit Stolperfalle und etwas mehr Durchschlagskraft schüttelt in "Pushing Forward Back" die Glückseligkeit etwas durch. Mit "Times Of Trouble" und "Four Walled World" fügt Stone zwei weitere Nummern nahtlos in den Temple Of The Dog-Zyklus ein: Gitarren schneiden ineinander, die Drums knallen immer mit einem leichten Hüftschwung und Cornell zetert und faucht. Übrigens: Die Instrumentalversion von "Times Of Trouble" hatte Gossard wohl zu gern, um sie nur einmal zu verbraten: Wer Eddie Vedders Version davon hören möchte, der ergötze sich an Pearl Jams B-Seite "Footsteps".

Dem spirituellen Ausgangspunkt folgend, stechen vor allem die ruhigen Songs auf dem Album hervor und laufen den lauteren Gitarren den Rang ab. Cornells Vocals über einen 80er-Punch waren bekannt, eine reflektierte Darbietung über sensibles Gitarrenpicking jedoch nicht. Lektion und gleichermaßen Erfolgsrezept, das in Werken von Pearl Jam, Alice in Chains und Mad Season mehr als gegenwärtig ist.

So wiegt sich "Call Me A Dog" gemächlich in ruhige Balladengewässer, bevor Chris' sirenenhafter Gesang alle Wolken gen Himmel zu durchdringen scheint und ein Wohlfühl-Refrain den Bauch wärmt. Mit der stimmlichen Bandbreite zwischen Donner und Blitz gibt er diesen Songs die Kraft, für das Seelenheil anderer einspringen zu können.

"Say Hello 2 Heaven", "Hunger Strike", "Woodden Jesus", "Times Of Trouble", "All Night Thing", diese Kleinode sind von einer fast alarmierenden Authentizität und überlebensgroßen Kraft durchzdrungen, dass man nicht umhin kommt, sich in ihnen zu verlieren. Dabei kriegen sie dich allein durch die immer noch spürbare Verletzlichkeit, nehmen dich mit in alle fünf Trauerstufen, nur um dir am Ende das Gefühl zu geben: It's okay. Es wird schon wieder. Nicht heute und auch nicht in einer Woche. Aber solange diese Musik da ist, wird alles gut.

Ziemlich genau vier Jahre nach Andy Wood entlässt sich Kurt Cobain von dieser Welt. Wieder acht Jahre später tragen wir Layne Staley zu Grabe. Verdammte Schande. Wie damals werden wir auch in Zukunft Abschiedsmusik hören. Wir können nur hoffen, dass es sie schön ist wie "Temple Of The Dog".

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. Say Hello 2 Heaven
  2. 2. Reach Down
  3. 3. Hunger Strike
  4. 4. Pushin Forward Back
  5. 5. Call Me a Dog
  6. 6. Times of Trouble
  7. 7. Wooden Jesus
  8. 8. Your Saviour
  9. 9. Four Walled World
  10. 10. All Night Thing

Preisvergleich

Shop Titel Preis Porto Gesamt
Titel bei http://www.amazon.de kaufen Temple of the Dog – Temple of the Dog (Ltd.Edt.Vinyl) [Vinyl LP] €45,64 Frei €48,64

Videos

Video Video wird geladen ...

Weiterlesen

LAUT.DE-PORTRÄT Pearl Jam

Am Anfang steht ein tragischer Todesfall: Andrew Wood, Sänger der Band Mother Love Bone, der auch Stone Gossard (geboren am 20. Juli 1966) und Jeff Ament …

LAUT.DE-PORTRÄT Soundgarden

Die Geschichten über den sagenhaften Aufstieg einer Handvoll Rockbands aus Seattle zu Anfang der Neunziger Jahre wurden in etwa genauso ausgeschlachtet …

LAUT.DE-PORTRÄT Temple Of The Dog

Das Ende der Grunge-Ikonen Mother Love Bone, deren Sänger Andrew Wood im März 1990 an einer Überdosis Heroin stirbt, läutet den Beginn der Supergroup …

LAUT.DE-PORTRÄT Mother Love Bone

Seattle, 1987: Die Jugend der Stadt zeigt dem Rest der Welt den Grunge-Mittelfinger. Nur wenige musikbegeisterte Kids aus der "Emerald City" schlagen …

14 Kommentare mit 53 Antworten