Porträt

laut.de-Biographie

Raye

Wenn eine R'n'B-Künstlerin aus einer großen englischsprachigen Stadt in den 1990ern geboren ist, kann man inzwischen von gewissen Fakten stillschweigend ausgehen: Sie findet Lauryn Hill und Nina Simone großartig. Beide haben sie inspiriert. Trotz Streaming, Clips und TikTok bedeutet ihr das Format 'Album' sehr viel. Und sie verarbeitet autobiographische Inhalte in ihren Liedern.

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Auf Rachel Agata Keen, kurz Raye, trifft das alles zu. Doch anders als bei manch anderen ist bei ihr, dass sie all ihre Songs selbst und zudem für Kolleginnen schreibt. Geplant war letzteres nicht. Zur Welt gekommen am 24. Oktober 1997, schließt Raye bereits mit 16 einen Plattenvertrag mit Polydor/Universal für vier Alben ab. Sieben Jahre später sind nicht einmal für das erste dieser vier Alben konkrete Pläne in Sicht.

Raye fühlt sich immer wieder hingehalten und twittert: "Ich hatte Alben über Alben an Musik, die ich in Ordnern abgelegt habe, bis sie Staub fingen, mit Liedern, die ich jetzt an 'A'-Künstlerinnen weg gebe, weil ich immer noch auf eine Bestätigung warte, dass ich gut genug bin um ein Album raus zu bringen."

Der theoretische Longplayer hätte womöglich bestanden aus: "Dreamer", gesungen von Charli XCX, "After The Afterparty" (Charli XCX mit Lil Yachty), "Proud" (vertont von Rita Ora, mitgeschrieben von Raye), "Told You" (Little Mix), "A Good Night" (John Legend), "Sixteen" (Ellie Goulding), "Bigger" (Beyoncé auf dem "Lion King"-Soundtrack), "Let Them Know" (Mabel), "Follow The White Rabbit" und "Default" (Madison Beer), "x2" (Anne-Marie), "Swing" (Quavo mit Afrobeats-Star Davido) und "Capital Letters" (Hailee Steinfeld).

Neben der A-Riege sind auch Dance- und Pop-Newcomer mit Rayes Inhalten versorgt: Snakeships & MØ ("Don't Leave"), Shift K3y & Tinashe ("Love Line"), Tieks ("Say A Prayer", featuring Chaka Khan & Popcaan), Schauspielerin Sofia Carson mit Tiësto ("Fool's Gold"), die brasilianische Anitta ("Love You") und Louise ("Hands On The Sink"). Und das ist nur eine Auswahl aus den vielen Credits. Immer fungiert die Ideensprudlerin dabei als Teil eines Kreativ-Teams.

Viele Gesangswunder hingegen schreiben keine Zeile selbst. Raye nutzt dafür ihren bürgerlichen Namen: Als Fremdautorin heißt sie Rachel, als Singer/Songwriterin Raye. Außerdem spielt sie Keyboards und Klavier. Zu bieten hätte sie noch Grundkenntnisse an Cello, Querflöte und Akustikgitarre.

Ihre Eltern hatten sich in der Kirchengemeinde kennen gelernt. Beide musizieren. Papa ist ein Engländer, Mama hat Migrationshintergrund: Rachels Großeltern mütterlicherseits sind schweizerisch und ghanaisch. Im Magazin Nylon erzählt Raye, ihre Mutter habe beim englischen NHS, dem staatlichen Gesundheitswesen ihr Geld verdient, ihr Vater sei für Versicherungen tätig.

"Sie haben nicht unbedingt in Bereichen gearbeitet, die ihre Träume waren, aber sie haben hart gearbeitet. Beide kamen aus sehr einfachen Verhältnissen und haben ihren Kindern ein unglaubliches Leben ermöglicht." Ihre jüngste Schwester wird 2011 geboren. Sie wird später zu einer wichtigen Informationsquelle für sie in Bezug darauf, mit welchen Apps und welchen massenmedialen Frauen-Images die Generation nach den Millenials groß wird.

Rachel Agata wächst im Stadtteil Croydon im Süden Londons als 1940er-Jahre-Jazz-Liebhaberin auf - letzteres eine Parallele zu Celeste. Bis heute beginnt sie jeden Tag, den sie zuhause ist, mit Internetradio-Streams, die Jazz bringen. Mit sieben Jahren fängt sie an zu komponieren und wandelt Alltagsbegebenheiten in Stories um.

Als Jugendliche hört sie Ella Fitzgerald, Nat King Cole - und: Jill Scott. Dem Magazin The Line Of Best Fit erklärt sie das im Detail. Sie verrät da zugleich einiges über ihre Art, Dinge wahrzunehmen, ihre Kindheit, das Gefühl Popmusik als Englisch-Muttersprachlerin kennen zu lernen, und über ihren eigenen Anspruch als Autorin, der sich schon vor der Pubertät verfestigte.

"Ich entdeckte Jill Scott, als ich so zehn oder elf war. Mein Onkel José (...) brachte mich drauf und sagte 'du musst ihre Lieder hören und drauf achten, wie sie schreibt'. Als erstes hörte ich 'A Long Walk', (...) und zu der Zeit drehte sich die ganze Musik im Radio um 'Put your hands up', 'Dance on the floor', 'I feel in love, I'm in love', aber Jill Scott wählt hier 'Let's take a long walk around the park' im Refrain. Und ich war so: Warte, was? Das geht doch gegen alles, wovon ich dachte, dass es ein Lied ausmacht. So verliebte ich mich umgehend in 'Who Is Jill Scott? Words And Sounds Vol. 1'."

"Ich kenne jedes einzelne Wort, jedes Ad-Lib, jeden Beat aus jedem einzelnen Track des gesamten Albums, das ist unglaublich. Es ist roher, ungefilterter Stream of Consciousness, Songwriting aus dem Herzen. Es fühlt sich nicht gezwungen oder manipuliert an, sondern als spreche jemand zu dir über persönliche Gefühle, wie als wärst du ihre Freundin." Gleichzeitig schätzt sie die direkte Aussage des Songs "Gettin' In The Way", der besagt, Frauen müssten nicht immer aus politisch korrekter Nettigkeit den roten Teppich ausrollen, auch nicht gegenüber anderen Frauen.

Es gibt auch eine Indiepop-Phase bei Rachel in ihren Teenie-Jahren, da hört sie zum Beispiel Alt-J. Neben Future-Soul und Electro-R'n'B stehen Samba, Bossa Nova und afrikanische Trommel-Muster ihr nahe. "Denn ich wuchs damit auf, jedes Jahr zum Weltmusik-Festival WOMAD zu gehen", erzählt sie gegenüber The Line Of The Best Fit, wo sich die Eklektikerin sogar zu ABBA bekennt.

"Ich hab mich in meiner Jugend von denen distanziert. ABBA-Lieder kamen in der Schul-Disco, abgesehen von denen habe ich 'Mamma Mia' gesehen, mag aber Musicals nicht besonders, was manche Leute aufregen wird, aber ich mag allgemein keine Dinge, die übertrieben cheesy sind, und erst recht nicht diesen Gesangsstil. Ich schätzte ABBA nicht besonders, bis ich selbst meine Handschrift als Songschreiberin entwickelte - unter anderem durch harte Arbeit, aber auch durchs Reisen zu verschiedenen Orten. In Schweden verbrachte ich viel Zeit, verstand Symmetrie. Und was einen Pop-Song als großen Song auszeichnet. (...) ABBA saugen alle ihre Einflüsse weltweit auf und mischen sie in ihre Musik in komplizierten, komplexen und perfekten Gestaltungsformen hinein. (...) Björn und Benny (...) sind Genies."

2014 erscheint - noch 'indie' - die digitale EP "Welcome To The Winter" mit sieben Tracks. Darauf befindet sich "Hotbox", ihr Türöffner. Mit 15 raucht sie ungewollt passiv ihren ersten Joint, in einem öffentlichen Nightliner-Bus, und "Hotbox" heißt der Song darüber. "Fragt nicht, was ich da nachts machte! Eine große Gruppe von Uni-Studenten stieg zu, ließ einen Joint im Oberdeck kursieren. Mit 15 schockierte mich das ein wenig, gleichzeitig fand ich es lächerlich", erinnert sie sich im Wonderland Magazine. Die süßen Duftwolken vermitteln ihr in einem Gedankensprung, dass man passiv alles Mögliche 'inhaliere', auch im übertragenen Sinn, "ohne die Wahl zu haben (...) denn ich wurde Teil dieser 'Hotbox', die ein bisschen ausgeflippt war."

Da es ein Free Download-Track ist, posten viele englische Webseiten den Song. Auf einer Meta-Suchmaschine für Blogs stößt Olly Alexander auf "Hotbox". Ohne Rayes Wissen und ohne dass die beiden sich kennen, leitet er die Nummer an Polydor weiter. Es folgt der Kontrakt. Im Umgang mit Polydor lernt Raye, dass es für eine Major-Firma vorrangig um Tabellen und Statistiken gehe, "besonders für Frauen", wie sie der Männer-Zeitschrift GQ erläutert.

"Ich weiß nicht, ob es an veralteten Weltbildern liegt und daran festgeklammert wird, wie Frauen damals behandelt wurden. Männer dort scheinen immer noch entscheiden zu wollen, was das Beste für eine Frau ist und haben dieses Bild vor Augen, wie sich eine Frau verhalten und präsentieren soll: 'Du brauchst mehr Fans, du musst dies und jenes machen, so ist es einfach nicht genug.' Du fühlst dich einfach irgendwann nur noch schlecht und bist konstant von dir selbst enttäuscht."

"Eine der härtesten Erkenntnisse, die man macht, wenn man einer großen Firma beitritt, ist, dass man nicht mehr als ein Produkt ist. Die Firma investiert in dich, und du bist nur da, um Verkäufe anzukurbeln. (...) Und Zahlen sind wirklich nicht der Grund, warum Menschen gerne Musik hören (...)."

Raye spielt erst mal mit. Ein paar Jahre lang. Jonas Blue erklimmen mit Raye Platz 45 in Deutschland und ähnliche Positionen in zehn anderen Rankings, 2016/17. Überschneidend mit der Burn-Hot-Phase dieses ersten Hits flutscht Jax Jones featuring Raye mit "You Don't Know Me" als erster Top Ten-Hit hinterher.

Die Gefeaturete arbeitet wiederholt mit David Guetta, woraus in Belgien und Schweden das Lied "Stay (Don't Go Away)" chartet, 2019, später wird auch noch "Bed" ein Volltreffer. Die anderen Stücke, die sie mit oder für Guetta schreibt, zünden weniger. Noch ein weiterer Hit für sie mit Jax Jones nebst Martin Solveig wird "Tequila" (2020).

Sie taucht also ganz tief in die Dancefloor-Szene ein. Auch in den Afrobeats und Artverwandtem ist Raye unterwegs und mischt zum Beispiel bei Major Lazer und deren ghanaischem Freund Mr Eazi mit, werkelt mit Rudimental und textet für etliche andere.

Ein Longplayer verschiebt sich jedoch in die Unendlichkeit. Eine EP fällt am 20. November '20 der europaweiten Tristesse, nicht so wirklich Weihnachten feiern zu können, zum Opfer - obwohl das digitale Mini-Album unter dem Titel "Euphoric Sad Songs" ohnehin die Traurigkeit zum Thema hat. Beworben wird es jedoch nicht.

Als dann ein Recycling des Steve Winwood-Klassikers "Valerie" als "Call On Me" zum Hitlist-Selbstläufer mutieren soll, kann man das Echo der Newcomerin nachvollziehen: Mitte 2021 zieht sie via Twitter in den öffentlichen Konflikt mit der Plattenfirma. Hart geht sie mit den betriebswirtschaftlichen Vorgängen ins Gericht.

"Ich hab alles getan, was sie von mir wollten, sieben Tage die Woche gearbeitet, Genres geswitcht, jeden im Music Game gefragt, den die kennen. Ich bin damit durch, ein höflicher Pop-Star zu sein", bekennt Raye entwaffnend. "Ich möchte mein Album jetzt machen, bitte, das ist alles, was ich will."

"Jetzt bekomme ich gesagt, wenn Call On Me gut läuft, dann kann ich mein Album machen, aber andernfalls kann's kein grünes Licht dafür geben...", hadert sie. "Stellt euch den DRUCK vor, den ich jeden Tag schon beim Aufwachen habe, hektisch auf Zahlen und Statistiken zu gucken, in der Hoffnung, dass ich MEIN VERDAMMTES ERSTES ALBUM einfach machen kann. Es wird unterstellt, dass ich im Promo-Modus für Call On Me bin, aber ich habe einfach nicht die Stärke, das genau jetzt zu promoten." Die wutgetränkte Kapitälchen-Schrift unterstreicht, wie wenig die Marketing-Abteilungsleiter ihre potenzielle Cash Cow noch unter Kontrolle haben. Ein Pressesprecher des Unternehmens teilt mit, Rayes Tweets würden ihn "traurig" machen.

"Call On Me" wird ein Platz 11 in den britischen iTunes-Charts, eine 64 in den allgemeinen UK-Charts und ein kurzlebiger Sommerhit, der auch bei uns durchs Radio rotiert, aber definitiv nicht durch die Decke geht. Folgen: Polydor gibt Raye kein grünes Licht für die baldige LP und sie dem Konzern ein rotes, diese jemals gemeinsam zu machen. "Leider verfolgen wir verschiedene künstlerische Ziele", tippt sie auf Instagram, "und ich bin Polydor sehr dankbar dafür, dass sie mir einen würdevollen, smoothen Ausstieg gewähren."

Weg ist sie, und soll mit ihrem Kurs Recht behalten. "Escapism" mit 070 Shake wird unmittelbar danach ihr bis dato größter Hit und ein Rang drei in Deutschland. Im Gespräch mit GQ zeigt sie sich überrascht: "Ich hatte mich schon darauf eingestellt, keine wirklichen Wellen zu schlagen und nur sehr geringe Streaming-Zahlen zu generieren. Ich wollte mich auch nicht unbedingt nach dem Mainstream richten.", überlegt sie.

"Am Ende ist es so hilfreich, sich einfach auf das zu konzentrieren, was man beeinflussen kann und sich nicht damit aufzuhalten, was man nicht beeinflussen kann. (...) Man kann nicht beeinflussen, wie ein Song ankommt, aber man kann kontrollieren, was für Musik man veröffentlicht (...) – naja zumindest (...) als unabhängige Künstlerin", resümiert die zu dieser Zeit 24-Jährige.

Für ein Debüt im Segment Urban/R'n'B erscheint sie damit wirklich älter als der Schnitt. Dafür hört sich "My 21st Century Blues" (2023) wie ein sehr gut gereiftes Werk an. Intensiv wirken die Orchester-Versionen derselben Songs im Album "My 21st Century Symphony Live At The Royal Albert Hall" (Ende 2023). Rap-Zeilen und Elektronik-Passagen fügen sich mit der nah in den Vordergrund gemischten kämpferischen Stimme der Künstlerin unter Mitwirkung von Hans Zimmer zu einem spannenden Klassik-Pop-Opus. Zwischen Rayes eigenes Material mischt sich der Blues-Klassiker "The Thrill Is Gone", und den Hit "Escapism" dehnt die Britin samt Streicherensemble auf sieben Minuten aus.

Bezeichnender Weise bekommt Raye vom größten englischen Musikpreis, den Brit Awards, für ihren Alleingang als Selfmade-Artist Recht. Im März 2024 gehen die Auszeichnungen für die Songwriterin des Jahres, das Album und das Lied des Jahres, den besten R'n'B-, besten 'neuen' und besten allgemeinen Artist an die 26-Jährige. Damit zieht sie an einem Abend mit David Bowie (insgesamt sechs Brit Awards.) gleich und an George Michael (drei) weit vorbei.

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