laut.de-Kritik

Tanzbare Therapiestunde mit tollem Timbre und Treue zu sich selbst.

Review von

Menschen fühlen sich geschmeichelt, wenn man nach einem ersten Treffen ihre Augenfarbe nennen kann und sie sich gemerkt hat. Im Falle von Rayes Dance-Track "Black Mascara" dürften Eyeliner und Wimperntusche zwischen herab tropfenden Tränen verschmieren, wenn die Anti-Heldin des Lieds mutmaßt, was ein früherer Kontakt ihr angetan habe.

"Wenn du einmal meinen glänzenden Eyeliner gesehen hast, wie er sich unter meinen Augen mit meiner schwarzen Designer-Handtasche vermischt / oh, würdest du dann verstehen, was du mir angetan hast? (...) Du hast dein Bett gemacht / deine Lügen gelogen / und meine Seele abgefuckt / versuche zu verstehen / was du / was du mir angetan hast." Man ahnt schon, da muss irgendwas tiefer Gehendes vorgefallen sein. "My 21st Century Blues" steckt zwar voller praller Tanzbarkeit, täuscht aber nicht darüber hinweg, dass die Londonerin ihr Debüt in bluesig-melancholische Stimmung tunkt.

Wunderschön anmutig lässt sich die Jazz-durchspülte Live-"Introduction" mit männlichem Host an. Das "warm welcome" für Künstlerin Raye wirkt nicht frei von Ironie, wollte ihr Ex-Label Polydor sie doch vorwiegend als Feature-Gast für andere. Sie jedoch steckt seit ihrer Kindheit voller Geschichten, sie braucht die große Bühne. Wer ihr lauscht, soll vorher den Handy-Bildschirm sperren und es sich bequem machen: "Please get nice and comfortable / and lock your phones / because the story is about to begin." Der Vorhang öffnet sich für einen heart-crying-out-Tune, "Oscar Winning Tears". Adele bekommt hier gesanglich vorgeführt, was eine R'n'B-Harke ist, wie man sich voller Inbrunst auskotzt und dabei soulful klingt.

Es geht um einen Typen, der die große Show abgezogen und für jede narzisstische Regung den eingeforderten Applaus erhalten, jedoch viel intimes Vertrauen missbraucht hat. Seine Tränen weint er Oscar-reif, das kann er. Aber: "Schau, wie du mit mir redest / fluchend, schmähend, lästernd / Regie, haltet das bitte auf Kamera fest / Oder keiner hier wird's glauben. (...) Neun Uhr-Abend-Unterhaltung / Oh, ich würde das so gern auf Band haben."

Wer die junge Rachel Agata Keen neben David Guetta oder anderen schon als Dance-Act eingestuft hat, kann auf dieser Fährte schon ein wenig weiter tanzen, bekommt durchaus wieder Dance-Elemente in manchen Tracks. Aber in ihrer Machart schreiben sie den ersten Eindruck von dieser überreifen Newcomerin kaum fort. Dazu ist diese Art Dancefloor wie in "Hard Out Here" zu alternativ. Denn sie enthält Brüche zwischen den Lied-Elementen, Stimm-Verfremdungs- und Slow-Mo-Effekte der selteneren Sorte, eine gehörige Portion R'n'B, durchaus in der Tradition der frühen Janet Jackson, und selbst die Andeutung von Trance in "Black Mascara" entspricht so gar nicht dem aktuellen Charts-Mainstream. Hinzu kommt, dass das Arbeitsprinzip nicht das übliche ist, dass irgendwer Fremdes einer Charts-Sängerin einen Text vorgelegt hätte.

Sie schreibt selbst und sieht etwa in "Black Mascara" "eine Art Medizin", einen "Heilungsprozess" und "eine Art akustisches Tagebuch", wie sie in der GQ verrät. Ein Vertrauensbruch durch einen egoistischen Mann, der vieles kaputt gemacht habe, habe "einen Platz gebraucht, um die Emotionen irgendwo rein zu stecken", identifiziert sie im Video-Talk mit Deezer die Antriebskraft hinter dem Track. Sie habe ihren Producern einige Akkorde vorgespielt. Sie sei anders als sonst drauf gewesen, wenig kommunikativ, eher niedergeschlagen und in sich gekehrt. Sei dann in der Aufnahmekabine verschwunden. Und nach gefühlten 500 Vocal-Versionen des Liedes habe sie die Beatmaker damit alleine gelassen und sich angesichts der schmerzvollen, darin verarbeiteten Story das Ergebnis monatelang nicht angehört.

Dem sphärischen Einstieg mit Nahezu-Acapella folgen weiche, bassbetonte Beats mit viel Hall. Während klar wird, wie mies der Kerl war, halten die Beats inne. Raye wiederholt die Schlüsselzeile "what you've done to me". Später nimmt uns die Nummer tief in den Techno-Club mit. Genau wenn einen der so richtig umnebelt, durchsäbelt eine kleine Hip Hop-Bridge das Beat-Brett. Danach tritt der Track spiegelverkehrt die Reise rückwärts durch diese Song-Bestandteile an. Das Outro ist dann wieder so neblig wie der Auftakt. Hier passiert also viel: ein stark verdichteter Track von der gesteigerten Informationsdichte eines TikTok-Clips.

Dahinter steckt auch viel. Wie Raye gegenüber der BBC angab, hatte ihr der Übeltäter Drogen in einen Drink gemischt, um sie sich sexuell gefügig zu machen und wurde übergriffig. Ein Fall von 'date rape drugs'. Sie hatte den Typen völlig falsch eingeschätzt.

"Escape ft. 070 Shake" über verschiedene Formen des Eskapismus, also vorsätzlichen Vergessens und Ausbrechens aus allen Alltags-Verpflichtungen - diese Wundertüte aus R'n'B, Dance, Rap und Pop muss man zwar nicht mehr groß kommentieren. Das deutsche Publikum hat dem Track Rang 3 in den Charts beschert. "Escape ft. 070 Shake" handelt von Kokain, Gelegenheits-Sex und weiteren Formen, um das 'wahre' Leben durch schnelle Kicks im Belohnungszentrum des Gehirns zu übertünchen und schließlich auszublenden. Im Temporausch rast man besoffen durch den Straßenverkehr, "sipping / mixing pills with the liquor / cus fuck these feelings".

"Trauriger Weise, war der Substanz-Missbrauch für mich darin verstrickt, mein erlittenes Trauma zu betäuben. Ich rutschte ziemlich tief rein, und es wurde echt gefährlich an einem Punkt", bekennt sich Raye im Gespräch mit der BBC zu ihrer Sucht.

Auf den Drogen-Track brachte sie also ein sexueller Übergriff, und dann brauchte sie Drogen, um diese Verletzung zu verarbeiten, Marihuana ("Mary Jane") inklusive. Wäre die Story nicht echt, so wäre sie ein klasse gestalteter Plot. "Mary Jane" könnte in dieser Kombi aus krass präsenter Stimme, Gospel-Folk-Kammermusik mit slightem Offbeat und scharfkantigen Electro-Schlägen auch von Estelle stammen, ist jedenfalls musikalisch wieder anders als der Rest. "The Thrill Is Gone" sei allen empfohlen, die Corinne Bailey Rae vermissen. Raye statt Rae. Ein weiterer Tune in diesem Fahrwasser, aber ausgelassen und nah an Doo-Wop ist "Worth It", mein erster Anwärter auf meine Lieblings-Tunes 2023. Ein Tipp für Bruno Mars-, Eliza Doolittle- und Kelis-Fans.

Das weitaus elektronischere "Ice Cream Man" handelt dann im Detail vom Eiscréme-Mann: wieder dem, der in den Drinks rum pfuscht, mit seinen eiskalten Händen, mit denen er die K.O.-manipulierte Frau befummelt. Sie hält sich zwar für "fucking tapfer, ziemlich stark". Triggerwarnung vorm Weiterlesen - im Folgenden geht es so sehr unter die Haut, dass ich tatsächlich Schwierigkeiten hatte, diese Rezension fertig zu stellen:

"Verdammt, alles was du hinterlassen hast, ist kaputt. Und ich habe kein Wort gesagt. / Schätze, das beweist, dass ich eine Frau bin, ach ja. / Ich wünsche mir, ich könnte jetzt sagen, wie ich mich fühle / und wie ich mich gefühlt habe und erklären, warum ich mich schweigend selbst beschuldige / denn ich setze diese Mimik auf, die vortäuscht, es ginge mir gut. / Dann geh ich ins Badezimmer und drücke ZURÜCKSPULEN in meinem Kopf / immer schießt es mir von allen Seiten durch den Kopf / deine Fingerabdrücke besudeln meine Haut, du hast dafür gesorgt, dass ich mit deinen Sünden klar kommen muss / du erbärmlicher, trauriger Totalausfall von einem Mann."

Die zweite Hälfte der LP ist genauso gehaltvoll, ob es um Oversize-Kleidung zum Vertuschen von Magersucht und Selbstbetrug mit Cannabis zum Ersticken des Hungergefühls geht ("Body Dysmorphia"). Oder ob geschmackvoll und sanft eingefügte Elemente aus Dancehall, Drum'n'Bass, Hip Hop und Afrobeats das Ruder übernehmen. Ob Boris Johnson sein Fett weg kriegt oder die Manipulation von Rayes Generation durch Mark Zuckerberg.

Der Platz reicht nicht aus, um diese CD angemessen zu loben, daher exemplarisch noch je ein Musik- und Text-Highlight. In der Musik: der Bass-Wabbelsound im unglaublich genial groovenden Duett "Five Star Hotels ft. Mahalia", genauer gesagt 'featuring die wundervolle, unterschätzte Mahalia'. Und im Text: "Classist sexist racist ableist fascist ageist homophobic country leaders fucked our futures / And they think we haven't noticed / Forests burning, oil spills, melting ice and methane gas, toxic waste and plastic fish, we're digging holes to hide our trash." - Und über allem schwebt diese Stimme, dieses Timbre, weit näher an Amber Mark, als an Lorde, mit der man sie anfangs mal verglich.

Wenn euch jetzt das Leben von Raye interessiert und ihr im Porträt weiter lest, werdet ihr feststellen, dass die Künstlerin lange hingehalten wurde und dieses Album nie heraus gekommen wäre, wenn sie nicht die Reißleine gezogen und alles umgekrempelt hätte. "An alle weißen Geschäftsführer: Fuck! auf eure Privilegien. / Nehmt eure pinken, schwabbeligen Hände aus meinem Mund / Ich habe meinem Rechtsanwalt gesagt, halt dich bereit", so ätzt sie in "Hard Out Here". Die Nummer ging raus an die Leute bei Polydor Records in London, und die hohen Herren fühlten sich gleich angesprochen und störten sich an den Worten. Das war ein Mosaikstein in einem langen Konflikt. Es wäre spannend zu wissen, wie viele Newcomer-Talente im Schlund von Plattenfirmen versauern, indem man Meisterwerke jahrelang unter Verschluss hält.

Trackliste

  1. 1. Introduction
  2. 2. Oscar Winning Tears
  3. 3. Hard Out Here
  4. 4. Black Mascara
  5. 5. Escapism ft. 070 Shake
  6. 6. Mary Jane
  7. 7. The Thrill Is Gone
  8. 8. Ice Cream Man
  9. 9. Flip A Switch
  10. 10. Body Dysmorphia
  11. 11. Environmental Anxiety
  12. 12. Five Star Hotels ft. Mahalia
  13. 13. Worth It
  14. 14. Buss It Down

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