laut.de-Kritik

Kammermusik-Avantgarde für die Horizonterweiterung.

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Unter ihren vielen Funktionen dient Musik dem Tanz, der Rebellion gegen etwas, der Berieselung, dem Selbstausdruck, dem religiösen Ritual, der subkulturellen Abgrenzung, dem Erzählen von Geschichten, dem Erleichtern stupider oder mühseliger Arbeit durch Mitsummen und Ablenkung. Vor allem in lateinamerikanischen Ländern spielt Musik oft eine tragende Rolle im Zelebrieren von Gemeinschaft, im Dub und Cloudrap beim Kiffen. Bei Singvögeln nützt Musik der Balz, und besonders in Film-Soundtracks dem Aufbauen von Spannung und Erzeugen von Stimmungen. Über so etwas Grundsätzliches denkt man normalerweise kaum nach, außer man hört eine Platte wie "Deep Sea Vents". Dann fällt auf: Eine Funktion von Musik, die man eher selten ins Visier nimmt, ist die Horizonterweiterung - also z.B., dass das Publikum beim Hören spürt, wie die eigene Fantasie wächst oder dass die Musiker:innen selbst diese Erfahrung machen.

Diese Funktion steht im Mittelpunkt beim Zusammenschluss brhym, mit der Stimme Bruce Hornsbys. Den Horizont zu erweitern heißt, zu spüren, wie weit Musizieren gehen kann, ohne wie strukturloser Lärm zu wirken. Die Zeit von Zappa, Captain Beefheart, Talking Heads oder Ornette Coleman mag vorbei sein, doch auch in den 2020ern wollen immer wieder mal Artists wissen, wie schön Seltsamkeit wirken kann oder wie spannend das Schräge ist. Neben David Sylvian, Pere Ubu, Corinne Bailey Rae oder Hudson Mohawke zählen Hornsby und die Gruppe yMusic zu den aktiven open-minded Grenzverschiebern. Zusammen formen Hornsby und yMusic das Kollektiv brhym.

Hornsby ist der Autor von "The Way It Is", End Of The Innocence" und "Mandolin Rain", Rockballaden der späten 1980er. Der studierte Komponist aus dem US-Osten tourte damals mit seiner Band The Range, erwarb sich einen großen Namen im Bereich der handgemachten Musik. Inzwischen, während er ins Rentenalter kommt, nutzt er Elektronik-Spielerei, Samples aus Library-Tonmaterial, wie er uns vor zwei Jahren bei einem virtuellen Zoom-Meeting in seinem Studio erzählte. So flicht er Techniken wie den Talkbox-Filter ein, in Anlehnung an Psychedelic-Art-Pop-Experimente der späten 1960er.

Außer dass er es liebt, Knöpfchen zu drücken und dabei auf Sounds der Dulcimer-Zither oder der Electric-Sitar zu stoßen, spielt Hornsby Klavier und Keyboards. Auf eine so individuelle Art, dass man sie leicht heraus hört: Die Synkopen-Riffs, sein Markenzeichen, wie es sich ganz markant wieder durch die Tracks "Deep Blue" und "Wild Whaling Life" zieht. Gerade "Deep Blue" erfährt dadurch im Outro des Stücks einen angefunkt tänzelnden Vibe. Die coolen Loops erinnern an ein anderes Projekt des beteiligten Trompeters CJ Camerieri, Heavy MakeUp, tätig auch in Paul Simons Band.

Auch die anderen Mitglieder von yMusic - gesprochen Why Music? - engagieren sich hauptsächlich in einer Vielzahl weiterer Ensembles und Arbeitsumfelder. Der Geiger und Gitarrist Rob Moose gründete die Gruppe 2008. Neben seiner Arbeit mit Größen wie Taylor Swift und Phoebe Bridgers ist er Teil der Indie-Rock-Szene als Mitglied von Bon Iver.

Normalerweise sind mir Geigen ein Gräuel. Wenn Rob seine Violine gegenläufig zu Hornsbys Gesang in "Barber Booty" einsetzt und kakophonischen Freejazz anstimmt, überzeugt er mich.

Nadia Sirota an der Bratsche lebt von Tätigkeiten als Musikdozentin, Dirigentin und Podcast-Producerin. Ihre Viola lässt sie wie eine Säge durch "Platypus Wow" ratschen. By the way, was für ein Songtitel! In floatender Gesangs-Sprech-Mischung befreit sich Hornsby von Taktmaßen. Stilistisch trifft Vocaljazz auf Folk.

In "(My) Theory Of Everything" reizen die flirrenden Höhentöne und Gequieke die Neugier eines Art Pop-/Avantgarde-Publikums gewiss mehr aus, als dass sie Formenschönheit gewohnte Mainstream-Jazz-Fans erreichen wollen würden.

Zudem verprellt Bruce Hornsby die Gefolgschaft, die er sich mit Singer/Songwriter-Platten früher aufgebaut hat, schon länger. Das weiß er. "Okay, ich würde sagen, wenn euch das nicht gefällt, was ich gerade mache, klar weiß ich, dass es abenteuerlicher ist als Früheres", sagt uns Bruce 2021. Bereits in der Trilogie "Absolute Zero" - "Non-Secure Connection" - Flicted" kooperierte er mit yMusic.

Tracks, die mit ihnen oder inspiriert durch die Begegnungen entstanden, nennt er im Gespräch mit uns die "dissonantesten Tracks", die er je komponiert habe. In "Platypus Wow" verleihen gerade die Dissonanzen dem Ganzen einen witzigen Anstrich. In Richtung Avant-Pop zielt auch eine Strömung innerhalb von "Phase Change", während eine Gegenströmung zum Folk-Liederabend im Forsthaus am Kamin fließt und dadurch den The Range-Bruce aufblitzen lässt.

Akkordfolgen aus einem Country-Blues-Americana-Kontext prägen die pulsierende Ballade "Foreign Sounds" im Stile Joshua Kadisons, das eingängigste Stück auf "Deep Sea Vents". Von der jazzigen Seite kommt der Track "Deep Blue" und macht ausgeprägt Spaß. Sobald man sich eine Zeitlang 'eingehört' hat, entwickelt sich das Stück zum besten postmodernen Ragtime-, Dixieland- und Vaudeville-Tune, den man sich vorstellen kann.

Wichtig für die Machart aller Tracks ist, dass sie mit Gestaltungsmitteln der Kammermusik arrangiert sind, eine hohe Dynamik im Wechselspiel der Instrumente aufweisen, durchaus etwas Unruhiges, gleichzeitig aber etwas 'Naturbelassenes' und einen Impro-Charakter an sich haben. Zu den Arrangements zählen ein Cello - gespielt vom hauptberuflichen Orchestermusiker Gabriel Cabezas - und Blechbläser. Anders als sonst im Fusion-Jazzrock üblich, spielen keine Saxophone oder Posaunen auf, sondern Querflöte (Alexandra Sopp) und Klarinette (Mark Dover, Hideaki Aomori). Hornsbys vielseitig kompatible Stimme und ein überall bemerkbarer Schuss Neo-Klassik tackern alles zusammen.

Das Tolle an solchen Platten wie "Deep Sea Vents" ist: Sie kratzen an der Engstirnigkeit in unserer Zivilisation. Sie machen Mut, Denkverbote zu verletzen, Tabus zu brechen, eingeschliffene Gewohnheiten aufzuweichen, Selbstverständliches zu hinterfragen. Sie regen die Fähigkeit unseres Gehirns zur Kombinatorik an. Brhym hören ist wie Schach spielen. Man stößt immer wieder auf elegante Züge, die schön aussehen inmitten aller Abstraktion.

Trackliste

  1. 1. Wild Whaling Life
  2. 2. (My) Theory Of Everything
  3. 3. Platypus Wow
  4. 4. Phase Change
  5. 5. Foreign Sounds
  6. 6. The Wake Of St Brendan
  7. 7. Deep Blue
  8. 8. The Baited Line
  9. 9. Barber Booty
  10. 10. Deep Sea Vents

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