"Wenn Reggae Afrika in der Neuen Welt darstellt, dann handelt es sich bei Dub um Afrika auf dem Mond." (Luke Ehrlich in "X-Ray Music: The Volatile History of Dub")

Dub, gekeimt in verschiedenen kleinen Aufnahmestudios Kingstons, beginnt seinen Siegeszug um die Welt und quer durch sämtliche Genres, die ansatzweise in der Schublade "Dance Music" verstaubar sind, in den ausgehenden 50er und frühen 60er Jahren. Die Urheberschaft einer einzigen Person zuzuschreiben, fällt schwer: Gleich mehrere Produzenten verfallen im Zuge der Wirtschaftlichkeit auf ein ähnliches Recycling-Verfahren, das anfangs nur auf Dub(!)plates, später (und bis heute) häufig auf den B-Seiten von Singles anzutreffen ist.

"Man konnte die Rückseite schließlich nicht ungenutzt lassen", erinnert sich Dub-Pionier Scientist im Interview. "Und hätte man einen zweiten Tune auf die B-Seite gepackt, man hätte zwei Songs zum Preis von einem verkauft." Die Idee, dem eigentlichen Track eine Instrumental-Fassung mit auf den Weg zu geben, schlägt mehrere Fliegen mit einer Klappe: Zum Einen bietet man so den Deejays mobiler Soundsystems, damals wie heute der unmittelbarste Weg, Musik aus dem Studio unters Volk zu bringen, die Möglichkeit, über diese Version ihre eigenen Lyrics zu toasten. Zum Anderen gestattet ein Instrumental, aus dem Resultat einer einzigen Studio-Session nahezu unbegrenzt viele Varianten herzustellen.

Diesen liegt jedoch meist ein ähnliches Rezept zugrunde: Man nehme einen beliebigen Reggae-Tune, entferne die Gesangsspur und jeglichen anderen überflüssigen Schnickschnack und konzentriere sich ganz auf die Drums und - mit besonderem Augenmerk - auf den Bass. Einzelne Instrumente, Vocals oder ausgewählte Passagen des Originalsongs werden nun einzeln ein- und wieder ausgeblendet. Garniert mit Echos, Hall, Delay, Phasing und anderen Effekten, Geräuschen und Verfremdungen entstehen basszentrierte Klanglandschaften, die, immer vorausgesetzt, es ist ein Spitzenkoch am Werk, ganz ohne Hilfe halluzinogener Substanzen eine nahezu bewusstseinserweiternde Wirkung entfalten.

Von einem Moment auf den anderen eröffnet sich dem Tontechniker die Möglichkeit, seine eigene kreative Seite auszuleben. Bevor das Mischpult zum Instrument avancierte, war dies den Vokalisten und Musikern vorbehalten. Die Entwicklung des Dub ist eng mit dem Fortschritt der Studiotechnik verknüpft - und umgekehrt. Nicht umsonst finden sich unter den Wegbereitern des jungen Genres zahlreiche Studiotechniker, die sich in der Lage sehen, das Equipment ihren musikalischen Bedürfnissen anzupassen.

Anfangs gestaltet sich Dubbing noch als äußerst mühsames Geschäft. Erst die Entwicklung der Mehrspurtechnik erleichtert in den 70er Jahren das Handwerk deutlich. Kaum dass sich die Instrumente auf mehrere Tonspuren verteilen, loten Dub-Musiker bereits die Möglichkeiten aus. Ihre Produktionen gelangen über die mobilen Soundsystems und in den Dancehalls zu Ohren des tanzwütigen Volks. Das Dub-Fieber breitet sich rasant aus. Drum-Computer und modernere Effektgeräte erweitern mit den Jahren das Spektrum und ermöglichen die Spielart Digital Dub. Produzenten gestalten ihre Dubs im Studio, aber auch live unter Zuhilfenahme vorproduzierter Platten oder "richtiger" Musiker.

Von der B-Seite zur Album-Länge dauert es nicht allzu lange. Meist handelt es sich dabei um Versionen von Vocal-LPs, in einigen Fällen werden aber auch Dubs kompiliert, zu denen es erst gar keine Vorlage gab. Eine Vorreiterrolle nehmen in diesem Zusammenhang Lee 'Scratch' Perry, Herman Chin, Errol Thompson und Linton Kwesi Johnson ein: Sie erkennen das wirtschaftliche Potenzial, das im Dub schlummert, und produzieren die ersten reinen Dub-Alben. Lee Perry legt im Frühjahr 1973 mit "Blackboard Jungle Dub" ordentlich vor. Seit Mitte der 70er sitzt auch das Produzenten-Duo Sly & Robbie fest im Dub-Sattel.

Zum King of Dub soll sich jedoch ein anderer aufschwingen: Osbourne Reddock, besser bekannt als King Tubby, setzt sich 1975 mit "King Tubby Meets The Upsetter At The Grass Roots Of Dub" und "Surrounded By The Dreads At The National Arena" an die Spitze des Feldes. Anfangs noch als Radio-Techniker tätig, wird er später mit der Herstellung von Instrumental-Versionen von aktuellen Rocksteady-Nummern betraut. Sein Soundsystem Hi-Fi Home Town, mit dem U-Roy als Resident-DJ unterwegs ist, schwingt sich nebenbei bald zu einem der angesehensten auf der ganzen Insel auf.

King Tubby leistet auf Dub-Gebiet Pionierarbeit. Glasklarer, atmosphärischer Sound, reichlich Hall (insbesondere auf Snare und Bass Drum) sowie eine beeindruckende Weite kennzeichnen seine Produktionen. Er entfernt Teile aus bestehenden Songs, fügt andere hinzu und gestattet so freie Sicht auf Passagen, die sonst nicht ohne Weiteres zugänglich sind.

Viele sehen in King Tubby den Ahnherren des Remix. Er treibt die Entwicklung des Produzenten vom schnöden Techniker zum Künstler entscheidend voran. Er gilt als der erste, der Vocals seines Toasters U-Roy über einem bereits populären Riddim aufnimmt und legt so quasi den Grundstein für das später exzessiv betriebene Versioning. In den 80er Jahren konzentriert sich King Tubby auf die Betreuung seiner diversen Labels, wo unter anderem Sugar Minott ein Zuhause findet.

Inzwischen hat die Dub-Welle Europa und insbesondere Großbritannien erreicht. Hier schwingen sich Mad Professor, der unvergleichliche Jah Shaka und Adrian Sherwood mitsamt seinem Label On-U Sound zu den führenden Figuren der Szene auf. UB 40 platzieren mit "UB 40 Present Arms In Dub" das erste Dub-Album in den britischen Top 40. Dub greift auf andere Musikrichtungen über, wabert durch Tracks von The Clash oder The Police, schallt gleichermaßen durch Europa, die USA und Japan.

Als King Tubby 1989 bei einem Raubüberfall vor seinem Haus erschossen wird, hinterlässt er der Welt nicht nur seine Arbeit, sondern auch mindestens zwei Talente, die in seine riesigen Fußstapfen zu treten bereit sind: King Jammy und besonders Overton "Hopeton" Brown, besser bekannt unter seinem Alias Scientist, prägen die nächste Generation von Dub-Produzenten.

Wie Tubby beginnt auch Scientist als Techniker. Mit 17 Jahren gilt er bereits als einer der gefragtesten Toningenieure Jamaikas, der unter der strengen Hand seines Mentors regelrecht aufblüht: "Wenn ich eine Platte abgemischt hatte, brachte ich sie ihm und fragte: 'Tubby, wie gefällt dir der Sound?' Meistens sagte er etwas wie 'Nicht besonders', aber das tat er nur, um uns immer weiter anzuspornen. Jahre später gab er erst zu: 'Eine Menge von dem, das du da gemacht hast, war gut, aber ich hatte Angst, dass es dir zu Kopf steigen würde, wenn du wüsstest, wie gut du bist.' Er war ein echtes Genie."

In den 90er Jahren breitet Dub seine Tentakel in die unterschiedlichsten Bereiche aus. Dub beeinflusst Jungle, Drum'n'Bass, Techno, House, Ambient Trip Hop und Hip Hop und liefert die Grundlage für Strömungen wie Dubstep und Dubtronica. Bill Laswell, Massive Attack, Portishead, Kruder & Dorfmeister, Thievery Corporation, die Gorillaz, Jan Delay, die Asian Dub Foundation und viele, viele andere greifen die Dub-Vibes auf und tragen sie ins nächste Jahrtausend, wo die, wie Scientist sie nennt, "musikalische Röntgenstrahlung" auch weiterhin ungebremst neue Perspektiven eröffnet.