laut.de-Kritik

Grüß mir die Sterne.

Review von

Es gab eine Zeit, da dachte ich, niemals wieder werde mich jemand allein mit seiner Stimme und seinen Worten so schnell und verlässlich zum Weinen bringen wie Layne Staley. Dann kam Lil Peep, ein neuer verlässlicher Gradmesser dafür, wie es um meine innere Stabilität bestellt ist. An guten Tagen schaff' ich drei Lil Peep-Songs, bis ich flenne. An schlechten reicht einer.

Danke auch, Torsun Burkhardt, du blöder, alter Sack, verdammt. Es wäre echt nicht nötig gewesen, DAS zu unterbieten. "Songs To Discuss In Therapy" läuft noch keine dreißig Sekunden, und ich heule Rotz und Wasser. Weil das alles einfach so grundlegend, so kolossal falsch ist, der Zustand so ganz und gar "Nicht OK", dass man eigentlich irgendwas kaputtschlagen möchte, und dann noch etwas anderes.

Aber was würde das schon daran ändern, dass Krebs ein Arschloch von kosmischen Ausmaßen ist? Eigentlich sollte man mit dieser Dreckskrankheit verfahren wie mit Faschos, ihr keinen Fußbreit Platz zugestehen. Doch was willste machen, wenn das Wissen um eines Künstlers Zustand seinen Texten einen komplett anderen Klang verleiht, weil einen plötzlich aus jeder Zeile, jedem Wort die Vergänglichkeit angrinst? "YOLO"? Ja, Mensch, wie sehr das doch stimmt ... das unterzeichnet man doch wirklich gerne mit einem Synthesizer-Solo.

Torsun Burkhardt hätte jedes Recht der Welt, sich zwischen seinen beiden Stereotronics im Selbstmitleid zu suhlen. Dass er genau das nicht tut, macht "Songs To Discuss In Therapy" vielleicht sogar schwerer zu ertragen, zugleich aber auch ungemein hörenswert und - das klingt paradox, jetzt, ich weiß, ich schwöre aber: isso! - schweinevergnüglich.

Ehrlich? Musikalisch erfindet dieses Nachfolgeprojekt von Egotronic zwar kein einziges Rad neu. Es schustert aber aus Punk, Elektro, Synthiepop, irgendwelchen Vintage-Computerspiel-Sounds und Vocodern ein ulkiges Fliewatüüt zusammen, mit dem es sich prächtig zum nächsten Rave cruisen lässt. Mehr als einmal beschleicht mich das (erstaunlich angenehme) Gefühl, per TARDIS in die 80er zurückkatapultiert worden zu sein. Songs wie "Hi" hätten sie damals wohl im NDW-Regal einsortiert, irgendwo neben Codo, dem Dritten. Oder wir warten noch ein paar Jahre und stellen das zu Snap!, da passt es auch irgendwie hin.

"Der Sound, wie er war, ist für mich durchgespielt", begründet jedenfalls gleich der erste Track, warum sie hier "Alles Neu" aufsetzen mussten. Eine Abrechnung mit unwiderruflich vergangenen Egotronic-Zeiten, ja, aber keine bittere. Ohne einen Funken Reue rekapituliert Burkhardt seine Karriere, die Ups, Downs und den Umstand, nicht reich geworden und jetzt wieder arm zu sein, und gelangt zu dem im Grunde beneidenswerten Schluss, er würde alles wieder ganz genau so machen.

Trotzdem erschien ihm das Egotronic'sche Elektropunk-Geprügele offenbar auserzählt. Gitarrist und Arrangeur Christian Schilgen hat Torsun aus den Reihen seiner früheren Formation zu den Stereotronics mitgenommen, außerdem Sina Synapse, mit der er schon das Projekt Oxy Music am Laufen hatte, und mit der er ganz nebenbei eine Ehe führt. Die Chemie stimmt also schon mal, und auch die neu formierte Combo hat Potenzial.

Der Elektropunk-Vibe verfängt immer noch, allerdings trampelt er nicht mehr alles platt. Wie Unkraut zwischen Plattenfugen sprießen überall ohrwurmige kleine Melodien, die sich zart und filigran in die Gehörgänge fiepen und düdeln und dort munter herumwuchern, im Titeltrack etwa. Dessen Grundgerüst klingt wie eine Punknummer, der jemand eine Silvesterrakete in den Arsch geschoben hat.

Dazu kommt der Kontrast aus Sinas ätherischem Gesang und Torsuns ... nun, ja ... "Rap" würde ich es nicht nennen, aber doch durchaus druck- und temporeichem Silbenstakkato. Das hat viel Unterhaltsames und bietet obendrein Platz für einen personalisierbaren Vers: "Hier könnte dein Rant stehen." Wieso hat dieses Geschäftsmodell eigentlich vorher noch niemand so richtig ausgelotet?

Die teils unverschämt fidele Musik steht in hammerharten Kontrast zu Torsuns Worten, insbesondere in "D.A.R.E." Hier beschreibt er schonungslos seine Verfassung, die Wirkungen und vor allem die unerwünschten Nebenwirkungen des Medikamentencocktails, der seinem Leben inzwischen den Takt vorgibt: "Trübe Gedanken allgegenwärtig, tausend Projekte, alle nicht fertig." "So hat sich alles verschoben", säuselt Sina Synapse gegen den tödlichen Ernst der Lage an, und der Galgenhumor lässt einem schier das Blut in den Adern gefrieren: "Wenigstens nimmt er keine Drogen mehr."

Satt schunkelnder Bass, synthetische WahWah-Sounds und blechern verfremdete Stimmen beherrschen das groovige "Viel Zu Viel", während "5 Sonnenstunden" genau das einfängt, was der Titel verheißt: einen Tag am Meer, samt Wellenrauschen und Möwengeschrei, Chill-Out 2023. Solches erscheint auch bitter nötig, um Kraft zu sammeln für die Auseinandersetzung mit dem gemeinen "Hater": "Ich hab' schon vor Social Media die Welt nicht besonders gemocht", offenbart Burkhardt da kein großes Geheimnis. Spätestens nach "Therapie" hätte man das ahnen können: "Menschen online sind hauptsächlich böse, borniert und niederträchtig, echt, ey, mal mittelprächtig", und das erscheint oft genug noch zahm ausgedrückt.

Wer nach der Ansage "Here we are now, analyze us" nicht wenigstens ein bisschen Bock hat, im Schlafanzug ins nächste Späti zu schlurfen und den Menschen dort etwas zu geben, worüber sie sich die Mäuler zerreißen können, sollte dringend seine Prioritäten checken. Torsun Burkhardt hat genau das getan und kam zu dieser Conclusio: "Es bleibt verbal radikal, rhetorisch verwegen, sage es nochmal schriftlich: dagegen, müde und traurig, ständig frustriert, aber schön formuliert." Fürwahr.

Mit schrappigen Gitarren und heftig verdroschenen Drums bekommt der Vorsatz "Das Ziehe Ich Jetzt Auch Durch" noch schnell Nachdruck eingeprügelt. Ein bisschen selbstironisch-nostalgisch wird es hier schon: "Weißt du noch, damals in jungen Jahren? Cool war nur der, der wirklich fertig aussah."

Unversehens finden wir uns im schummerigen Space wieder. Saiten knarren, versprengte Pling-Plong-Klänge glitzern, und man erwartet eigentlich jederzeit den Ausbruch eines Rave-Tanzflächen-Monsters. Dass der eben gerade nicht erfolgt sondern die Grußbotschaft "Hello Dad" unbehelligt und sachte in die unendlichen Weiten des Alls abschwirren darf, trifft am Ende noch einmal mit aller Macht zwischen die Augen und mitten ins Herz. "I hope you are an asteroid now."

... doch was dann? Diese Frage haben Torsun & The Stereotronics zum Glück gleich als erstes beantwortet: "Ich fange nochmal von vorne an." Wahrscheinlich bleibt das am Ende einfach die beste Idee. Repeat.

Trackliste

  1. 1. Alles Neu
  2. 2. Hi
  3. 3. Songs To Discuss In Therapy
  4. 4. D.A.R.E.
  5. 5. Viel Zu Viel
  6. 6. 5 Sonnenstunden
  7. 7. Nicht OK
  8. 8. Therapie
  9. 9. Schlafanzuganalyse
  10. 10. Hater
  11. 11. Das Ziehe Ich Jetzt Auch Durch
  12. 12. Hello Dad

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