laut.de-Kritik

Nothing Else Matters But A Walk On The Wild Side? Von wegen!

Review von

"Ich liebe Metallica, seit ich ein Kind bin", verkündet Lou Reed im lakonischen Stil Woody Allens, dem zweiten personifizierten Mr. New York. Vorhang auf für die bereits Monate vor Erscheinen umstrittenste Platte des Jahres. Die häppchenweise gestaltete Veröffentlichungspolitik mit Songausschnitten erhöhte die Spannung aufs große Ganze nur noch.

Für "Lulu" (altpreußische Kurzform für 'Luise') konzentriert Reed die Essenz all seiner zuletzt grundverschiedenen Aufnahmen, etwa die John Zorn-Kollabo "The Stone Issue Three" oder eine auf natürlichen Körper-Geist-Zyklen beruhende Tai Chi-Musik. Heraus kommt ein echtes Rockalbum, doch so verstörend direkt in Inhalt und Form, wie es in den Staaten höchstens noch Steve Albini mit Big Black oder Shellac geglückt ist. Nun ist der schweflige Zankapfel auf der Welt und selbige brandmarkt ihn vorab gewohnt kurzsichtig als tendenziell eher verwirrt denn inspiriert.

Der sensitive, 69-jährige Long Islander ist es gewohnt, künstlerisch in der jeweiligen Gegenwart eher unverstanden zu bleiben. Egal ob Velvet Underground, "Berlin" oder "Metal Machine Music": Kübelweise entleeren sich die medialen Pecheimer, sobald Lou (nebenbei auch künstlerischer Entdecker von Antony Hegarty) den Rahmen rockiger Gefälligkeit zaghaft verlässt, nur um jeweils nach ca. 20 Jahren gen Canossa zu Kreuze zu kriechen. "I thought you were listening / Hallucination!"

Bei näherer Betrachtung entpuppt sich nämlich das gänzlich andere Bild einer Doppel-LP, die für die Biographie von Loutallica zur fast zwingenden Fusion wurde. Ein Album so umfassend, aber auch so hässlich wie New York und Berlin zusammen. Das Drama selbst ist ein von Reed und Spezi Robert Wilson (u.a. auch Vorlagen zu Tom Waits' "Black Rider", "Alice") entworfenes Theaterprojekt. Es gastiert derzeit als Adaption vom gleichnamigen Fünfakter des großen Berliner Literatur-Piraten Frank Wedekind, in dem er 1913 seine brillianten Schockdramen "Erdgeist" und "Die Büchse der Pandora" zusammenfasste.

Eine Vorlage, wie geschaffen für den Erfinder des Rocktextes als dichterische Shortstory auf literarischem Niveau. Hier der sprechgesanglich gleichgültig abgestumpfte Beobachter einer urbanen 'Scene of sex and crime'. Dort Wedekind als älterer Bruder im Geiste: Radikaler Punkrocker, Satiriker und Chronist spießiger Scheinethik, Destruktivität und Gefühlskälte. Ein Mann, der für seine vom wilhelminischen System gefürchtete Kunst sogar in den Knast ging.

Wer jetzt ein lahmes "Nothing Else Matters But A Walk On The Wild Side"-Aufkochen mit schönem Gesang und Tralala-Melodien erwartet, kann einpacken. Den Hörer erwartet stattdessen ein ebenso forderndes wie erfrischendes Erlebnis. Avantgarde, Noise und Jazzfragmente im exquisiten Spannungsbogen stehen auf dem Plan.

Menschen? Für die Allermeisten unwichtige Objekte, die man fickt. "Some kind of a table / You can rest your feet on (...) I am the table!" Die Zeilen geraten stumpf wie eine gerichtsmedizinische Akte auf dem Krematoriumstisch, indes gerade deshalb schockierend realistisch in Text und Vortrag.

Erzählperspektive und innerer Monolog wechseln zwischen Dokumentation und freudianischer Deutung. Täter und Opfer sind nicht länger unterscheidbar. Die Protagonisten sehnen sich zeitweise nach Liebe und verharren doch in Metallicas bewusst stotterndem Dieselmotor-Interruptus zwischen Impotenz und Vergewaltigung.

Ein leider echter Spiegel zur Seele der Menschheit, kein Disney-Zerrspiegel. Reed interpretiert Wedekind wenig überraschend, dafür mit der inhaltlichen Treffsicherheit des alten Fuchses. Berlin wird amerikanisiert und in den grimmen Händen Lous zum psychoanalytisch fein austarierten Bastard aus Hubert Selby, Burroughs und der dentalbohrenden Präzision eines Hemingway. Sadomasochismus, Egoismus, Vergewaltigung, Kälte, Verführung, Sinnlichkeit, Tod, Ekel und ein kleines Tröpfchen Liebe. Der Mensch als Abschaum der Schöpfung. Schön klingt das in der Tat zu Anfang nicht.

Doch Lou ist wie Miles. Wiederholungen kommen nicht in die Tüte. Was fehlte? Metallicas bewährte Knochenmühle, die den Reedschen Kosmos mittels einer Art Eiter kotzenden Metalbrei samt spitzer Widerhaken auf ein neues Level treibt.

Die Rolle des Shouters Hetfield ist jedoch nur auf den ersten Blick undankbar. Lous rhythmisch gesprochene Gleichgültigkeitsorgie niederzuschreien wäre künstlerisch desaströs. Ein ruhigerer Widerpart wird dramaturgisch nicht gebraucht. Salomonisch daher, wie ihn das ungleiche Produzentenduo Hal Wilner (u.a. Gavin Friday) und Greg Fidelman (u.a. Johnny Cash) einfach in die zweite Reihe schiebt, ohne das räudige Organ zu degradieren.

Als wütend bellender Zerberus illlustriert Hetfield trefflich Lous gefühlskalte Höllenszenarien. Ohnehin gelingt beiden Soundmagiern die selten gewordene Kür, bloß die Aura der Musik angemessen roh und Lo-Fi klingen zu lassen, nicht jedoch dabei die tatsächliche Soundqualität zu mindern. Glückwunsch zur Quadratur des Kreises.

Bemerkenswert: Der vor allem in Metalkreisen bisweilen arg kritisierte Lars Ulrich hat zumindest in meinen Ohren noch nie einen derart entfesselten Eindruck verströmt. Befreit vom inzwischen konventionellen Metal-Korsett der eigenen (Mit-)Erfindung gibt er sich ganz und gar dem Sog des freieren Konzepts hin, um letzterem zwischendurch den rhythmischen Metallica-Ass-Kick nach vorn zu verpassen. Selten hatte man bislang den Eindruck, dass der 'danske Trommeslager' aus Gentofte dermaßen viel Spaß am eigenen Projekt hatte.

Ulrichs Taufpate war eben Sax-God und Hard Bop-Urgestein Long Tall Dexter Gordon, von seinem jazzy Vater Torben ganz zu schweigen. So scheint es, dass der liebe Onkel Lou den guten Lars zu den Ursprüngen zurückführt und damit endgültig von allen Dämonen erlöst.

Toller Effekt wie ein roter Faden durch das Labyrinth: Ruhigere, eher textlich orientierte Passagen wechseln in eruptiv-dunkle Metalfiguren, deren Anmut zwischen all dem Mörtel erst nach und nach zu Tage tritt. Wer mir das so gar nicht glauben mag, höre nur einmal "Pumping Blood" nach 3:15 Minuten oder "Frustration" um dessen Fixpunkt bei 3:33 Minuten. Für traditionellere Reed-Fans gibt es mittenmang das eingängige "Iced Honey" als rotzigen Garagenklopper. Unter dem ganzen Krawall ähnlich eingängig und hypnotisch wie "Average Guy" (von "The Blue Mask") oder "Big Sky" (von "Ecstasy"). "Cheat On Me" verkörpert dagegen sehr viel Metallica-Spirit mit Hetfield als punktgenau schreienden Schraubenzieher. Der gelegentliche Viola-Schock ist als repetitives Selbstzitat (dank Cale) durchaus gelungen.

Fazit: Das gegenläufige Konzept eines schmerzhaft fotorealistischen Textes in abstrakt musikalischem Mantel irritiert zunächst. Wer dies jedoch als Geschenk begreift, erhält einen faszinierend schillernden Appell an Menschlichkeit und echte Liebe frisch aus dem Herzen der Verdammnis. Oder ist am Ende doch alles ganz anders? Krönen Loutallica Warhols spöttische Pop-Art-Variante angemessen und verkaufen das Geschmeide dem Volk als Dornenkrone zurück? Diese Review schlussendlich nur als potemkinsche Tarnung für des NYC-Kaisers neue Kleidung? Die Antwort lautet einmal mehr: "Gee Darling, peel slowly and see!"

Trackliste

  1. 1. Brandenburg Gate
  2. 2. The View
  3. 3. Pumping Blood
  4. 4. Mistress Dread
  5. 5. Iced Honey
  6. 6. Cheat On Me
  7. 7. Frustration
  8. 8. Little Dog
  9. 9. Dragon
  10. 10. Junior Dad

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