laut.de-Kritik

Geschnittene Beats, zersplitterte Bässe, tanzende Vocals.

Review von

Mit Understatement führt die Kanadierin Jessy Lanza in ihre "Love Hallucination" rein. Auf eine Minute Clicks'n'Cuts-Style schichtet sie in der zweiten Garage-House-Akkorde auf. Ihre Stimme setzt sie wohl dosiert ein, wenn das der Dramaturgie dient. "Don't Leave Me Now" ist das erste, aber zaghafteste Lied dieses sanften, gleichzeitig knackigen Albums. Lanza ist Elektronik-Produzentin ihrer selbst, misst den warmen Strömungen ihrer wolkigen Synth-Sounds mindestens die gleiche Bedeutung bei wie ihren Worten. Oft tänzelt sie einfach mit ihrer Stimme, nutzt sie wie Takt gebende Beats.

Jessy gehört zum Elektronik-Kreis derer, die Vocals und Self-Producing gleichzeitig zur Verdienstgrundlage machen, und zum besonders kleinen weiblichen Kreis mit Jayda G, Mira Calix und LoneLady, der den Spagat zwischen nerdig-abseitig-verspult und eingängig-tanzbar ausbalanciert.

Avantgardesque gerät Lanzas LP dann, wenn sie in "Marathon" smoothen Jazz-Breaks einbaut und den Song für eine verträumte Bridge oder ein Outro mit langen eleganten Loops anhält, wenn sie Töne und Silben doppelt und vervielfacht und der Track zwischen gleichmäßigen Drehungen und stotterndem Motor switcht. Hypnotisch wirkt die "Love Hallucination" dann, wenn die 37-Jährige in "Midnight Ontario" mit einem lauten Klack-Geräusch die Zitat-Maschine anwirft und ein surreales Vintage-Loop-Stück rausholt, alten Chicago Warehouse-Sound imitiert, wo Euphorie und Dystopie nah beieinander lagen oder als stimmungsvolles Oxymoron perfekt harmonierten. Ein Effekt, den sie auch beim langsamen "I Hate Myself" einsetzt, wo sie sich am Ende beim Husten und Räuspern aufnimmt.

Und dann gibt es eine dritte Gruppe von Tracks, wo es akkurat genau das zu hören, was es auf dem Cover-Artwork zu sehen gibt. Auf diesem Blickfang-Bild lässt sie sich mit einem honiggelben Kran in die Wipfel einer Palme hieven. Das steht für "Casino Niagara", für das Feeling, über alles drüber zu schauen und beschwipst vor Glück und Losgelöstsein ganz viel Liebe in ganz viel fettem Schlafzimmer-Sound weiter geben zu wollen. In "Drive" gelingt das sogar fast ohne Text, nur mit dem geflüsterten Wort "Drive". Das fröhlich galoppierende Semi-Instrumental spricht für sich. Auch "Double Time" lässt am Ende mit diesem Eindruck, alles erreichen zu können, zurück. Die "Love Hallucination" ist keine reine Samstagfrüh-um-vier-Clubmusik, sondern ein Alltags-Aufmunterer zum Pendeln in die Arbeit. Holt erst auf den Teppich, baut dann auf und spricht Mut zu. Eine Waffe gegen Morgenmuffel-Kolleg*innen, denn hat man das hier gehört, können sie einem sowas von egal sein, 'Let's smile to our haters', säuselt diese Platte zwischen den Zeilen, die mitunter unauffällig düster, animalisch und makaber sind.

Jessy Lanza zählte man vor sieben bis zehn Jahren zur Riege der 'Future Soul'-Prophet*innen, Leuten, die höchst entspannte Grooves mit (teils) kommerzfrei orientierter R'n'B-Sinnlichkeit auf house'ige Grundlagen bauen: Thundercat, Kaytranada, Rihannas Kumpel Partynextdoor, Blood Orange, The Internet - der Terminus 'Future Soul' diente kurzphasig als Sammelkategorie für Einflüsse aus dem Drake-artigen Gummiflächen-Hip Hop genauso wie aus der Electropop-Welt. "Don't Cry On My Pillow" steht absolut typisch für dieses Mikro-Genre. Hiatus Kaiyote promoteten den Genre-Begriff dann offiziell. Wobei Rhythmik und Gesangsstil wirklich viel aus dem Soul der mittleren '70er borgen, Jessy Lanza mit ihren extrem hohen Pieps-Tönen gar wie die Reinkarnation von Minnie Riperton anmutet, die Abgrenzung zum bewussten Retro-Soul eines Benny Sings aber eindeutig aufs Zerhackstücken und aufs Malen atmosphärischer Skizzen zielt. "Limbo" und "Gossamer" sind trotzdem pure Retro-Events.

"Big Pink Rose" bettet Jessy zwar auch auf antiken Disco-Funk-Impulsen. Allerdings errichtet sie auf denen eine Architektur aus zeitgenössischer Dekonstruktion mit zersplitterten Bässen, und der Tune endet so unvermittelt und überraschend mit einem säbelscharfen cold end, dass man am liebsten zum Anfang zurück springen und das Stück in Dauerschleife auflegen möchte. Sowohl Liebe als auch psychedelische Halluzination enthält dieses Album reichlich und erfüllt sein Thema perfekt.

Trackliste

  1. 1. Don't Leave Me Now
  2. 2. Midnight Ontario
  3. 3. Limbo
  4. 4. Casino Niagara
  5. 5. Don't Cry On My Pillow
  6. 6. Big Pink Rose
  7. 7. Drive
  8. 8. I Hate Myself
  9. 9. Gossamer
  10. 10. Marathon
  11. 11. Double Time

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