laut.de-Kritik

Machs gut, Fremder!

Review von

Kennt ihr das? Ihr habt in eurem Viertel einen neuen Laden entdeckt. Vielleicht war er schon immer da, aber hinter der einen von vielen Ecken, um die ihr bisher zufällig noch nie geguckt habt. Es ist der Laden eurer Träume: Wenn es Essen gibt, dann schmeckt es göttlich, unter zehn Euro für einen Riesenberg. Wenn er Bücher verhökert, findet ihr aus dem Stand das Werk, das euer Leben verändert, Erstausgabe, handsigniert, und der Autor springt hinter dem Regal hervor und gibt euch einen High Five. Ihr fühl euch himmelhoch erhaben, euer Leben, eure Stadt, alles ist gerade besser geworden. Beim Rausgehen trefft ihr noch die Inhaberin und bedankt euch bei ihr fürs Existieren, und sie winkt ab und sagt, sie freue sich, dass ihrs mögt, aber ab morgen sei hier eh dicht. Schönen Nachhauseweg!

Genau dies passiert gerade in der Indiewelt. "Diamond Jubilee" von Cindy Lee hat die Szene in eine kollektive Verfolgungsjagd verstrickt: Wer ist das? Warum ist das so krass? Ja, es war nicht schwer, die Spuren des Kanadiers Patrick Flegel nachzuzeichnen. Zwei Alben mit einer Post-Punk-Band namens Women (bekannt vom 'What do y'all think of Women?'-Meme), danach Schlägereien auf der Bühne, Todesfall in der Band, aufsplittern, mehrere neue Projekte. Bis jetzt, bis hier.

Cindy Lee, Flegels Soloprojekt, hatte kaum jemand auf dem Schirm. Bis sich dieses Album als Traum der Musiknerds entpuppte: zwei Stunden, über dreißig Tracks, tausend Sounds, niederschmetternd traurig und tausend Jahre weit entfernt. Ein Giga-Epos. Alle haben es verpasst, über Rateyourmusic kam es trotzdem graduell zum Nischenhype. Was will man tun? Alle lieben es auf Anhieb, und das erste, das es allen über sich selbst mitteilt, lautet: 'Hallo, das hier ist übrigens der Abschied, tschüss!'

Das steht nirgends konkret, aber nach 30 Songs Lebensabendstimmung mit Andeutungen in Richtung Tod und Verstummen bleibt man doch mit diesem Gefühl zurück. Verdammt, ist "Diamond Jubilee" ein trübsinniges Album. Es klingt wie die Gespenster der anderen Loser aus dem Niemandsland nebenan. Vielleicht liegt viel von dem, das es besonders macht, auch am Kontext: Es ist ellenlang, teilweise schwer zu überschauen, man findet es auf keinem Streaming-Anbieter. Komm' in die Domäne dieses Albums. Cozy Nebenherhören ist nicht verboten, aber eingeschränkt.

Dann noch dieses Albumcover! Ein hässlich schönes Foto eines Industriekomplexes mitten in der Pampa, darauf die Zeichnung einer Frau montiert. Sie ist offensichtlich ein Phantasma, ein Kleinstadt-Tagtraum, Pop-Art gegen Realismus-Brutalität.

Es ergibt also Sinn, dass das Album so schnell so viele Menschen in seinen Bann zieht: Es ist sehr gut darin, allein schon mit seinem Kontext darauf vorzubereiten, dass da gleich etwas Besonderes passiert. Das würde aber nicht dermaßen gut funktionieren, wenn es nicht doch etwas wahrlich Besonderes wäre. Aber was ist das eigentlich?

Als eine der ersten Kategorien greift man zum Genre: Der 2009 vom Musikmagazin The Wire erdachte Begriff 'Hypnagogic Pop' bedeutet: 'Musik, die sich auf die Erinnerung einer Erinnerung bezieht'. Er beschreibt eine gängige Methode von Indiemusik sehr brauchbar, ohne etwas über die Musik selbst auszudrücken. Cindy Lee klingt trotz ähnlichem Prozess null wie Ariel Pink oder James Ferraro.

Wenn wir uns mit dem Album beschäftigen, merken wir schnell, wie inadäquat 'Erinnerung' oder gar 'Nostalgie' im musikalischen Kontext erscheinen. Ich fürchte, irgendwann werden wir präzisere, ausdifferenzierte Begriffe brauchen, um Nostalgie zu beschreiben. Deswegen passt auch 'Hypnagogic Pop' nicht: Wenn Flegel auf "Wild Ones" Lou Reed oder auf "Kingdom Come" Fünfziger-Glam kanalisiert, macht they das nicht mit Muzak-Ironie. Flegel macht es mit herzzerreißender Sehnsucht.

Differenzieren wir also besser in gelebte oder ungelebte Nostalgie. Flegel verarbeitet zum Beispiel in bester Drag-Manier Girlgroup-Musik aus den Sechzigern. Wenn they das tut, wofür ist they dann nostalgisch? Wenn wir 2024 Musik vor uns haben, die sich auf Girlgroup-Musik aus den 60ern bezieht, könnte das auf drei Wegen passiert sein: 'Ungelebte Nostalgie' wäre es, stammte es von jemandem, der nicht dabei gewesen ist, sich das Zeug 50 Jahre später auf YouTube aufgetan hat und sich nun für die Ästhetik interessiert. 'Indirekt' würde bedeuten, jemand samplet das Zeug, weil er Erinnerungen an seine Oma hat, die jeden Morgen in der Küche dazu tanzte. Die Nostalgie der Oma wäre dann 'gelebt', die Nostalgie des Samplers 'indirekt gelebt'.

Hier kommt mein Modell auch schon an seine Grenzen: Natürlich könnte ich Cindy Lee als Projekt nur auf Basis des Vibes verräumen. Flegel ist höchstwahrscheinlich nicht alt genug, um viele der Referenzen selbst erlebt zu haben. Aber gerade die erste Hälfte des Albums klingt, als lasteten turmschwere Kanister voller Erinnerung auf them, und obendrauf noch die Last von all den verpassten Dingen. Die Erinnerung kommt mit Delay, in Alberta hätte in der passenden Zeit ja auch niemand etwas von den Ronettes oder von Ella Fitzgerald erlebt, zumindest nicht unmittelbar persönlich. Trotzdem ist diese Musik für dieses Album offensichtlich ein sehr realer Sehnsuchtsort, einer, an dem sich Flegel spürbar viel aufgehalten hat. Am besten lässt sich das Album beschreiben, als bewege they sich per Powerpoint durch die Erinnerung an all seine Sehnsuchtsorte. Hypnagogic as fuck, in dem Sinne: Seine Nostalgie ist ungelebt, aber die Nostalgie für seine Nostalgie ist so lebendig wie das Leben selbst.

Es fällt gar nicht so leicht, den roten Faden zu finden. Die Songs swingen vor sich hin, voll mit negativem Raum, gefühlt bilden zehn Plattenspieler ohne Platte einen Störgeräusche-Chor. Oft fühlt sich das Album wie eine nicht ganz erfolgreich durchgekommene Übertragung aus dem Jenseits an. Aber man kann sich federleicht darin fallen lassen. Gerade die erste Hälfte ist nicht gerade aufdringlich, aber meisterhaft geschrieben und taktiert. Lange, schmachtende, simple Grooves wie im Titeltrack ganz am Anfang, Momente von großem Pathos von genau der langen Dauer, dass der simple Aufbau sie natürlich umkränzt, und dann mehrere kurze, experimentelle Interludes als abtrennende Satzzeichen. Fixieren wir uns by the way nicht nur auf die Girlgroup-Einflüsse, von denen ich schattenhaft ahne, dass sie ein bisschen übertrieben werden, viel mehr hört man in diesen Songs Artists wie Nat King Cole oder Johnny Smith.

Gerade, wenn man denkt, die erste Stunde habe diesen musikalischen Fluss durch ein Leben voller Musik-Referenzen und dem Schmachten nach großen musikheroischen Happenings einigermaßen auserzählt, zieht Disc 2 schönerweise ein paar andere Seiten auf: "Stone Faces" und "Gayblevision" sind amtliche Hitter. Ersteres klingt vom Bass wie die Babybel-Werbung (glaubt mir!), geht dann aber in 70er-Psychedelia auf. Zweiteres könnte man in seiner Synthpop-Energie fast in einen Club neben die Pet Shop Boys stellen.

"Diamond Jubilee" widersetzt sich der Fassbarkeit, es lässt sich unglaublich schwer nacherzählen. Genauso unsinnig wie meine pseudo-philosophische Einordnung erscheint der Versuch, Track für Track durchzukrämern und bei jedem Song "Also, das erinnert mich jetzt an dies, das erinnert mich an das" zu sagen. Es erinnert an verdammt viel. Vielleicht hatte The Wire doch Recht und es ist wirklich einfach nur der kulturelle Ouroboros der Nostalgie, für den Erinnerung auf Erinnerung tot auf den Boden fällt, und dann frisst er sich wie Pilze durch diese Schichten, löst sie auf und erweckt sie in Form von Humus wieder zum Leben.

Aber die Schönheit dieses Albums beschreibt das Wort "nostalgisch" nicht hinreichend. Die Nostalgie ist indirekt, wahrscheinlich, vielleicht sogar ganz entfernt. Aber sie ist mehr als ein Schlagwort oder ein Verweis. Sie ist durchlebt, durchspukt, doppelt, überkreuzt, in diesem Abstieg in die Vergangenheit gibt es grenzenlos viel zu entdecken. Kommen wir auf das Albumcover zurück, dann bleibt da immer noch dieses Trugbild von verträumt-schöner Subkultur, wie sie da auf trübsinnigstem Niemandsland sitzt.

"Diamond Jubilee" ist der Jahrestag einer schicksalhaften Abwesenheit, ein Nie-geboren-worden-Tag, und es klingt wunderschön, genau dieses Album, das man immer verpasst hat, wie das Happening das man versäumt, wie die anderen uncoolen Kids, die in der Stadt nebenan gehaust haben und die man irgendwie nie getroffen hat, auch wenn man sie sicher gemocht hätte. Immerhin haben wir uns noch einmal versammeln können, um zu diesem Abschied den Hut zu ziehen. Ob Patrick Flegel die Musik hiermit an den Nagel hängt oder nicht: Machs gut, Fremder!

Trackliste

Side One

  1. 1. Diamond Jubilee
  2. 2. Glitz
  3. 3. Baby Blue
  4. 4. Dreams Of You
  5. 5. All I Want Is You
  6. 6. Dallas
  7. 7. Olive Drab
  8. 8. Always Dreaming
  9. 9. Wild One
  10. 10. Flesh And Blood
  11. 11. Le Machiniste Fantome
  12. 12. Kingdom Come
  13. 13. Demon Bitch
  14. 14. I Have My Doubts
  15. 15. Til Polarity's End
  16. 16. Realistik Heaven

Side Two

  1. 1. Stone Faces
  2. 2. Gayblevision
  3. 3. Dracula
  4. 4. Lockstepp
  5. 5. Government Cheque
  6. 6. Deepest Blue
  7. 7. To Heal This Wounded Heart
  8. 8. Golden Microphone
  9. 9. If You Hear Me Crying
  10. 10. Darling Of The Diskoteque
  11. 11. Don't Tell Me I'm Wrong
  12. 12. What's It Going To Take
  13. 13. Wild Rose
  14. 14. Durham City Limit
  15. 15. Crime of Passion
  16. 16. 24/7 Heaven

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