laut.de-Kritik

Die zurzeit prägnanteste Indie-Stimme - nach Antony.

Review von

Einst entwickelte der legendäre Jazzgitarrist Django Reinhardt, nachdem er sich bei einem Brand die linke Hand verletzt hatte, eine neue, virtuose Spieltechnik. Aus dem Handicap wurde ein Markenzeichen.

Warum das hier erzählt wird? Scott Matthew soll sich vor zwei Jahren bei einer Rangelei auf den Mean Streets von New York einen Finger so schwer verletzt haben, dass er die Gitarre an den Nagel hängen musste, um sich fortan verstärkt der Ukulele zu widmen. Wie das neue Album des Exil-Australiers zeigt, hats nicht geschadet.

Der bärtige Singer/Songwriter, ansässig in Brooklyn, schenkt uns eine höchst stillvolle Platte: vom eleganten, immer wieder an David Bowie gemahnenden Gesang, bis zum vom Berliner Fotografen Michael Mann gestalteten Booklet mit tollen Bildern, die Matthew in diversen Metamorphosen zeigen. Besonders gelungen: das Coverphoto, auf dem der Künstler als Hybridwesen aus Zorro einer weißen Blüte und Batman auftritt.

Apropos, dass sich auf Matthews zweitem Album auch ein "Wolverine" betiteltes Stück findet, dürfte den ein oder anderen Hugh Jackman-Fan freuen, springt doch Matthews Landsmann gerade als Comicfigur "Wolverine" von den Leinwänden. Ohnehin scheint Matthew eine Affinität zur Kinematografie zu haben. Nicht nur sein legendärer Auftritt in "Shortbus" unterstreicht das, nein, seit einiger Zeit soll der Australier auch eine Freundschaft zur Schauspielerin Jessica Schwarz pflegen. Man denke sogar, so stand zu lesen, über ein gemeinsames Duett nach.

Wie dem auch sei. In jedem Fall verfügt Matthew über die zurzeit prägnanteste Stimme im Indie-Sektor, der auch Ausflüge ins Falsett nichts anhaben können. Nach Antony Hegarty freilich! Tatsächlich verbindet die beiden Wahl-New Yorker ja weit mehr als nur das gemeinsame Exil.

Stichwort: Weirdness. Was bei Antony der androgyne Habitus ist bei Scott der Rasputinbart. Bei aller wuchtigen Wärme aber, die uns aus Matthews Organ entgegenströmt, gewinnt Hegarty stets den direkten Vergleich. Vermag einen dieser doch mit nur wenigen Zeilen zu Tränen zu rühren. Was Matthew kaum gelingt.

Die Inbrunst aber, die er in Zeilen wie "Oh 'cause now I've lost the right to consider you mine" ("Every Traveled Road") legt, ist atemberaubend. Wunderbar auch die Instrumentierung: Prägnantere Streicher als bei "For Dick" hat man lange nicht gehört, Marisol Limon Martinez setzt am Klavier nachhaltige Akzente. Und natürlich: die Ukulele. "I've taken drugs, I've taken sides", sinniert Matthew zu den Klängen dieses so wunderbaren wie seltsamen Instruments.

Ja, er klingt schon ein wenig larmoyant hier und da, wehleidig gar. Aber hey! Worum gehts denn bitte bei Musik? Großartig die Idee, den unglaublich langen (102 Buchstaben!), leicht prätentiösen Albumtitel im Titelsong von Martinez und der Japanerin Chie Tanaka flüstern zu lassen. Sorgt für Gänsehaut.

Ein Problem gibt es allerdings: Dass eine introspektive Platte wie diese mitten im Frühling erscheint, erschwert die Rezeption. Nächsten Herbst aber, da werden wir das Album mit dem "Guiness Buch der Rekorde-Titel" mit zittrigen Händen entstauben. Versprochen!

Und so düster ist die Scheibe ja gar nicht – man höre nur einmal das beschwingte "Thistle". Zudem entlässt uns Matthew mit der versöhnlichen Erkenntnis: "In the darkest of oceans there's light". Schön, oder?

Trackliste

  1. 1. Every Traveled Road
  2. 2. For Dick
  3. 3. Ornament
  4. 4. White Horse
  5. 5. Dog (Duet With Holly Miranda)
  6. 6. Community
  7. 7. There Is An Ocean That Divides
  8. 8. German
  9. 9. Thistle
  10. 10. Wolverine
  11. 11. Friends And Foes

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5 Kommentare

  • Vor 14 Jahren

    Sehr interessant. Der Hegarty Vergleich ist aber nicht so ganz fair. Diese Stimme schwebt nunmal hochoben und ist unerreicht. Das sollte ja Konsens sein. Rezi hat aber neugierig gemacht.

    THX!

  • Vor 14 Jahren

    Schöne Platte. Sehr gelungene Arrangements mit den Streichern und dem Piano.

    Den direkten Live Scott vs. Antony-Vergleich gibts am 15. Juli 2009 in Montreux! Zuerst Scott Matthew und danach Antony & The Johnsons (mit Orchester) am Montreux Jazz Festival *Vorfreude*

  • Vor 14 Jahren

    Und du fährst dahin?
    Wow!

    Ich habe Antony am 24. in Berlin gesehen. Das ist nicht zu toppen!

  • Vor 14 Jahren

    @matze73 (« Und du fährst dahin?
    Wow! »):

    Das lasse ich mir defintiv NICHT entgehen!

  • Vor 14 Jahren

    "...vom eleganten, immer wieder an David Bowie gemahnenden Gesang ..."

    platte des monats im me 05.09, mit einem foto, das mich zunächst abschreckte. dann doch mal reingehört ... sehr interessante scheibe, obwohl mit sicherheit nicht auf dauerrotation zu genießen/ertragen.

    der gesang erinnert mich in vielen passagen eher an die ruhigen tracks von elvis costello als an den von david bowie.

    und der vergleich mit antony hinkt meines erachtens völlig.