laut.de-Kritik

Tolles Comeback der Königin der Masken.

Review von

In Zeiten, in denen Masken unser öffentliches Leben bestimmen, wird es Zeit für das Comeback der Königin der Masken. Kurz schien es so, als hätte Lady Gaga diese mit "Joanne" und "A Star Is Born" abgelegt. Doch wenn uns die Geschichte der Pop-Musik etwas lehrte, dann dass selbst die persönlichste Variation eines Stars am Ende eben doch auch nur eine Verkleidung darstellt.

Die Karriere der Sängerin folgt den logischen Gesetzen des Genres. Auf das bis zum Zerbersten auf Glitzer und Kunst ausgelegte "Artpop" folgte der logische Striptease auf ein Minimum, der Flirt mit Country. Wo hätte man auch sonst hin sollen, um noch zu verwundern? Doch was soll danach noch kommen? Wie will man noch verblüffen? Was soll man noch ausziehen, wenn man doch angeblich bereits nackert ist?

Gaga hätte es sich nun im Bereich der "ernsthaften Musik" - was auf immer das sein soll – bequem machen können. Ein Leben voller Klavierballaden wartete sehnsuchtsvoll auf sie. Mit "Chromatica" entscheidet sie sich jedoch anders. Das Great American Songbook bleibt vorerst geschlossen.

Stattdessen entscheidet sie sich, weiter die Extreme ihrer öffentlichen Persönlichkeit auszuloten. Das mag manch einen verwundern. Doch egal welche großen, sich künstlerisch versuchende Karrieren der letzten Jahrzehnte man rückblickend betrachtet, egal ob Madonna, U2 oder Metallica: Dieses ständige Switchen zwischen den Möglichkeiten ist fest in der DNA der Pop-Kultur verankert. Am Ende verbinden sich all die kleinen, so unterschiedlichen Lady Gaga-Zords zu einem Megazord. Ließe man nur eine weg, bliebe ein zweidimensionaler Rest über.

Die größte Veränderung stellt jedoch nicht der Sound des Albums, sondern Gagas Position dar. Vor über einem Jahrzehnt war sie mit "The Fame" und "The Fame Monster" uneingeschränkte Leaderin. Nun hängt sie anderen wie Charli XCX, Ariana Grande und Dua Lipa, deren recht ähnliches "Future Nostalgia" im Vergleich zu "Chromatica" das bessere Album darstellt, leicht hinterher. Eine jüngere Generation hat ihren Platz erstmals übernommen. Lady Gaga geht nicht mehr voran, sie folgt.

Das ändert nichts daran, dass ihr mit ihrem sechsten Album ihr poppigstes Werk seit ihrem Debüt gelingt. Ein Hüpfball der Lebensfreude, aufgepumpt mit so vielen Dance-Hymnen, dass er fast zu platzen droht. Die sie während der Aufnahmen überkommenden depressiven Phasen versteckt sie wie so viele hinter einem besonders breiten, fast schon besorgniserregendem Lächeln.

In "Rain On Me" kommen mit Lady Gaga und Ariana Grande Vergangenheit und Gegenwart für ein wenig Zukunft, die jetzt schon wieder Gegenwart und morgen Vergangenheit ist, zusammen. Dabei entsteht ein euphorischer Instant-Klassiker. "Hands up to the sky / I'll be your galaxy". Um die Fäuste möglichst eindrucksvoll zu recken, bedienen sie sich an der Bassline von Gwen McCraes "All This Love That I'm Giving". Darüber bauen sie ein vor Energie nur so strotzendes Stück Dance-Pop.

Zwar handelt "Plastic Doll" über Gagas Erfahrung, als Künstlerin entmenschlicht und auf ihr Aussehen reduziert zu werden, die Zeile "I'm state of art, I'm microchipped" lässt sich in Zeiten von depperten Verschwörungstheorien jedoch auch anders lesen. Das mit Elton John aufgenommene "Sin From Above" dreht herrlich hohl. In dem 90s-Techno mit Panflötenbeat versteckt sich der alte Haudegen unter einer ordentlichen Portion Autotune und spielt Cher. Zum Ende zerfleddert der Track in Drum'n'Bass. So viel Eurovison Song Cotest wie hier werden weder die ARD noch Stefan Raab jemals hinbekommen. "When I was young, I prayed for lightning / My mother said it would come and find me." Herrlich.

In "Sour Candy", das sich ruhig etwas weniger an gängige Deep House-Muster hätte halten können, zeigt sich Gaga als perfekte Gastgeberin. Die ersten eineinhalb Minuten gehören ganz den südkoreanischen K-Pop-Superstars Blackpink. Erst zum Refrain setzt sie selbst ein. Wäre noch spannender, wenn man in den letzten Jahren nicht mehre Songs gehört hätte, die einer ähnlichen Klangästhetik folgten, wie etwa Katy Perrys "Swish Swish".

Das eingängige "Enigma" hingegen nähert sich der Lady Gaga-Formel eher vertraut und klassisch. Trotzdem findet die New Yorkerin auch auf ihrem sechsten Album noch den nötigen Dreh, um das Stück zu einem der herausragenden auf "Chromatica" zu formen. Zum Ende darf in "Babylon" dann noch zu einem Guru Josh-Saxophon ordentlich gevogued werden. Viel mehr kann man von einem Dance Pop-Album eigentlich nicht erwarten.

Trackliste

  1. 1. Chromatica I
  2. 2. Alice
  3. 3. Stupid Love
  4. 4. Rain On Me
  5. 5. Free Woman
  6. 6. Fun Tonight
  7. 7. Chromatica II
  8. 8. 911
  9. 9. Plastic Doll
  10. 10. Sour Candy
  11. 11. Enigma
  12. 12. Replay
  13. 13. Chromatica III
  14. 14. Sine From Above
  15. 15. 1000 Doves
  16. 16. Babylon

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21 Kommentare mit 38 Antworten

  • Vor 3 Jahren

    Weil hier schon der Vergleich zu "Future Nostalgia" auftaucht: für mich ist "Chromatica" das bessere Album, weil es Lady GaGa gelingt, ihre eingängigen Dance-Pop-Songs mit ihrer Persönlichkeit auszufüllen, während jene von Dua Lipa in meinem Empfinden zu steril bleiben (wenn auch handwerklich gut gemacht). "Chromatica" ist genau das richtige Album zur richtigen Zeit: ein wunderbarer Zuckerschock mit jeder Menge Granaten und zum Glück ohne störende Balladen. 5/5

  • Vor 3 Jahren

    Diese Review liest sich, wie das Album klingt: Oberflächlich und lustlos. Mir ist es wirklich ein großes Rätsel, wieso ausgerechnet dieses Gaga-Album bei Kritikern so gut ankommt, denn es ist mit Abstand ihr schwächstes. Nie waren ihre Melodien so beliebig und ausdruckslos wie hier, da kann die Produktion der Dance-Arrangements noch so hochwertig sein (was sie in der Tat ist). In erster Linie ist das hier Popmusik. Und wenn man mal von "Rain On Me", "Enigma" und "Replay" absieht (welche in der Tat großartig sind), ist das meiste davon eine billige, tausendfach gehörte Mogelpackung. Wenn man da an The Fame Monster und Born This Way zurückdenkt, ist das hier ganz schön ernüchternd.
    Von mir als Gaga-Fan gibt es hier nur 2,5 von 5 Sternen.

    • Vor 3 Jahren

      Word. "Stupid love" bedient die Fans der ersten Stunde und ist als Reminiszenz an die späten 00er/frühen 10er einzustufen und hat somit nen gewissen nostalgischen Wert, darüber hinaus sind die von dir erwähnten Tracks extrem gute Nummern. Der Rest ist fürn Arsch.

  • Vor 3 Jahren

    Paar Songs sind etwas zu gehyped und ihre Single Auswahl ist auch sehr fragwürdig. Dennoch ist das im Großen und Ganzen ein sehr gelungenes Pop Album das von der Masse heraussticht. Was man von ihren letztem Output nicht unbedingt behaupten kann.
    Ich finde die Platte auch weniger anbiedernd an die 90er als zum Beispiel Born This Way. Sie ist aber auch leider nicht so radikal ausgefallen wie Artpop. Aber immerhin sind die Tracks ziemlich kurz und knackig, und manche Songs bieten auch einen krassen Richtungswechsel zum Schluss, was mich an Charli XCX erinnert.

    Würde locker 4/5 geben

  • Vor 2 Jahren

    Ich freue mich, dass sie endlich ein Album mit fast einheitlichem Sound-Design produziert hat. Immer schon habe ich mir insgeheim gewünscht, dass diese Frau einmal ein 90s-Album raushaut. Als ich den Albumtitel (Chromatica) das allererste Mal las, dachte ich, Gaga‘s neues wird ein Synthie-Popalbum mit starken 80s-Referenzen im Stil von Born This Way oder Artpop. Dann folgte „Ernüchterung“: stattdessen bekam man hier einen Bastard aus reinem Eurodance, Techno, House und Drum N Bass vorgesetzt, der dazu noch etwas zu sehr auf Hochglanz für die heimischen Tanzflächen poliert wurde.
    An manchen Stellen klingt Gaga dann schon sehr nach der Madonna der 90er (Stichwort (!) Erotica = Chromatica / Rain = Rain On Me, Vogue = Enigma, Ray of Light = Sine From Above).
    Meine persönlichen Favoriten sind Alice, Stupid Love (ein mäßig kreatives Zwitterwesen aus Born This Way und Do What U Want), Free Woman, Enigma, Replay und Babylon (obwohl ich letzteren schlecht produziert finde und die Demo eher mag!). Rain On Me lässt mich unweigerlich an einen Hochglanz-Asia-Porno denken. Sorry, aber das sind genau die Bilder, die mir bei diesem hier vorgesetzten Gebräu durch den Kopf gehen.... Die Features (Ariana Grande, Black Pink, Elton John) hätte es auf Chromatica nicht gebraucht. Auch nicht, dass Gaga pausenlos von ihrem unendlich erscheinenden Leid im Alltag erzählt (tat sie das nicht schon auf The Fame Monster, Artpop und Joanne?).
    Ein wenig gewünscht hätte ich mir, dass Lady Gaga nach A Star is Born endlich wieder einen Über-Hit, im Sinne von Poker Face, Bad Romance oder Born This Way, raushaut. Applause war nunmehr handzahmer Electropop mit hysterischem Gesang, ebenso das viel zu rockige und schwache Perfect Illusion. Doch nix da! Gaga meint, 2020 auf Nummer sicher zu gehen und genauso viel 0815-Pop produzieren zu lassen, wie es jeder Großkopf seit dem „politischen“ 2017 tut. Hier und da klingt der Song noch etwas wie aus einer anderen Welt an, sorgt aber insgesamt nicht für den überlebensnotwendigen Knalleffekt, den nunmal Superpopstars ihrer Coleur benötigen, um in der Top-Liga der führenden Superpopstars zu bleiben.
    Abgesehen von der Tatsache, dass ihre Produzentenriege das Gequietsche der Refrainstimme im Hintergrund in ,Stupid Love’ (ich finde den Titel nett produziert, ein Über-Hit der Marke Lady Gaga wirkt im Vergleich dazu jedoch monströser!) von einem Song von 2018 abgekupfert hat und Replay auf dem Sample (fast alle Gaga-Hits bauen auf einer Melodie, die bekannt ist!) eines 70s-Disco-Songs beruht.
    Die Albumideen, samt Promo, finde ich okay und ihr gelingt es wieder, dezent, das Massenpublikum zu schocken (s. CD-Gestaltung). Wertung: solide 3/5 Sternen.

  • Vor einem Jahr

    Kurzes Update meiner Meinung:

    (-) Das Album, inklusive Tracks, ist zu kurz.
    (-) Alles klingt zu ähnlich und homogen (Fluch und Segen zugleich!).
    (-) Die Gäste-Features hätte es nicht gebraucht!
    (-) Die Pop(House)-Musik ist von den Produzenten zu oft durch den Polier-Fleischwolf gedreht worden.
    (-) Gaga lässt sich erneut zu sehr von ihrem großen Vorbild - Madonna - beeinflussen (siehe Erotica und Confessions on a Dance Floor = Chromatica).
    (-/+) Stupid Love kopiert Born This Way und Do What U Want. Das Lied nervt durchaus aufgrund der hochgepitchten Stimme.
    (-/+) Rain On Me: Ariana Grande nervt höllisch und French House empfinde ich im Jahr 2020 als nicht zeitgemäß.
    (-/+) In Enigma hätte Gaga ruhig weniger hysterisch schreien können, nervt nämlich.
    (+) Alice, Free Woman und Replay sind die einzigen (und stärksten) Lieder auf dem Album, die nicht nerven.

    Schade, finde das Konzept insgesamt gut, die Kostüme diesmal mäßig interessant. Auch Gaga’s Musik kann dieses Mal erneut nicht durchweg überzeugen.
    Das Albumcover-Artwork finde ich schauderhaft und ekelerregend.
    2/5 Sternen