laut.de-Kritik

Ein Cousin ersten Grades.

Review von

Wilco waren in den letzten Jahr(zehnt)en, die von der Musikkritik stets arg bedeutungsschwanger beladen wurden. 9/11 Album, Obama-Album, immer wurden die liberalen Stellungnahmen zu den ganz großen Themen gesucht. Dass Jeff Tweedy die Welt schon immer durch seine eigene Linse sah und diese immer öfter – und immer sprach- und wortgewaltig – in sein näheres Umfeld blickte, wurde ihm auf Alben wie "Schmilco" regelrecht übelgenommen. Kurzum: Wilco wurden uncool. Das ist uns natürlich wurscht, denn eines hielt quasi unverändert an, nämlich die hohe Qualität des Outputs der Chicagoer.

Nachdem "Cruel Country" 2022 die Country-Wurzeln der Band wieder aufnahm, erwartet den Hörer auf "Cousin" der strenge, unterkühlte Blick der Princess of Cool Cate Le Bon (der Regentinnentitel bleibt Laurel Halo vorbehalten), die fast schon ein Oxymoron zur verzeihenden, nahbaren, leise lächelnden Melancholie von Wilco zu sein scheint. Eine tolle Wahl also! Und die erste externe Produzentin seit "Wilco", das ja auch schon wieder 14 Jahre her ist. Le Bon machte dann auch erstmal Schluss mit dem ganzen bierseligen zusammen Rumgehänge und Live-Studio-Aufnahmen, die Band sollte ihr Files schicken und ihre Parts verdammt noch mal sauber einüben, bis sie saßen. Das merkt man "Cousin" an und ist ausschließlich als Kompliment gemeint: Sauberer arrangiert waren die Amis wohl noch nie. Das Album hat einen delikaten, artsy Vibe, ohne die Stärken von Tweedys warmer Stimme und die Harmonien der Band zu vernachlässigen.

Als Anschauungsmaterial dient schon das Intro "Infinite Surprise", das, wenn nicht ganz eine solche, doch eine willkommene Überraschung ist, da die Spielfreude der letzten Alben eingetauscht wird gegen eine an Shoegaze gewahrende Anspannung, die der Band wunderbar zu Gesicht steht. Nicht nur die Anspannung erinnert an Schuhglotzen, auch die vielen Schichten des Songs, der allerdings nie in eine Wall of Sound ausartet, wenngleich Wilco hier zum Schluss hin keine Angst vor windschiefen Tönen haben. Alles hört sich nach Wilco an, und das nicht nur wegen Tweedys charakteristischer, sanfter Stimme: Wilco, nur anders. Im Übrigen verliert Tweedy, der die Songs allesamt schrieb, als Texter auf diesem ersten Song auch unvermittelt jedes für ihn charakteristische Grinsen: "It's good to know we die". Der Mann schaffte es, mit seinem Sohn ein (großartiges) Album über seine verstorbene Frau zu machen, das deutlich fröhlicher war als "Cousin".

Es ist insofern gar nicht zwingend logisch, dass "Cousin" anscheinend zumindest teils parallel zu "Cruel Country" entstand; "Cousin" ist nicht alles Progressive von Wilco minus Country, sondern sein ganz eigenes Biest. "Ten Dead" hat einen deutlich wahrnehmbaren Country-Swagger, für den es halt auch nicht immer die sägende Gitarre und ein Yee-Haw braucht, und der sich hier eher in einem Aufbau äußert, das den Spannungsansatz von Le Bon und die Virtuosität und das Melodiegespür von Wilco exemplarisch zusammenführt. Der Song ist ein müde stolperndes Sinnieren über die Opfer, mutmaßlich (auch) von Corona, garniert mit Rasierklingenzeilen wie "A scratch on thе cheek/ A father to fight / I was too weak, too cold / Mostly night I was, mostly night". Unklar bleibt, ob er hier der Sohn ist oder sein Sohn Spencer; auf "Cousin" erzählt Tweedy durchgehend wunderschön und unendlich traurig, aber meist abstrakt.

Die Musik dagegen hat Le Bon mit ihrer ablehnenden Haltung gegenüber Liveaufnahmen aus der Kuschelzone geholt, sie noch griffiger gemacht. Wilco tauschen ihr "handmade live feel" auf Songs wie dem Albumhighlight "Levee" nun ein gegen ein Schaulaufen ihrer Virtuosität (Glenn Kotche auf "Pittsburgh"!). Hier wird kein Damm besungen, sondern eine verbotene Liebe, die abhängig macht, und wieder wartet Tweedy mit einer der besten Sangesleistungen seiner Karriere auf. Es ist beeindruckend, wie vielschichtig "Levee" schon beginnt, und es dann quasi unmöglich ist, den Song dabei zu erwischen, wie er in alle Richtungen immer einen Schritt mehr macht, bevor Bassist John Stirratt ihn wieder zusammenbindet.

"Evicted" ist nicht sozialpolitisch zu verstehen, Tweedy wurde aus einem Herz verbannt auf diesem Albumhighlight. Mit seiner ehrlichen und paradoxen Erschütterung wäre das für viele Bands ein Karrierehöhepunkt, auf "Cousin" wirkt der Song mit seiner sehr guten Melodie-Idee fast schon zu schlicht. Damit beginnt der träumerische Part der Scheibe, "Sunlight Ends" (das eine unglückliche Liebe besingt) und "A Bowl And A Pudding" (macht dasselbe: "And the one / You love / Is not me") flirren beide auf sphärischen Ebenen, wobei vor allem der zweite Song überzeugt mit seiner nicht zuletzt Nels Cline an der Gitarre zu verdankenden Komplexität und dem Zwiegespräch, das Tweedy gehaucht, abgekämpft und wütend zugleich, mit sich führt. "A Bowl And A Pudding" ist eine rasiermesserscharfe Feder, die rasend schnell Spiralen dreht und doch scheinbar nie den Boden berührt.

Der Titeltrack kann das Niveau nicht ganz halten, er braucht etwas lange, bevor er zum Schluss hin mehr nach dEUS klingt als Wilco das jemals zuvor taten. Mitunter drängt sich der Eindruck auf, dass Le Bon kämpfen musste, wie Jim O'Rourke viele Jahre zuvor, Wilco als arrivierte und selbstbewusste Band für ihren Input zu öffnen. Wo ihr das gelingt, wird "Cousin" großartige Kunst, wo es weniger gelingt ("Cousin", "Evicted", "Sunlight Ends"), ist das hier "nur" ein gutes Wilco-Album. Am besten klappt die Zusammenarbeit bei "Infinite Surprise", bei "A Bowl And A Pudding" und "Pittsburgh", wo die Orgeln verzerrt schreien und sägen, dass es eine Freude ist, und man den Eindruck bekommt, dass die Band ihre Seele sogar noch besser präsentieren kann, insbesondere ein glänzend aufgelegter Jeff Tweedy.

Das akustisch-ruppige "Soldier Child" ist ein toller, düsterer Pop-Song über Drogenmissbrauch in der Familie, der statt einem schönen, aber unpassenden Gitarrensolo zum Schluss noch einmal Hochschalten vertragen hätte können, um zu einem der besten Wilco-Songs überhaupt zu werden. Der Closer "Meant To Be" scheitert am Aufbau einer richtigen Struktur und gleitet aufgeregt, aber nicht immer belangvoll, vorbei. In Wilco stecken noch viele tolle Alben – Le Bon hätte ihnen aber fast einen Meilenstein herausgekitzelt. Hoffentlich versuchen sie es erneut mit ihr.

Trackliste

  1. 1. Infinite Surprise
  2. 2. Ten Dead
  3. 3. Levee
  4. 4. Evicted
  5. 5. Sunlight Ends
  6. 6. A Bowl And A Pudding
  7. 7. Cousin
  8. 8. Pittsburgh
  9. 9. Soldier Child
  10. 10. Meant To Be

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