laut.de-Kritik

Rockiger als die Polizei erlaubt.

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Zurück zu den Wurzeln ohne Rückschritt ins Gestrige? Dazu muss man als Künstler zur kreativen Weltelite gehören. Und selbst auf diesem schmalen Grat gelingt so etwas den Wenigsten. Für den Ex-Police-Frontmann ist diese Herausforderung anscheinend kein Problem. Nach etlichen Ausflügen gen Musical, Alte Musik oder symphonische Klassik geht es auf "57th & 9th" so schnörkellos zu wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Sting rockt und schmachtet zehn Songs lang frischer als die Polizei erlaubt.

Schon das Ensemble ist bemerkenswert. Es kam Sting darauf an, Leute um sich zu haben, die ihn aus der Komfortzone herausholen. Keine Ja-Sager und Abnicker bitte! Die Songs entstanden in allzu lange vermisster Spontaneität. "Hey Leute, lasst uns miteinander Musik-Pingpong spielen!" Für Sting, der bei Aufnahmen normalerweise höchst präpariert mit ausgearbeiteten Plänen erscheint, ist dieser Jamsession-Ansatz auf gegenseitiger Augenhöhe fruchtbar. Besonders die öde Routine der saftlosen "Brand New Day" und "Sacred Love" weicht verloren geglaubter, Funken sprühender Leidenschaft. Unter den mehr als 20 Mitwirkenden kristallisieren sich ein paar Namen heraus.

Dominic Miller ist seit "Soul Cages" ein oftmaliger Weggefährte und Co-Autor von "Shape Of My Heart". Vinnie Colaiuta war bereits Ende der 70er Teil von Frank Zappas Band, spielte unter anderem "Joe's Garage" mit ein und ist seit den frühen 80ern an einem halben Dutzend Joni Mitchel-Platten beteiligt. Josh Freese spielte in Bands wie Nine Inch Nails, Guns'n'Roses, Devo sowie A Perfect Circle. Lyle Workman fungierte schon als Leadgitarrist für Todd Rundgren oder Beck. Last but not least trat Produzent Martin Kierszenbaum für Mylene Farmer, Feist oder Lady Gaga in Aktion.

Gemeinsam erschaffen sie intensive Momente an der Ecke 57th und 9th inmitten von Manhattans Hell's Kitchen. Eine der Stärken ist die Fülle verschiedener, ineinanderfließender Gitarrensounds. Die Palette reicht von hintergründiger Ästhetik bis zur fuzzy Hardrockvariante in "Petrol Head". Als weiteres Highlight entpuppt sich Rob Mathes Piano. Sehr berührend etwa, wie die Tasten - sanft aber treibend angeschlagen - den Kurs von "If You Can't Love Me" vorgeben.

So schön die bunten Rocknummern auch geraten. Absolute klangliche Anziehungskraft entfaltet "57th & 9th" in den besinnlichen Augenblicken. Hier stechen besonders zwei Stücke deutlich heraus. "Heading South On the Great North Road" bezaubert mit hypnotischer Melodie im spartanischen Kammer-Folk-Gewand. Absoluter Gefühlshöhepunkt ist hernach der Ohrenmagnet "Inshallah". Ein Lied zu gleichen Teilen gewoben aus Wüstensand, Hoffnung und Tränen.

Doch wer Sting kennt, weiß: Die Noten sind erst die halbe Miete. Jedes musikalische Juwel verlangt nach einem gleichwertigen Text ohne Autopilot. Hierin bestand die größte Herausforderung für den Engländer. So nahm er täglich jedes instrumentale Backförmchen nach Hause, um zu ergründen, welche Themen, Stories und Charaktere sich in den Sounds verstecken. "Ich trickste mich und die eigene Bequemlichkeit bewusst aus, um die Muse anzustacheln. Dafür schloss ich mich aus dem Appartement aus und schrieb auf der eiskalten Terrasse mit einer Tasse Kaffee. Zurück ins warme dürfte ich erst, wenn ein Text fertig war."

Die so verschroben entstandenen Lyrics können sich sehen lassen. Zeitkritisches zum Klimawandel oder ein Solidarität einfordernder Blick auf die Flüchtlingskrise finden ebenso ihr Plätzchen, wie dezent Autobiografisches, große Liebe in mörderischen Zeiten sowie Reflexionen über Verlust und Tod.

"Rock Stars never die. They only fade away./ We create the gods we kill and give them immortality." Mit "Fifty Thousand" gelingt Sting ein philosophisches Kleinod, dass er gleichzeitig als Hommage an seine kürzlich verstorbenen Kollegen wie Lemmy, Bowie, Prince und seinen alten Freund Alan Rickman konzipiert. Einerseits reflektiert der Song introspektiv das Leben als popkulturelles Idol. "Das ist alles großer Spaß, aber reine Illusion. Falls man das als Rockstar versteht, überlebt man es. Falls nicht, wird man Opfer dieses Irrtums."

Daneben gibt er den direkten Bezug zu den Showbiz-Todesfällen der letzten Monate. "Wir alle sterben. Jedes große Lichtschein gebiert entsprechend dunkle Schatten. Weisheit wird man nur erfahren, wenn man beides navigieren kann. Man muss sich sagen: Hey, deine Tage sind gezählt, also mach was draus." Mit "57th & 9th" ist ihm letzteres definitiv gelungen.

Trackliste

  1. 1. I Can't Stop Thinking About You
  2. 2. Fifty Thousand
  3. 3. Down Down Down
  4. 4. One fine Day
  5. 5. The Pretty Young Soldier
  6. 6. Petrol Head
  7. 7. Heading South On The Great North Road
  8. 8. If You Can't Love Me
  9. 9. Inshallah
  10. 10. The Empty Chair

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11 Kommentare mit 2 Antworten

  • Vor 7 Jahren

    I Can't Stop Thinking About You gefällt mir ganz gut, aufs erste Hören ist mir das Album im ganzen noch etwas "zu harmonisch", mal schauen wie sich das entwickelt.

  • Vor 7 Jahren

    von stings solosachen kenn ich eigentlich nur wenig, hab da eher mal aufgrund seiner polizei vergangenheit reingehört.
    beim opener " i can't stop thinking about you" war ich dann auch gleich schwer begeistert, klingt halt schön nach alten police.da hat er wirklich alles richtig gemacht und für mich auch einer der songs des jahres 2016.
    der rest ist dann leider hier rein da raus, ausgenommen "inshalla", welches wirklich so grottig ist, dass man nicht glauben mag, dass sting mal mitverantwortlich war für ein "message in a bottle", "roxanne","so lonely" oder wie diese göttergaben sonst noch so alle heißen.

    • Vor 7 Jahren

      Stings Solo-Sachen und The Police waren bisher zwei ziemlich unterschiedliche Welten. Mich persönlich hat er Anfang bis Mitte der 90er die besten Stücke gemacht. Aus meiner Sicht bestes (und zum Teil sträflich unterschätztes) Album ist "Mercury Falling". Vielleicht kein Zufall, dass Johnny Cash genau von diesem Album einen Song gecovert hat...

    • Vor 7 Jahren

      jo,da hast schon recht, kann man nicht wirklich vergleichen.
      album hätte mich vll. auch nicht weiter interessiert, wenn ich halt nicht im radio " i can't stop ..." gehört hätte, welches schon nach alten glanztaten klingt und dementsprechende erwartungen geschürt hat.
      war dann aber leider nicht.

  • Vor 7 Jahren

    Der gute Dominic Miller ist sogar schon seit "Nothing like the sun" dabei - weil Sting seitdem wieder Bass spielt und einen Gitarristen brauchte.
    Interessant übrigens, wie unterschiedlich die Urteile ausfallen. Beim deutschen Rolling Stone gibt es nur 3 Sterne und Inshallah wird zum Ausfall deklariert.

  • Vor 7 Jahren

    Bin auch ein bisschen überrascht dass der Anwalt fast euphorisch hier auftischt. Bin auch klar bei den 3/5 da die meisten Stücke tatsächlich an einem vorbeigehen. So hat halt jeder seine eigene Wahrnehmung. Das Album wird bei mir wohl recht bald hinten in der Playlist landen.

  • Vor 7 Jahren

    Hat also Sting mal das Fenster aufgemacht um mal wieder frischen Wind reinzulassen, und wir atmen erstmal kräftig durch. Danke! Das bemerkenswerte an Sting ist das er immer noch die kräftige, faszinierenden Stimme hat wie zu Anfang seiner Karriere. Aber es fehlt mir hier das gewisse Extra um hier mehr als 3/5 zu geben.

  • Vor 7 Jahren

    Irgendwie kein Track dabei, der einen wirklich mitreißt. Die zweite Hälfte des Albums mMn etwas stärker als die Erste.
    Mehr als 3/5 kommen da leider nicht rum. Aber besser zu ertragen als Stings letztes Album ist es allemal und eine nette Stimme hat der Kerl nun mal.