laut.de-Kritik

Philosophie, Coolness und Synthesizer.

Review von

Um ein Folk-Songwriter-Album so durch und durch mit Synthie-Programming zu produzieren, wie Lloyd Cole es auf "Guesswork" tut, braucht es Chuzpe, und außerdem eine prägnante Stimme, die all die künstlichen Beats, Loops und Samples mit Sinn und Inhalt aufwertet.

Gute Vocals sagte man dem erst nach New York, nun nach Massachusetts ausgewanderten Engländer schon früher nach. Bisher kannte man ihn aber auch als Bandmitglied von Gruppen wie The Commotions, The Negatives und The Small Ensemble. Cole ging schon mit Orchester ins Studio und beauftragte Joan As Police Woman, Instrumente für seine letzten Platten zu spielen. Seit "Standards" 2013 bewegte sich der einstmals dynamische soulful Rocker in Richtung Elektronik mit Ambient- und Folk-Einschlägen.

Wo 80er-Synthie-Soul-Ikone Howard Jones 2019 zwar technisch hochkarätige Spielereien in "Transform" aufbietet, aber keine eingängigen Songs, konzentriert sich Lloyd Cole auf poppige Melodien und gießt sie zugleich in ein Klangkorsett, das von Howard Jones stammen könnte. Bewundernswert an Cole sind dabei die fokussierten Song-Einstiege."In der Luft lag der intensive Duft von Pferden, als ich vom Berg herunter kam", so startet "When I Came Down From The Mountain".

Lloyds Stimme raunt im Erzählmodus, dazu machen die Synthesizer Pling-Pling, bis sie am Ende der ersten Strophe ein Klavier nachahmen. "My wife was very, very beautiful / Gone", heißt es weiter. Ob "gone" nun bedeutet, dass die Ehefrau des Erzählers gestorben ist, ihn verlassen hat oder einfach ihre Schönheit verblasst ist, bleibt "Guesswork", ein Ratespiel, wie alle der Texte spätestens im zweiten Satz.

Zu Beginn von "The Afterlife" suggerieren die glockenhellen Synthie-Schläge James Blake-artige Tristesse, doch die bricht der absurd ironische Text. Lloyd Cole stellt sich das Leben nach dem Tod vor, im Safari-Look mit einem kleinen Bier in einem bernsteinfarbenen Zimmer frei von Einsamkeit und schlechten Stimmungen. Die Lyrics basieren auf Spielerei mit den Worten "afterlife", "afternoon", "aftershow", "aftersun" und "aftershock".

Einen deutlichen Einstieg markieren auch die trockenen Beats und künstlichen Streicher in "Night Sweats", garniert mit den Worten "So I'm a complicated motherfucker, you knew that / before you added to my complication ". Die Synthies in "Moments And Whatnot" perlen so schön wie im Klassiker "I'll Find My Way Home" von Jon & Vangelis. Zumindest dieser Song des Cole-Albums hätte in den 80er Jahren reelle Chancen darauf gehabt, sich zum Airplay-Hit zu entwickeln.

Ein bisschen Crowded House-Songwriting, eine Spur von Midge Ure-Pathos, etwas Tears For Fears-Harmonien und sehr viel The Stranglers-Ästhetik spiegeln sich gewollt oder zufällig in den Kompositionen, dem Vokalvortrag und der kristallklaren Abmischung.

Die überwiegend langen Stücke kippen teils, je nach Geschmack, wohl zu stark, in Richtung Ballade. Alle in einer Reihe gehört, wirken sie schwer wie Steine. Allerdings hat jedes einzelne seinen Reiz. Der liegt, wie bei "Remains" in der Klassik-artigen Gestaltung, oder, wie auf "Violins", in der meisterlich ausgefeilten Dramaturgie von Sieben-Minuten-Song-Format und 80er-Nostalgie.

Traumwandlerisch sicher transportiert Lloyd Cole seine besondere Haltung, seine philosophisch verzweigten Gedankenführung und auch Coolness. So entsteht insgesamt ein für ihn typisches Album, das unterhält und dabei relativ viele Winkel und Nischen öffnet. Am besten hört man diese Art Musik wohl bei einer Zugfahrt oder in Ruhe am Wochenende. Simpler Pop ist das gewiss nicht, obgleich Cole andererseits Musik nicht neu erfindet. Dass solcher Hinhör-Indie-Rock noch gemacht wird, beruhigt ungemein und hält das Niveau hoch. Somit bietet "Guesswork" zwar keine leichte Kost, aber willkommene Abwechslung.

Trackliste

  1. 1. The Over Under
  2. 2. Night Sweats
  3. 3. Violins
  4. 4. Remains
  5. 5. The Afterlife
  6. 6. Moments And Whatnot
  7. 7. When I Came Down From The Mountain
  8. 8. The Loudness Wars

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1 Kommentar

  • Vor 4 Jahren

    oh, wow! ich bin vor einigen Jahren per Zufall auf "Mainstream" gestoßen und hab's seitdem immer mal wieder abgespielt. Lloyd Cole selbst gehörte für mich zu den 80ern, ohne Verbindung zur Gegenwart. Irgendwie überrascht es, dass er noch noch immer aktiv ist. Schöne Überraschung jedenfalls...