laut.de-Kritik

Ein neuer Star am Reggae-Himmel.

Review von

Wer heute, wie Lila Iké, im Reggae groß herauskommen will, sollte tunlichst keinen Reggae machen. Sie präsentiert einen Kompromiss, "The ExPerience EP". In ihrer Heimat Jamaika genießen Consciousness-Lyrics gepaart mit echten Instrumenten gerade den Stellenwert eines Mauerblümchens. Was boomt, ist Dancehall, der wie Dancepop klingt und die Stimme mit maximal viel Autotune vergewaltigt, der schnieke Autos thematisiert, die Vagina ("pussy") und das männliche Pendant ("dick"). Seit ein paar Monaten flutet auch Trap die entsprechenden Mixtapes, wofür dünne Stimmchen wie Squash und Shane-O herhalten. Mit alledem hat Lila nichts am Hut.

Sie singt ergreifend, nuancenreich und ausdrucksstark, trifft Töne und baut als Stilmittel hier und da gekonnt ein Vibrato ein. Live wird sie so zur Bomben-Entertainerin, aber diese EP ist nun einmal nicht live. Im Grunde ein Fehler, aber das wäre auch zu revolutionär. Innovationen gibt es aber. Als die Szene um 2010 herum in erbärmlicher Langeweile dahin sedierte, platzte Protoje, ihr heutiger Mentor mitten rein. Hip Hop-Fan, Sohn einer Rocksteady-Sängerin und Cousin des ziemlich 'anders' mixenden Don Corleone, kredenzte er einen Hip Hop-Reggae-Fusion-Sound mit Disco-Soul-Ausflügen. An seiner Seite Winta James, ein weiterer Fusionierer, der Nas und Damian Marley zur Verknüpfung von Rap und Reggae verhalf, eine Koryphäe so manch größerer Produktion. Protoje und Winta bringen hier ihre Handschriften ein.

Neuer Sound lautete anfangs das Stichwort für Lila, aber hier besitzt nichts den heißen Charme ihrer ersten Singles. Zumindest in "Second Chance", bereits seit 2018 auf dem Markt, spürt man etwas vom Mut zur Reibung. Da legt das Nachwuchstalent etwas mit Ecken und Kanten vor, zitiert gekonnt den Rub-a-Dub von circa 1980.

Auf unablässig nachschiebenden Beats brilliert sie in "I Spy" mit Schwung, wirkungsvoll durch den Kontrast zwischen Vehemenz in den rollenden Grooves und Zartheit in ihrer Stimme. Es war zuerst das Instrumental da und inspirierte die Entertainerin zum Song. Über das Bubble-Beats-Arrangement lässt sich dennoch streiten. Schneller wäre besser, dubbiger wäre echter. Da ginge mehr. Okay, nun lautet die Überschrift ja "The ExPerience EP", somit lotet die EP Erfahrungsfelder aus und überspringt, was es schon gab.

Oder stürzt sich auf das, was selten und schon sehr lange nicht praktiziert wurde: Was auf "Thy Will" mit tiefem Resonanz-Brummen und dank Sly & Robbie abstrakt-dubbig anmutet, das performte so ähnlich, in dieser Stimmlage, mal Sister Aisha in den Achtzigern unter Regie des Briten Mad Professor und blieb damit singulär.

Den roten Faden durch die heterogene Liedersammlung Lila Ikés zieht ihre Stimme. Achtet man ganz auf die Vocals, lässt sich das ungeheure Potential erspüren. Als wirkliche Perlen strahlen dann "Forget Me" und "Solitude". In "Forget Me" regiert erst mal ein schneidend eingesetzter Snare Drum-Computer, die anderen Instrumente bleiben bis zum Chorus stumm. Lila trägt die Melodie ganz alleine, mit ihrem expressiven Timbre.

Selbst Autorin ihrer Texte, gibt sie erkennbar ihrem Mitteilungsdrang nach. Sie durchwandert ein weit gespanntes Ausdrucks-Repertoire, das sich an dem Lied gut aufzeigen lässt. Flehentlich appelliert sie an einen Liebhaber, ihr mehr Aufmerksamkeit und Zeit zu widmen oder sich zu entscheiden, sie komplett zu vergessen. Dass er manchmal gar nicht antwortet, regt sie am meisten auf – sinnfällig gewähltes Thema unserer Zeit. Wenn sie Worte wie "fight" intoniert, hören sie sich wie mehrere Wörter an: "Fa a a ai ai ai aha aigh iet". So sehr zerlegt sie sie mit ihren Akkord-Bögen und ihrem Vibrato.

Dancehall-Toasting glückt ihr ebenfalls ohne Korrektur-Software bestens. Es gibt aber auch eine andere Seite, bei der die Newcomerin durch die seichten Zonen des Dance-R'n'B stapft. Denn wie groß der potentielle Markt nun für einen Roots-Act wie sie ist, möchte erstmals seit Ewigkeiten der Sony-Konzern wissen. Mit One Drop-Offbeats fällt dieser sonst nicht auf, Koffee (beim Sublabel Columbia) hat man schon in die Elektronik-Ecke Major Lazers geschoben. Lila Iké surft nun mit "I Spy" auf flottem Dance-Folktronic-R'n'B - Futter fürs Playlists-mit-Ed Sheeran-drin-Publikum, so wie wohl auch "Stars Align", eine Kreuzung aus Space-Dub, kühler Elektronik und unverfänglichem R'n'B der Sorte Thundercat. Also etwas für die Bar kurz vorm Aufstuhlen.

Immerhin lässt sich Reggae so an die Eine-Million-Streams-Marke heran schieben. Wenn es der großen Erzählung dient, sei es so - Bob verwendete auch Rockmusik-Bausteine in "Stir It Up". Purismus ist eben nichts für den Weltmarkt. Egal, wie man manche Beats hier findet: Die EP fällt auf. Das ist das Wichtigste. Texte, Melodien, Vibes, Riffs und Stimme zeugen von unerschöpflicher Substanz für eine große Karriere.

Trackliste

  1. 1. Where I'm Coming From
  2. 2. Solitude
  3. 3. I Spy
  4. 4. Stars Align
  5. 5. Forget Me
  6. 6. Second Chance
  7. 7. Thy Will

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1 Kommentar

  • Vor 3 Jahren

    Schon wahr. Reggae wird heute praktisch ausschließlich für den europäischen und nordamerikanischen Markt produziert. Für Jamaikaner ist das Phänomen ähnlich seltsam wie es das für uns wäre, wenn Millionen von Asiaten plötzlich Rex Gildo für relevant hielten.