laut.de-Kritik

Rakete oder Rohrkrepierer? Beam me up, Jim!

Review von

Jim Matheos ist ein stiller Zeitgenosse, der dennoch klare Kante zeigt. Seine Wortbeiträge kommen auf den Punkt ("Die Bibel ist brutal und inhuman") und musikalisch treffen die gerne mit dem Etikett Prog versehenen Kompositionen meist direkt ins Schwarze. Die Alben seiner Stammband Fates Warning schwanken bei Titeln wie "A Pleasant Shade Of Gray" oder "Darkness In A Different Light" zwischen Melancholie und Dystopie.

Das kann man als mentalen Wankelmut deuten oder auch als feingeistige Besinnung eines Künstlers. Fest steht: Es grenzt an ein kleines Wunder, dass ein neues Fates Warning Album erscheint, vier Jahre nach "Theories Of Flight" und eineinhalb Jahre nach der Kollaboration mit Gründungsmitglied und Sanges-Sirene John Arch ("Winter Ethereal". Denn Matheos war mürbe und müde und konnte sich erst nach einem Appell von Sänger Ray Alder aufraffen, neue Musik zu kreieren. Alder selbst, dessen Wahlheimat der Liebe bedingt Spanien lautet, hat erst vor einem Jahr mit "What The Water Wants" sein erstes Soloalbum veröffentlicht und steckt in einem Schaffensrausch.

Auch der dritte Kreativ-Partner im Bunde, Bassist Joey Vera, legt dieser Tage mit seiner Stammformation Armored Saint einen vorzüglichen Longplayer vor. Dem Tritt in den Hintern seiner Bandkollegen folgt nun mit "Long Day Good Night" ein überbordendes Album, das Längste in der Karriere. Mit Blick auf den Titel der Platte und einzelne Songs umweht die Kollektion ein dezenter Hauch des Abschieds. Da die emotionale Klaviatur bei Fates Warning immer rauf und runter bespielt wird, lassen wir die düsteren Vorzeichen außen vor und widmen uns dem Hier und Jetzt mit 13 Songs.

Die neue Scheibe muss eine geraume Zeit auf das Ohr einwirken. Die stilistisch sehr unterschiedlich angelegte Platte braucht einfach Zeit. Ob das jetzt ein Flickenteppich oder ein roter Faden vorhanden ist, muss jeder für sich entscheiden. Zudem ist es bei jedem neuen Release eher ein Bürde, dass die Amis bereits Meilensteine wie "Awaken The Guardian" oder "Perfect Symmetry" auf dem Kerbholz haben. Die Frage Rakete oder Rohrkrepierer stellt sich halt immer wieder aufs Neue. Aber lassen wir die Musik sprechen: Beam me up, Jim!

Mit "Scars" und "Shuttered World" hat das Quintett eine nah am klassischen Metal gebaute Rechts/links-Watschn am Start. Hier dreht Bobby Jarzombek mit seinem technisch versierten Spiel am Schlagwerk dem Gros der Konkurrenz eine lange Nase.

In ferne Sphären entführt der ätherisch-atmosphärische Beginn von "The Way Home". Flageolett-Töne, perlende Akkorde und geschmackvolle Voicings legen das Fundament für einen schmachtenden Sänger. Dieser gefühlvollen, akustischen ersten Hälfte folgt umgehend der zweite Streich in Form eines harten, elektrifizierten Parts. Alder passt sich perfekt der Umgebung an und zaubert nach dem nicht weniger berührenden Anfang eine Hammer-Hook aus seinen strapazierfähigen Stimmbändern. Die Krönung liefert der Sänger mit der tiefen Backround-Stimme im zweiten Durchlauf des Refrains.

An dem Output "FWX" scheiden sich die Geister. Die Band zollt den elektronischen Ausflügen dieses Exponats mit "When Snow Falls" Tribut. Für Puristen Pfui, für die open minded-Fraktion Hui bildet dieses Stück eine Atempause, bevor "Liar" und "Glass Houses" metallische Furchen in die Großhirnrinde ziehen.

Mit "Under The Sun" gelingt eine grandiose Ballade jenseits schnöder Popanz-Popeleien. Vergleichbar mit der Grandezza der Dickinson-Großtat "Navigate The Seas Of The Sun" entführt das Streichquartett den Hörer endgültig ins Land der Träume. Fun fact: die Musik für diese Nummer war ursprünglich nicht als eigenständiger Song gedacht, sondern als Part des Longtracks "The Longest Shadow Of The Day". Dieser Track ist trotz seiner elf Minuten ein wohl-komponiertes Ganzes, das nach einem jazzig-akustischen Beginn über einen artifiziell-elektrifizierten Mittelteil bis hin zu einem schwelgerischen Schlussteil führt.

Die Gitarrenarbeit ist wie immer unerreicht und es treibt jedem Hobby-Gittarrero die Tränen in die Augen, was sich Matheos aus seinen schmächtigen Armen herausschwitzt. Komplementär-Riffing im Stereo-Panorama, brachiale Riffs und cleane Harmonien sind gepaart mit der Erfahrung aus vierzig Jahren Musiker-Dasein. Dazu gesellen sich auf Albumdistanz einige Akustik-Gitarren wie das dezente Southern Rock-Vibes versprühenden Anfangs-Riff zu "Begin Again". Das bei den vereinzelten Leads Tourgitarrist Michael Abdow anstelle des Gründungsmitglieds Frank Aresti die sechs Saiten quält, tut der Qualität keinen Abbruch.

Trackliste

  1. 1. The Destination Onward
  2. 2. Shuttered World
  3. 3. Alone We Walk
  4. 4. Now Comes The Rain
  5. 5. The Way Home
  6. 6. Under The Sun
  7. 7. Scars
  8. 8. Begin Again
  9. 9. When Snow Falls
  10. 10. Liar
  11. 11. Glass Houses
  12. 12. The Longest Shadow Of The Day
  13. 13. The Last Song

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3 Kommentare

  • Vor 3 Jahren

    Handwerklich (natürlich) super gemacht mit einigen Schwächen, aber nur im Vergleich zum eigenen Backkatalog. Hier und da fehlt es an Momenten, die man "immer wieder hören möchte". Gutes Album, von dem ich persönlich eigentlich mehr erwartet habe. Macht Spaß,

  • Vor 3 Jahren

    Nach langem Einhören ist das Album eines meiner FW Favoriten geworden. Wie in der Rezension angemerkt findet sich so einiges Interessantes, darunter: Jazzige, elektronische, harte aber auch melodisch eingängige bis poppige Klänge. Gefällt mir wirklich sehr sehr gut und bleibt sicher lange frisch. Von Rohrkrepierer oder düsteren Vorzeichen kann ich allerdings zum Glück nichts hören.
    Mich hätte noch interessiert, was der Rezensent zu dem eingängigen "Now Comes The Rain" denkt. Dem Track wäre Ende der 90er sicherlich noch Radiotauglichkeit bescheinigt worden. Hervorheben würde ich auch gerne das exzellente und geschmackvolle Basssolo zu Beginn meiner Lieblingsnummer "The Longest Shadow of the Day".