18. März 2021

"Rassismus ist die eigentliche Pandemie"

Interview geführt von

Mit seinem neuen Album will Adrian Younge vor allem eines: Wissen vermitteln. Im Interview spricht er daher über die dringende Notwendigkeit einer Schwarzen Geschichtsschreibung - und wie wichtig Musik dafür ist.

Ich hielt mich vor "The American Negro" bereits für einen ziemlich aufgeklärten Menschen. Ich dachte, ich sei mir der Rassismus-Problematik und meiner eigenen Privilegien bewusst. Wie weitreichend und unterbewusst meine eigenen Privilegien allerdings sind und wie wenig ich doch eigentlich weiß, habe ich erst durch das Album begriffen. Als ich sie zum erstem Mal gehört habe, war ich überzeugt, dass diese Platte nicht für mich gedacht ist. Ich dachte: Das ist von einem Schwarzen Musiker für Schwarze Menschen. Eine Art Safe Space, in dem man sich die Wunden lecken kann, sozusagen.

Wie falsch ich damit lag, merkte ich erst, als ich mit Anderen über das Album sprach - und mit Adrian Younge selbst. Ihm habe ich das nämlich ebenfalls erzählt. Der erste Teil unseres Gesprächs ist leider unaufgenommen in die unendlichen Weiten des Äthers verhallt - Danke, Zoom! Deswegen beginnt diese Niederschrift ohne Small Talk-Einleitung und ohne Adrians Ausführung zu Hitlers Rassentheorie, die er sich von amerikanischen Imperialisten abgeschaut hat.

"Ich wollte immer ein Album machen, dass so wichtig ist wie "What's Going On"

Dein Album hat mich zum Nachdenken gebracht und dafür gesorgt, dass ich mit anderen darüber spreche. Und genau das soll ja gute Musik tun - einen Dialog starten und neue Blickwinkel auftun. Ich denke, das spricht dafür, dass du hier kraftvolle Musik geschaffen hast.

Wow. Du bist tatsächlich die erste, die mir das sagt. Ich habe mit vielen Menschen über das Album und unterschiedliche Aspekte gesprochen und viel gutes Feedback bekommen. Aber deine Herangehensweise und Offenheit bedeutet mir sehr viel. Danke.

Mittlerweile gefällt mir das Album sehr. Der Vibe, der Sound, der den Adrian Younge Stempel trägt. Aber es ist noch so viel mehr als nur gute Musik.

Eben! Ich habe jedes Instrument selbst eingespielt, außer das Orchester. Die Stücke dafür habe ich nachträglich noch geschrieben. Ich habe wirklich alles gegeben und versucht, einen Klassiker zu kreieren. Einer meiner liebsten Künstler ist Marvin Gaye. Und mein liebstes Marvin Gaye Album ist "What's Going On". Und das gar nicht mal unbedingt wegen der Musik, sondern wegen der Botschaft, die hinter der Musik steckt. Der Wert, den diese Botschaft der Musik hinzufügt, macht dieses Album so zeitlos. Etwas das mehr bedeutet, als jede andere Platte, die er in seinem Repertoire hat. Und ich liebe sein Repertoire. Ich hab immer gesagt, dass ich ein Album machen will, das so wichtig ist, wie "What's Going On". Und ich hoffe, dass sich in ein paar Jahren rausstellt, dass ich das mit "The American Negro" geschafft habe.

Was macht das Album und die Ära, in der es entstanden ist so besonders für dich?

Die Ära ist auf vielen Ebenen eine Goldene Ära des Sounds und eine großartige Zeit für den Soul. Aber nicht nur für Soul, auch für Psychedelic Rock, Jazz, sogar Country, da ist so viel gute Musik. Tatsächlich ist 1968-73 meine liebste Musikära. Schau dir an, was in der Welt passiert ist: Wir hatten den Vietnam-Krieg, eine Wirtschaftskrise, große Bürgerrechtsbewegungen, die um die Welt gingen. Wenn schändliche Dinge in der Welt passieren und die Menschen sich unterdrückt fühlen, ist die Kunst, die sich aus all diesen negativen Emotionen herauskristallisiert, positiv. Ich denke, dass die schwierigen Umstände der Grund sind, warum wir zu dieser Zeit so viel großartige Kunst haben.

Mir persönlich gefällt dieser Klang aber einfach sehr gut. Wenn ich mich über Musik unterhalte, sage ich immer, neue Musik ist für mich alte Musik, die ich noch nicht gehört habe. Ich habe einen Plattenladen und ich liebe die ganzen alten Platten. [Schwenkt die Kamera] Hier in meinem Studio stehen auch nur echte Geräte. Alles hier drinnen ist aus den 30ern bis 70ern. Hier wird nichts mit dem Computer aufgenommen. Das sind echte Instrumente, die du da hörst, echte Violinen. Das spielt einfach in einer anderen Liga. Und das hört man.

Ich habe auch eine Frage für dich. An welchem Punkt des Albums hast du realisiert, dass das Album doch für dich ist?

Der Punkt kam für mich nach den Gesprächen, die ich geführt habe. Jemand brachte den Einwand: "Vielleicht will das Album ja genau das. Dass du dich ausgegrenzt fühlst und in die Position gebracht wirst, in der sich Minderheiten wiederfinden." Als ich das Album dann nochmal gehört habe, machte es plötzlich Sinn.

Identifizierst du dich damit, als weibliche Journalistin marginalisiert zu werden? Also, wenn du ein Mann wärst, würdest du dann deine Chance auf eine bessere Position anders bewerten?

Ich glaube ich würde anders gehört werden, ja.

Wenn ich Sexist wäre, würde ich sagen: "Du hast doch keine Ahnung von dem ganzen Equipment hier, von den ganzen Gitarren und so." Diese Aussagen würdest du von einem Sexisten erwarten. Ich möchte nichts dergleichen zu dir sagen, bitte nicht falsch verstehen. Was ich sagen will: Das Album spricht zu Menschen, die marginalisiert werden. Und das ist nicht cool. Aber gleichzeitig sage ich auf dem Album "Du kannst das Leben nicht mit einer toten Seele leben". Du musst glücklich sein. Es gibt so viele schöne Dinge im Leben, über die wir glücklich sein müssen. Du kannst dich nicht hinstellen und sagen "Oh Gott, es gibt Rassismus. Das Leben ist vorbei." Denn: Ich habe wunderschöne Kinder und ein tolles Leben und ich kann jeden einzelnen Tag Musik machen. Ich kann jeden Tag atmen, wo doch so viele Menschen an Covid gestorben sind. Ich kann gehen und habe zwei Füße. Es gibt so viele Dinge, über die wir glücklich sein müssen. Also sei es!

Und das machst du ganz intuitv. Auch wenn du die Synergien zwischen unseren beiden Marginalisierungen realisiert hast, lebst du dein Leben mit einem Lächeln auf dem Gesicht.

Über die Synergien habe ich auch nachgedacht. Du kannst einerseits marginalisiert sein, aber gleichzeitig marginalisieren. Eine weiße Frau, die unterdrückt, oder ein schwarzer Mann, der dasselbe tut.

Hast du gewusst, wie sehr weiße Frauen der Abolitionsbewegung geholfen haben? Welche Empathie weiße Frauen für Schwarze hatten und wie sehr diese geholfen hat, das Blatt zu wenden?

Rassismus leitet sich aus der Sklaverei ab. Bevor es die Sklaverei gab, gab es natürlich Gruppen, die sich aus bestimmten Gründen nicht gemocht haben, aber es war mehr eine Art Klassismus, zwischen Religionen und Ethnien untereinander beispielsweise. Aber es gab keine harte Grenze an der Rasse. Es gab keine Gesetze, die festschrieben, dass diese eine Rasse nicht so viel wert ist wie die andere. Diese Idee wurde durch rassistische, kapitalistische weiße Männer propagiert. Du musst da differenzieren, den Unterschied verstehen: Natürlich gab es auch weiße Frauen, die rassistisch waren, die die Sklaverei propagierten und die Institutionen befürworteten, die dabei halfen, Menschen mit einem dunkleren Teint zu unterdrücken. Aber Weiße Frauen suchen, genau wie die Schwarzen, immer noch nach ihrer Stimme, danach gehört zu werden und eine Plattform zu finden. Allerdings gibt es hier noch das Phänomen der doppelten Unterdrückung, das Schwarze Frauen betrifft. Sie müssen sich einerseits mit Sexismus rumschlagen und dann auch noch mit dem Fakt, dass sie schwarz sind. Diese beiden Punkte zusammen bringen Schwarze Frauen in eine Position, in der sie nicht über die gleichen ökonomischen Vorteile verfügen, die andere haben.

Da sind all diese Hindernisse, die die Menschen überwinden und hinter sich lassen müssen, damit sie Gleichberechtigung erreichen. Aber gleichzeitig heißt das nicht, dass du keine Wahl hast - allgemein gesprochen. Nur weil du im Ghetto aufgewachsen bist, heißt das nicht, dass du Verbrechen ausüben musst. Du hast da eine Wahl. Aber, und das müssen wir verstehen: Wenn du im Ghetto aufgewachsen bist, gibt es fast unüberwindbare Hürden, die es dir unheimlich viel schwerer machen, aus dem Ghetto raus zu kommen. In Amerika und eigentlich in der ganzen Welt sind Minderheiten auf einem viel höheren Level von Covid betroffen - wegen all dieser Ungleichheiten, mit denen wir uns beschäftigen müssen.

Das Album ist also eine Konversation. Und ebenso soll es eine bildende Konversation sein, in der Fakten präsentiert und kontextualisiert werden und es an dir liegt, auf der Grundlage deiner Empfindungen und Erlebnisse eine Schlussfolgerung zu treffen.

Ist das auch der Grund, warum du den Blick eher in die Vergangenheit richtest?

Ja. Die Menschen realisieren nicht, dass alles zyklisch ist. Es passiert nichts Neues. Tatsächlich ist das, was zur Zeit geschieht, sogar besser als es mal war. Aber du musst wissen, was damals passiert ist, um zu verstehen, was jetzt passiert. Darum spreche ich über James Mincey Jr., Margaret Garner und George Stinney Jr. Diese drei lebten und starben unter sehr morbiden Umständen. Und viel Ähnliches passiert heute auch noch. Es gibt immer noch Sklaverei in der Sahara. Es sterben immer noch Menschen den Erstickungstod in Polizeigewahrsam, wie James Mincey Jr. Und wenn wir zur Todesstrafe kommen - rate mal, wer wahrscheinlicher die Todesstrafe bekommt, als alle anderen? Genau, Schwarze Männer. Und das liegt nicht daran, dass sich die Verbrechen von Weißen und Schwarzen unterscheiden, sondern die Gerichtsurteile. Gerichtsurteile sind willkürlich - sie basieren darauf, was dieser eine Richter zu diesem Zeitpunkt denkt und fühlt.

All diese Dinge passieren gerade wieder. Aber die meisten Menschen lesen keine Bücher. Sie lesen die Geschichte nicht nach und haben deshalb keine Ahnung, was vor sich geht. Das Album und seine Erzählungen geben also ein Fundament, auf der zielgerichtetere Diskussionen stattfinden können.

"Ich erschaffe als Künstler ein Puzzle, das du selbst lösen musst."

Sprechen wir über die Bildungsvermittlung. Das Album ist sehr lyrisch - was sich auch darin äußert, dass eine sehr elaborierte Sprache verwendet wird. Begriffe, deren Bedeutungen sich für mich als Nicht-Muttersprachlerin nicht gleich ergeben haben.

Das ist dasselbe mit den Menschen bei mir die Straße runter. Weil ich "big ass words" benutze (lacht). Worte, die die Leute nicht kennen. Aber ich war Jura-Professor, ich habe also viele dieser Worte verwendet, um Gesetze und die Gesetzgebung zu erklären. Ich benutze aber auch gerne Wörter, die den Menschen helfen, ein Wörterbuch in die Hand zu nehmen und sie nachzulesen. Denn danach können sie sie nämlich selbst benutzen.

Aber was, wenn man kein Wörterbuch in die Hand nehmen will?

Wenn ich das nicht machen würde, würde ich die Intelligenz meiner Hörer nicht respektieren. Mit meiner Kunst, auch über "The American Negro" hinaus, denke ich als Künstler folgendes: Ich erschaffe ein Puzzle, das du selbst lösen musst. Und wenn du das Puzzle löst, fühlst du als Hörer dich besonders, weil es dir vorkommt, als hätte ich das Puzzle nur für dich gemacht. Also, je komplizierter das Puzzle - es muss kreativ und im Kontext natürlich Sinn ergeben, es darf nicht um der Kompliziertheit Willen kompliziert sein - sobald du es entziffert hast, fühlst du dich erfüllt. Das ist, wofür Musik da sein sollte. Und dasselbe Konzept wende ich auf das Vokabular an.

Wo wir gerade von den Hörern sprechen - wie sah die Hörerschaft aus, die du während der Produktion im Kopf hattest?

Zehnjährige, 90-Jährige. Die Hörerschaft ist sehr breit. Das Album ist für alle, denn jeder weiß irgendwas anderes. Ich wollte einfach den Berg an Wissen teilen, den ich über die Jahre angesammelt habe. Bekommst du diese Informationen, wenn du noch jünger bist, kann sich dein Charakter ganz anders entwickeln. Bevor ich Jura studierte, habe ich im Grundstudium Politikwissenschaft studiert. Wenn ich mit dem Wissen aufgewachsen wäre, dass George Washington und Thomas Jefferson Sklavenhalter und -händler waren - die Menschen, die mir als großartig und als Amerikas Helden verkauft wurden - hätte ich die Geschichte ganz anders betrachtet. Ich wäre besser informiert und dadurch klüger gewesen. Und ich hoffe, dass "The American Negro" den Menschen genau das geben kann.

Erkläre doch nochmal kurz die Konzepte der "Double Conciousness" und "Invisible Blackness".

"Double Conciousness" bezieht sich auf die Dualität zwischen Wahrnehmung und Identität. Wenn ich in den Spiegel schaue, sehe ich einen schwarzen, 42-jährigen Mann. Ich sehe mich aber auch aus dem Blickwinkel des Weißen Imperialismus. Ich sehe mich selbst mit den mir aufgestülpten Stereotypen, wonach ich das Gesicht des Bösen in Amerika bin, der Grund warum es Gefängnisse und so hohe Kriminalitätsraten gibt. Wegen meiner Hautfarbe. Ich habe also ein zweifaches Bewusstsein.

"Invisible Blackness" ist natürlich einerseits der Titel meines Podcasts auf Amazon. Andererseits benutze ich diesen Begriff gerne, weil er verschiedene Aspekte anspricht. Erstens: In der amerikanischen Gesetzgebung gab es eine "Ein Tropfen"-Regelung. Wenn du in deiner Ahnentafel auch nur einen Tropfen schwarzes Blut hattest, galtest du als schwarz und wurdest denselben Gesetzen unterworfen wie schwarze Menschen. Das ist also einmal ein unsichtbares Schwarz-sein.

Zweitens: Wir alle stammen von der Mitochondrialen Eva ab. Alle Menschen haben also den gleichen Ursprung auf dem afrikanischen Kontinent. Rassen sind also eigentlich nur soziale Konstrukte ohne wissenschaftliches Fundament. Wir sind alle nur Menschen, die an verschiedenen Orten aufgewachsen sind. So haben wir unsere unterschiedlichen Hauttöne bekommen. Wir sind alle gleich. Und darauf spielt die Invisible Blackness ebenfalls an.

[Anm. d. Red.: Die Mitochondriale Eva entstammt einer naturwissenschaftlichen Auseinandersetzung um den menschlichen Ursprung. Eine Auffassung in dieser Auseinandersetzung ist: Es gibt eine Frau (Mitochondriale Eva), von der alle heute lebende Menschen abstammen (und natürlich einen männlichen Gegenpart dazu). Und diese Frau muss vor rund 200.000 Jahren in Afrika gelebt haben.]

Hast du eine Idee, wie wir als Menschen diese sozialen Konstrukte überwinden können?

Nope. Keine Ahnung. Aber was ich weiß: Je mehr die Menschen über die Zustände und den Ursprung des Rassismus wissen, dass Rassismus erlernt ist und dass das bedeutet, dass man Rassismus auch wieder verlernen kann - je mehr wir also lernen und uns darüber unterhalten, umso mehr können wir dazu beitragen, diese "Krankheit" auszurotten, die ich gerne als die eigentliche Pandemie bezeichne.

Du hast eben deinen Podcast angesprochen. Was hat dich dazu veranlasst, das Album zu einem Multimedia-Projekt inklisuve Podcast und Kurzfilm auszuweiten?

Der Podcast gibt mir die Möglichkeit, noch tiefer in die Details einzusteigen. Der Film ist einfach nur eine andere mediale Form, über die ich mich ausdrücken und die Perspektiven und Situationen des Rassismus weiter beleuchten kann. Ich hoffe, dass sich die Leute mit den Charakteren identifizieren können und sagen: "Wow. das bin ich. Ich sollte nicht so sein wie dieser Charakter" oder "Das bin ich und ich bin froh, wie dieser Charakter zu sein."

Hattest du das Ganze bereits als umfassendes Projekt geplant? Oder hast du während der Produktion des Albums bemerkt, dass du noch viel mehr sagen willst, als Platz auf dem Album ist?

Nein, ich wusste eigentlich von Anfang an, dass ich das machen will. Ich wollte ursprünglich auch große, theatralische Shows machen, aber das geht im Moment nicht. Ich wollte mit diesem Projekt ganz bewusst aufs Ganze gehen.

Ganz schön viel Druck, den du dir da aufgeladen hast.

Ja, aber man lebt eben nur einmal. Du musst eben so viel machen, wie du kannst. So sehe ich das.

Adrian Younges Podcast "Invisible Blackness" kann via Amazon Music gestreamt werden. Der Kurzfilm "TAN", erscheint, ebenfalls via Amazon, am 24. März. Hier der Trailer:

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