laut.de-Kritik

Mehr als ein Quantum Trost: Edgar Froeses großes Finale.

Review von

"Es gibt keinen Tod, nur einen Wechsel der kosmischen Adresse", so lautet ein berühmter Satz von Edgar Froese. Getreu diesem Motto folgt nun großer, paradoxer Surrealismus: Am 29. September 2017 beging die Band Tangerine Dream den eigenen 50. Geburtstag. Exakt an diesem Tag erscheint simultan ihr unwiderruflich letztes Studioalbum "Quantum Gate". TD ist untrennbar mit Froese verbunden. Doch Froese weilt nicht mehr unter uns. Gleichzeitig spielt er dennoch mit neun letzten Stücken zum Grande Finale auf. Dieser elektrisierende Schlussakkord klingt höchst lebendig. Er bietet weit mehr als nur ein Quantum Trost.

Damit rangiert die Platte zwischen Schroedingers quantenphysikalischer Katze, Froeses ganzheitlicher Lebenseinstellung und der Realität gewordenen Unwirklichkeit seines Idols Salvador Dali. Auf dessen Landsitz in Cadaqués gab der junge Edgar bereits 1966 Hauskonzerte für Dalis surreale Gartenpartys. Jetzt schließt sich der Kreis.

Lediglich den eigenen Tod kalkulierte der große Pionier für "Quantum Gate" nicht ein. Dem Ursprungsplan nach wollte Froese mit seinem Team die "Quantum Years" einläuten. Eine moderne TD-Variante, die einerseits der Naturwissenschaft (Quantenphysik) die Ehre erweist, diese jedoch um spirituelle und emotionale Elemente ergänzt (Quantenphilosophie). Ratio trifft Mystik.

Ein typisches Froese-Konzept, das die Kontinuität seines Katalogs auf den Schlusspunkt bringt. Schon immer komponierte der gebürtige Ostpreuße komplex-progressive Strukturen, ohne das große Gefühl zu vernachlässigen. Heraus kommt der Kick fürs Hirn ohne verkopft zu sein, und der Kick fürs Herz, ohne kitschig zu klingen. Dem eigenen Rezept folgend, ersann Froese zahlreiche Skizzen mit melodischen Themen, verflochtenen Rhythmen und flächigen Klanglandschaften. Auch wenn die Ideen nicht mehr für eine Serie reichen. Die über 70-minütige Spielzeit des "Quantum Gate" füllen sie lässig aus.

An dieser Stelle kommt das Quartett der Hinterbliebenen ins Spiel. Keine leichte Aufgabe, aus dem vorgefundenen Material ein endspielwürdiges Album zu machen. Ergänzt man zu viel, geht der essenzielle Froese-Spirit verloren. Fügt man zu wenig bei, gäbe es lediglich ein Demo. Um so erfreulicher, dass diese Könner die notwendige handwerkliche wie kreative Sensibilität mitbringen, hier zu brillieren.

Froeses Witwe Bianca Froese-Acquaye, seit 15 Jahren Managerin der Band und zuständig für Fotos und Coverartwork, bietet den ordnenden Rahmen. Thorsten Quaeschning ist als Repräsentant der TD-Periode "Eastgate Years" ohnehin der richtige Mann für die Aufgabe. An Froeses hervorragendem, leider unterschätztem Soloalbum "Dalinetopia" (2005) arbeitete er ebenso mit, wie an schicken TD-Spätwerken, etwa dem rockigen "View From A Red Train", Neufassungen von Kultalben wie "Phaedra" oder dem "Five Atomic Seasons"-Zyklus.

Newbie Ulrich Schnauss verfügt ebenfalls über einen beachtlichen eigenen Katalog. Der Kieler und lebenslange TD-Fan bringt perfekt passende Fähigkeiten mit an Bord. Als Kirsche auf der Torte erweist sich die japanische Violinistin und Cellistin Hoshiko Yamane. Neben Einsätzen für Jane Birkin tourt sie seit 2011 mit Tangerine Dream und nimmt strukturell in etwa jenen Platz ein, den das Saxofon Linda Spas in den 90ern inne hatte.

Die vier fügen alle tragenden TD-Säulen mit dezenten Modernisierungen zu einem dramaturgisch gelungenen Ganzen, dessen ästhetischer Ausdruck weit intensiver wirkt als die Summe seiner Einzelteile. Besonders das Timing mit dem die Zutaten sich gleich einer audiophilen Blüte öffnen, um wenig später im Orbit der Klänge zu verglühen, ist meisterhaft in Szene gesetzt.

Froese gilt musikhistorisch zweifellos als der Erfinder des gepflegten Sequenzer-Getüdels. Das unveränderliche Kennzeichen tritt entsprechend häufig und facettenreich auf. Mal treibend, dann wieder schwebend, klammert es die Tracks zusammen. Ebenso kommen die charakteristischen Einschübe seiner Synthie- und Piano-Harmonien treffsicher genau dort zum Einsatz, wo sie der Spannungsbogen benötigt.

Als kleiner Wermutstropfen inmitten dieses nahezu perfekten Reigens wirkt das oftmalige Fehlen von Froeses individueller, stets sehr warm dargebotener Gitarre. Ausgerechnet dieser mustergültige Wesenszug seiner Musik fehlt zwar nicht in Gänze, taucht allerdings nur selten auf. Doch kann man den Machern dies nicht zum Vorwurf machen. Er scheint vor dem Ableben nur wenige E-Gitarren-Spuren eingespielt zu haben. Es ehrt Quaeschning und Co., dass sie hier nicht selbst eingegriffen haben und den Stil imitierten. Ein Sieg der Authentizität!

So gelingt Tangerine Dreams letzter Akt auf ganzer Linie. Innerhalb des eigenen Katalogs nimmt "Quantum Gate" einen ähnlich hohen Stellenwert ein, wie etwa "Innuendo" für Queen. Außerhalb des eigenen Kosmos' bewegt die Platte sich auf Augenhöhe mit anderen großen Genre-Spätwerken wie Jean Michel Jarres "Oxygene 3" oder Vangelis' "Rosetta". Froese: "Ich wollte den absolut offenen und kosmischen Klang erschaffen." Dieses Experiment ist ihm von Anfang bis Ende eindrucksvoll geglückt.

Trackliste

  1. 1. Sensing Elements
  2. 2. Roll The Seven Twice
  3. 3. Granular Blankets
  4. 4. It Is Time To Leave When Everyone Is Dancing
  5. 5. Identity Proven Matrix
  6. 6. Non-Locality Destination
  7. 7. Proton Bonfire
  8. 8. Tear Down The Grey Skies
  9. 9. Genesis Of Precious Thoughts

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2 Kommentare mit einer Antwort

  • Vor 6 Jahren

    Ich verneige mich vor TD und seinen Mitgliedern. Das war ganz groß. Ich werde auf jeden Fall reinhören. Vielleicht kennt ja noch jemand den Film: Atemlos vor Angst. Der Soundtrack war derart fesselnd, dass er für sogar ausmachte, dass er die Wertungs-Lücke zwischen dem Original und dem Remake schloss..

  • Vor 6 Jahren

    Also ich wage einmal das scheinbar undenkbare und versuche eine konstruktive Kritik, die hoffentlich irgend ein bisschen von TD wahrgenommen wird.

    Aus meiner Sicht ist oder war Edgar Froese die wirkliche Quelle der elektronischen Musik. Oder besser, er war das Phänomen, das wie der Focus einer Wissenslinse der Möglichkeiten der elektronischen Musik erst aus dem Kinderbettchen half.

    Erst durch ihn fügte sich Elektronik und Musik zu einem sinnvollen Ganzen. Das war aber nicht alles.
    Eine Zutat kam noch dazu, die ich bisher nur beim ihm wahrgenommen habe: er schöpfte scheinbar nicht aus sich allein, sondern konnte einen Zustand herbeiführen, in dem es ihm möglich war, selbstvergessen aus den Großen Ganzen zu schöpfen.

    Erst diese Kombination machte Stücke wie Ypsilon in Malaisian Pale u.v.a. möglich.

    Wenn man TD von Anfang an verfolgt, sind die Phasen ihrer Entwicklung deutlich erkennbar. Am Anfang Chaos und dann, nach und nach mehr Ordnung und später eine akustische Signatur, die TD unverkennbar auszeichnete.

    Das erste Trio, Franke, Froese, Baumann hat am besten gepasst. Vielleicht weil Edgar da noch im vollen Saft seiner mentalen Kraft stand und sicher die Richtung vorgab. Aber Baumann und Franke verließen TD und die daraufolgenden Neuen, füllten die Lücke immer schlechter. Wobei es bis Logos eigentlich doch noch die alte Qualität aufwies, aber schon in eine Richtung deutete, die nicht mehr diese mystische Kraft besaß, die in Alben wie Stratosphaer oder Rubicon steckten.

    Jerome Froese und auch ch Thorsten Quetsching haben bei mir zu keinem Zeitpunkt eine besondere Emotion hervorgerufen. Auch die Mädchen, die irgendwann dazukamen und unpassend und polternd alles niedertrommelten ode Saxophonierten, was auch nur ansatzweise die Magie der Wurzeln TDs zu zeigen versuchte.

    Kann sich jemand diese wildgewordenen Amazonen vorstellen, wie sie Rubicon zerhäckseln ?
    Oder wie Stratosphear weggedudelt wird ?

    Das alles hat mit den feingewebten und intelligent und überraschenden Sequenzerstrukturen on Edgar nichts mehr zu tun.

    Stattdessen hört man seit Underwater Sunlight, das eben dieser Sound und diese Art des Sequencings von TD immer wieder in allen Facetten wiederholt und selbst plagiiert werden. Für mich hört es sich an, wie musikalische Inzucht.

    Ich habe mal die neuen Sachen durchgehört und abgesehen davon, daß ich sie als belanglos empfinde, konnte ich mir kein Stück wirklich merken, weil keine Alleinstellungsmerkmale zu finden sind. Überall für nden sich die gleichen Akkorde und die gleichen Underwater Sunlight-artigen Rythmusgehäcksel.

    Wieso in aller Welt gibt es über TD sogut wie nie kritische
    Stimmen ?

    Für mich ist TD immer noch (bis Logos) eine der wichtigsten Gruppen. Der Kern aber war immer Edgar Froese.