laut.de-Kritik

Die Antwort auf einen zehn Jahre alten Cliffhanger.

Review von

Steuerhinterziehung, Drummer raus, Liebes-Aus beim Frontmann: Das magische Elfenland in Flammen. Eine Dekade ohne ein neues Sigur Rós-Album. Zehn Jahre nach dem harsch knarzenden "Kveikur" scheinen die Wogen geglättet, endlich ist die Asche kalt. Mit "Átta" findet das Trio die wohl radikalste Abkehr von der geballten Faust des Vorgängers.

Schon die ersten Klänge machen alles klar: Das dröhnende Backmasking des Openers "Glóð" weckt Erinnerungen an frühe 2000er-Tunes, das folgende "Blóðberg" richtet den Blick dann nach vorne – sphärisch, flächig, unverkennbar Sigur Rós. Es sind Fragmente aus orchestralen Wogen, hypnotisierenden Noise-Swills und fragilen Gesängen, die Vokalist und Gitarrist Jónsi, Bassist Georg Hólm und der zurückgekehrte Keyboarder (und Orchester-Arrangeur) Kjartan Sveinsson in 57 Minuten übereinanderschichten.

Die klaffende Lücke des fehlenden Drummers versuchen sie dabei gar nicht erst zu kaschieren. Die jüngeren Experimente mit Looping-Techniken und krachenden E-Drums? Alles verworfen. Natürlich darf die Frage gestellt werden, ob das ab 2016 live erprobte Material das spannendere Album hätte bilden können – gleichzeitig wohnt der auf "Átta" vertonten Katharsis eine Dringlichkeit inne, die sich schon nach wenigen Hördurchläufen weitestgehend als unverkrampfte Leichtigkeit entpuppt.

Mit seiner trotz hohem Orchesteranteil ausgeprägten Stimmlastigkeit wirkt "Átta" wie ein gesangsreicheres Schwesteralbum zum Ambient-Werk "Valtari". Jónsi versteckt sich nicht hinter Chören und Pianoschichten, sondern agiert klar im Vordergrund, meistert die gewohnt schwindelerregend hohen Oktaven, weiß aber auch seine tieferen Töne ins Gesamtbild einzubringen.

Dem mangelt es trotz orchestraler Grundstruktur übrigens nicht an Farbtupfern: Begonnen als Projekt zwischen Jónsi und (damals noch Ex-)Tastenmann Sveinsson, schimmern auch immer wieder Einflüsse der Liminal-Ambient-Mixes aus dem Jahr 2018 durch, deren Kollaborateur Paul Corley (Produzent für unter anderem Oneohtrix Point Never und Ben Frost) auch hier wieder Hand angelegt hat.

Dass "Átta" aber kein einfacher weiterer Ambient-Auswurf aus dem L.A.-Umfeld von Sänger Jónsi ist, zeigt sich vor allem in Sveinssons Arrangements, die schon "Ágætis Byrjun", "( )" und "Takk..." den besonderen vulkanischen Zauber einhauchten. Es sind die kleinen Details wie die sanfte, sich durch den Mix schälende Akustikgitarre in "Andra", die cineastischen Akkordenfolgen auf "Mór" oder die sich mit Jónsi um die Vormachtstellung kämpfenden Violinwogen, die den Unterschied zu den Soloarbeiten der Bandmitglieder machen. Oder die – wie im letzteren Fall – diesen unterschwelligen Schauer von 'Irgendwas stimmt hier nicht' vermitteln.

Denn "Átta" ist mehr, als die Wolke-7-Schönheitswatte zunächst vermuten lässt. Gerade in den Momenten, in denen Sigur Rós mit leicht perkussiven Elementen arbeiten, wie etwa in "Gold", vor allem aber im Dark-Intro-like entrückten "Klettur" schlummert ein unterschwelliges Gefühl der Beklemmung. Und dann gibt es da noch diese leichten Off-Momente im Zusammenspiel auf "Fall". Vielleicht genau das bisschen Ágætis-Imperfektion, genau das Quäntchen Punk, dass das Trio auch mit dem eklektischen Artwork zu spiegeln weiß – eine bedrohliche Momentaufnahme eben.

"Átta" ist vieles: Die Antwort auf einen zehn Jahre alten Cliffhanger. Ein Floating durch den Ist-Zustand. Ein Abgesang auf dunkle Zeiten. Aber auch ein Manifest gegen blinden Optimismus. Denn die Flammen werden wieder lodern – und eines Tages wird aus der Asche kein Leben mehr entstehen. Aber nicht heute. Heute schlummern wir ein letztes Mal sorgenfrei auf weichen Kissen. Heute haben wir "Átta".

Trackliste

  1. 1. Glóð
  2. 2. Blóðberg
  3. 3. Skel
  4. 4. Klettur
  5. 5. Mór
  6. 6. Andrá
  7. 7. Gold
  8. 8. Ylur
  9. 9. Fall
  10. 10. 8

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6 Kommentare mit 6 Antworten

  • Vor 10 Monaten

    Ich habe alle Alben von der Band und zahlreiche Konzerte besucht. Immer wieder großartige Gänsehautmomente. Aber Atta ist leider leider einfach nur eintönig. Es wabert ohne Höhen und Tiefen. Die einzelnen Songs sind kaum zu unterscheiden. Schade.

    • Vor 10 Monaten

      Ich finde es immer wieder erstaunlich, wie schnell selbsternannte Fans, die u.A. "alle Alben von der Band und zahlreiche Konzerte besucht" haben, nach weniger als einer Woche nach Release bereits die Flinte in's Korn werfen und sich dazu genötigt sehen, einen Kommentar im Internet dazu abzulassen. Muss man immer umgehend eine Meinung zu allem haben oder könnte es sich vielleicht doch lohnen, einem Kunstwerk mehr Zeit einzuräumen - vor allem bei einer Band wie Sigur Ros, die dem Hörer oftmals schon etwas mehr abverlangt als Radiomucke von der Stange?

    • Vor 10 Monaten

      Will mal sagen, dass Sigur Ros schon immer im Kontext eines Albums am besten funktionieren und sicher nicht dienlich sind, einzelne Songs auf ein Mixtape zu packen ;-D
      Bin deshalb voll bei Forndom.
      Ist doch grad geil, wenn ein Album nicht sofort zündet aber neugierig macht und nach mehrmaligem Hören vielleicht unverhofft ein Lieblingsalbum wird.

    • Vor 10 Monaten

      Theo schäumt gerade vor Wut.

    • Vor 10 Monaten

      Das ist atheositische Blasphemie, schämt euch!

    • Vor 10 Monaten

      "Es wabert ohne Höhen und Tiefen."

      Habe mal reingehört und kann das so nicht bestätigen. Relativ zu Anfang sind da schon einige Höhen dabei, locker >15K... und Tiefen gesellen sich auch dazu, da passiert viel im Bereich zwischen 50 und 100.

    • Vor 10 Monaten

      Es scheint mir, es ist keine objektive Kritik von Roman. Ich hoffe der Gegenwind hier, schockt ihn nicht allzu sehr.

  • Vor 10 Monaten

    Ich habe noch nicht die passende Stimmung gefunden, um mir das Album schön zu hören. Insofern muss ich meinem Vorredner leider recht geben, für mich klingt das wie ein Filmsoundtrack, alles sehr ähnlich und (bisher) langweilig. Das mag sich noch ändern, aber ich glaube nicht, dass ich in der nächsten Zeit in Stimmung für an- und abschwellendes Orchestergedudel komme.

  • Vor 10 Monaten

    Find's auch schade, mehr Groove, mehr Band(instrumente), weniger Orchester wäre mir lieber gewesen. Höreindrücke sind bislang trotzdem ganz interessant. Mal sehen.

  • Vor 10 Monaten

    Mich haut es einfach nur um!
    Bin verliebt :)

  • Vor 10 Monaten

    Nach all den Jahren.
    Orchestral. Und wenig Hoffnungsvoll. Das Cover sehr schön. Das Video zum ersten Video zeigt Menschen die in in einer Wüste sterben.
    Mit einem Twist am Ende.
    Sehr beeindruckend. Klimakrise ich hör Dir trapsen.
    Mir gefällt das Album.
    Da ich aber ein Freund von Takk und se lest bin wäre etwas Pop Struktut schön. Aber Sigur Ros machen ja so wieso was sie wollen. Sie sind besonders, beeindruckend. Ich brauche noch mindestens 10 Durchgänge um das zu verstehen. Fühlt sich aber erst mal gut an!

  • Vor 10 Monaten

    Habe SR in der Elbhilarmonie gesehen. Groẞes Kino