laut.de-Kritik

Aufwühlend und abwechslungsreich: Kettcar sezieren das Jetzt.

Review von

Nach fünfjähriger Pause sind Kettcar mit einem drängenden und durstigen Album zurück. Durstig nach Vielfalt, hungrig nach Texten sind die Hamburger vielfältig, vielschichtig und verspielt unterwegs zwischen forderndem Sprechgesang, noisigem Post-Punk-Donner und intimer Akustik.

"Gute Laune, Ungerecht Verteilt", das sechste Album der Band, steckt zudem voller pointierter Textzeilen und pochenden Fragen zum Alltag in Deutschland, zur Ohnmacht angesichts der Weltlage und wie man bitteschön angesichts dessen nicht durchdrehen soll. Mit Hilfe dieser zwölf Songs vielleicht, denn sie sind ein aufwühlender Parforceritt durch drängende Themen und (Tat-)Orte in diesem Land, der einen mitnimmt – in jeder Hinsicht.

Angefangen mit "München", der wuchtigen ersten Single, die Alltagsrassismus und Diskriminierung in messerscharfe Zeilen fasst wie "Wo bist du eigentlich hergekommen?", "Vielleicht wärst du auch ein Opfer des NSU" und "Mein Herz ist ein totgeschlagenes Robbenbaby". Dazu poltert die Musik im Stil von Idles und Fontaines DC, auch dank des Gastauftritts von Chris Hell von FJØRT.

Überhaupt findet man viele Zitate und Anspielungen an andere Acts, in "Doug & Florence", einer scheppernden, schwelgerischen Hymne an Pflegerinnen und Paketboten, heißt es im Sinne der Smiths "All ihr Pflegerinnen / Paketboten of the world unite / Unite and take over". Wo in den Achtziger Jahren noch die Ladendiebe umarmt wurden und zur Machtübernahme angespornt, sind es heute diese Dienstleister, die in einer sehnsuchtsvollen Klassen-Utopie Florence Nightingale mit Doug Heffernan von "King Of Queens" verbinden.

Weitere Assoziationen in den Tracks finden sich zu Acts wie The National, Sufjan Stevens, War On Drugs bis hin zu den Beatles. Weitere abgehandelte Orte sind "Rügen" mit dem Blick ins Innere, das sich selbst Gedanken zensiert, oder "Kanye in Bayreuth" mit dem Blick aufs Äußere, wenn der Kampfbegriff Cancel Culture verhandelt wird.

All das passiert mit Nuancenreichtum, Zwischentönen, Selbstironie und Humor und vibriert vor allem beim Schlussstatementsong "Ein Brief meines 20-jährigen Ichs (Jedes Ideal ist ein Richter)" mit, in dem Marcus Wiebusch ganze Dekaden umfasst und sich dabei weder in Gefälligkeit noch Verbitterung verliert – "Und du tust, was du musst / Und du hoffst, dass es langt".

Trackliste

  1. 1. Auch für mich 6. Stunde
  2. 2. München
  3. 3. Doug & Florence
  4. 4. Rügen
  5. 5. Kanye in Bayreuth
  6. 6. Blaue Lagune, 21:45 Uhr
  7. 7. Wir betraten die Enterprise mit falschen Erwartungen
  8. 8. Einkaufen in Zeiten des Krieges
  9. 9. Was wir sehen wollten
  10. 10. Bringt mich zu eurem Anführer
  11. 11. Zurück
  12. 12. Ein Brief meines 20-jährigen Ichs (Jedes Ideal ist ein Richter)

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5 Kommentare mit 15 Antworten

  • Vor 23 Tagen

    1/5 dafür Florence Nightingale mit Doug Heffernan gleichzusetzen

    • Vor 23 Tagen

      Kenne beide nicht. Um was geht es da?

    • Vor 22 Tagen

      Florence Nightingale ist eine wichtige Reformerin der Gesundheitsfürsorge, Vorreiterin auf dem Gebiet der angewandten Statistik und hatte zwar mit Krankenpflege zu tun, war aber selber sehr wenig wirklich aktiv als Krankenpflegerin sondern eher als Lehrerin bzw Professorin noch bevor es diese Fachrichtung überhaupt gab. Ich habe großen Respekt vor jeder Person, die einen pflegerischen Beruf ausübt, aber Florence Nightingale "nur" als Pflegerin darzustellen wird ihren Leistungen und ihrem Einfluss in keiner Weise gerecht. Ohne den unterjochenden Einfluss des Patriachats wäre sie womöglich die wichtigste Persönlichkeit im goldenen Jahrhundert der Medizin geworden.

      Doug Heffernan ist ein fiktiver Character aus der Sitcom King of Queens, der sich dadurch auszeichnet dick und dumm zu sein. Und er ist Lieferfahrer in der Serie.

    • Vor 22 Tagen

      Danke Capsi! Jetzt kann ich deine Kritik an dem Vergleich sehr gut nachvollziehen.

    • Vor 21 Tagen

      Ich verstehe den Punkt, aber vielleicht ist es genau diese Hierachisierung und Abgrenzung, gegen die in dem Song angesungen wird ;)

      Meinung zum Album folgt. Vampire Weekend waren am Wochenende wichtiger.

    • Vor 21 Tagen

      Hat für mich mindestens einen faden Beigeschmack, schon alleine weil da eine Frau großes geleistet hat und dann, wie schon zu Lebzeiten, klein gemacht wird, weil sie eine Frau ist. Aber ich werd es mir mal anhören oder den Text lesen.

    • Vor 21 Tagen

      Habe den Text jetzt mehrfach gelesen, mir das Musikvideo angeschaut und etwas darüber nachgedacht. Der Text für sich ist schon okay, kann mensch so oder so sehen. Die Botschaft, dass die meisten Menschen nach wie vor Untertanen sind und mit Glücksversprechungen al a Vom Tellerwäscher zum Millionär bei der Stange gehalten werden und es vielleicht mal Zeit wäre dagegen aufzubegehren, ist ja wichtig und richtig. Die Umsetzung ist mir persönlich etwas beliebig und zahnlos.

      Die Wahl des Titels finde ich jetzt aber umso mehr dumm und unangebracht, aus mehreren Gründen. Du @hrvorragend sagst Hierachisierung und Abgrenzung, das sehe ich aber nicht, wenn herausragende Leistungen Wertschätzung erfahren. Wir leben in keiner Meritokratie, obwohl uns dies gerne mal suggeriert wird, und das ist ja gerade das in der ersten Strophe besungene Problem

      "All die Tür'n steh'n dir offen
      Sie sind nur alle sehr weit weg
      Das kannst du gern ganz anders hoffen
      Es hat nur keinen Zweck
      Die ganzen Karten mies gemischt
      Jeder Anspruch regt sie auf
      Denn jeder Schmied hat immer Glück
      Jaja, dann danke, Lebenslauf"

      Nicht jeder Mensch brennt so für etwas, dass er das Leben einer Sache widmet und dabei großes erreicht. Muss auch nicht jeder, und das macht sicherlich niemand zu einem besseren Menschen. Allerdings ist es schon wichtig und richtig, jene, die unter großem Einsatz viel erreicht haben, zu schätzen, zumindest meiner Meinung nach, denn es scheint auch Teil der menschlichen Natur zu sein, zu Anderen aufzublicken, und ich halte es für unendlich viel besser, wenn diese Anderen Menschen wie eben Florence Nightingale sind und nicht Kevin James oder Elon Musk oder whatever.

      Und Florence Nightingale ist halt angesichts ihrer sozialreformatorischen Bestrebungen die ganz falsche Person um hier Abgrenzung zu sehen. Auch steht sie (ganz anders als Doug) für das in der ersten Strophe beschriebene Streben, allerdings trifft die Perspektive überhaupt nicht auf ihre Lebenswirklichkeit zu. Keine Tür stand ihr offen, sie sollte nie Schmiedin ihres eigenen Glücks werden, das musste sie sich hart erkämpfen, außerdem war sie halt auch noch eine Person aus der obersten britischen Oberschicht, hatte enge Verbindungen zu Angeordneten, Ministern, Premier Palmerston, informelle Treffen mit der Königin. Es war damals noch merkwürdiger verteilt, aber sie stand auf der Seite der durch die Verteilung Freien. Ihre Unfreiheit lag in einer anderen sozialen Dimension, und diese konnte sie durch ihre enorme Freiheit in der sozioökonomischen Dimension zum Teil überwinden. Daher ist sie überhaupt nicht passend in diesem Text, der die Bilder der Protagonisten ja klar auf der anderen Seite der Schere zeichnet. Mit Mühe und Not kann mensch da vielleicht noch Klassenverbrüderung hineininterpretieren, aber das passt halt nicht wirklich zum Text und das "All ihr Pflegerinnen of the world" konterkariert diesen Interpretationsansatz total.

      Es kommt mir ein bisschen so vor, als wäre zur Titelfindung eine Suchmaschine bemüht worden mit den Suchbegriffen "berühmte Krankenschwester". Florence Nightingale an erster Stelle als Krankenschwester oder Pflegerin zu bezeichnen ist so wie Olaf Scholz an erster Stelle Rechtsanwalt zu nennen oder Albert Einstein einen technischen Experten 3. Klasse. Es nimmt ihr das, was sie erreichte, als sie die ihr nicht offenen Türen aufstieß und danach sehr weit ging.

      Ich kann die nicht-Würdigung ihrer Leistungen, und nichts anderes ist ihre Erwähnung als Pflegerin hier, nicht tolerieren. Da muss Mann sich halt mal ein paar Gedanken machen, bevor Mann einfach so diesen großen Namen fürs eigene Pamphlet herabwürdigt. Schämen möge der Autor sich, schämen! 1/5

    • Vor 21 Tagen

      Ich kannte Florence Nightingale vor dem Song oder besser gesagt vor deinen Erläuterungen anlässlich des Songs nicht. Deswegen kann ich die Entrüstung deinerseits zwar nachvollziehen, aber nicht richtig nachfühlen. Zustimmen würde ich auf jeden Fall darin, dass der Titeleher Style over Substance ist.

      Den Song finde ich recht Kettcar by the Numbers, die Message geht aber für mich noch weiter als durch dich skizziert: Es geht nicht nur darum aufzubehren, sondern auch darum einzusehen, dass man ja in der Überzahl wäre, wenn mansich zusammen tut. Wir haben bei allem was sonst so schief läuft ja gerade die spannende Situation eines Arbeitnehmerarbeitsmarkts, in dem die, die sich in den letzten Jahren immer übler knechten lassen mussten, auf einmal eine Macht haben, wie seit Jahrzehnten nicht mehr (siehe GDL).

      Paketfahrer und Pflegekräfte als Berufsgruppen, die zur Sicherung unserer Infrastruktur unter prekären Arbeitsverhältnissen leiden als Symbol eines neuen Klassenkampfes zu beschwören, finde ich da gar nicht mal so unsmart. Die linke Botschaft "Eigentlich sind wir ja alle gleich, wir müssten nur mal anfangen uns gegen die da oben zu wehren" hat sich ihre Kritik durch den Intersektionalismus sicher verdient, dass sie dadurch kaum mehr zu hören ist, kann man aber schade finden. Mit viel Wohlwollen findet man im TItel ja auch noch eine feministische Komponente, dann litt Florence auch noch unter dem von dir beschrieben Sexismus der geltenden Herrschaftsordnung.

      P.S. Anderes Thema, aber ich würde ja sagen eines der Probleme am Spätkapitalismus ist, dass wir nicht mehr in einer Meritokratie leben. Erfolg wird vererbt. Die seltenen Aufstiegsgeschichten werden ausgeschlachtet, um genau das zu übertünchen.

    • Vor 21 Tagen

      Kannte die Tante vorher auch nicht und hätte ohne den kleinen Rant hier auch nichts von ihren Verdiensten erfahren. Zumindest das hat der Song also bewirkt. Würde deswegen nicht das ganze Album in die Ecke pfeffern - Marginalisierung war sicherlich nicht die Absicht hinter dem Bezug. Der Text funktioniert auch vollständig losgelöst von Florence Nightingale, weswegen ich den Titel eher als kurzes "Heads up" verstehen würde. Offenbar nicht vollkommen treffsicher. Letztlich soll aber doch darauf aufmerksam gemacht werden, wie wichtig diese Berufszweige sind, wie wenig Anerkennung sie erhalten und wie sich das auf ihre Lebenssituation auswirkt. Zumindest das trifft auf Frau Nightingale doch voll zu.

    • Vor 21 Tagen

      @Funky_Bob: Ja, der Text funktioniert losgelöst vom Titel, deswegen hätte der auch ein anderer sein können. Florence Nightingale hätte mehr als nur einen Namedrop im Titel bekommen können. Und wie viele Leute hätte selbst mehr als die Vorschau bei Google gelesen, wenn sie den Namen komisch gefunden und gesucht hätten, und wie viele Leute hätten das überhaupt getan. Natürlich ist die Bewertung nicht fair hinsichtlich des Albums, aber das muss ich auch nicht sein, ich bin nur ein random user in einem Kommentarbereich, und nicht einmal die Autoren müssen bei einer Musikkritik fair sein. Für mich ist das für eine Band mit inhaltlichem Anspruch und einer Botschaft einfach zu faul, zu wenig, zu überzeugt von sich selbst.

    • Vor 21 Tagen

      "Natürlich ist die Bewertung nicht fair hinsichtlich des Albums, aber das muss ich auch nicht sein, ich bin nur ein random user in einem Kommentarbereich,"

      Fair.

      Für mich ist das für eine Band mit inhaltlichem Anspruch und einer Botschaft einfach zu faul, zu wenig, zu überzeugt von sich selbst."

      Und nochmal fair. Wäre eine gute Interviewfrage, ehrlich gesagt.

    • Vor 21 Tagen

      Ich finde, alleine dadurch, dass ihr so konstruktiv über den Titel, Inhalt und Intention diskutiert, hat das Lied doch seinen Zweck erfüllt. So ganz 1/5 kann es also nicht sein.

    • Vor 20 Tagen

      Ich finde, Witz, Ironie und Wut sind auf dem ganzen Album etwas seltsam verteilt. Und "Doug & Florence" funktioniert irgendwie gar nicht.
      Trotzdem ein gutes Album!

    • Vor 20 Tagen

      Ob es das besser macht, weiß ich nicht, aber die Titelwahl rührt vermutlich zumindest auch hierher (Dough und Carry):

      https://youtu.be/xQOSeKgIaYs?si=OhVp-ynv7E…

      (Die Serie ist/war nix für mich, aber das ist so sackdämlich, dass es mich anspricht.)

  • Vor 22 Tagen

    Respekt für „Kanye in Bayreuth“. Klingt natürlich wie Fanta-Vier-Rap, aber wenn die Fantas solche Texte hätten, würde ich sie auch heute noch hören.

    Zwei Gute, ein Gedanke
    https://www.youtube.com/watch?v=20V1WI12LGQ

  • Vor 20 Tagen

    Ich habs jetzt ein paar Mal gehört und finde es gut. Nicht annähernd so gut wie Sylt oder das Debüt, aber deutlich besser als den direkten Vorgänger, der mir zu bedeutungsschwanger daher kam.

    Soundtechnisch ist es Kettcar as you know them, nie wirklich schlecht, aber es fehlt der große Hit. Mir fehlen die Oneliner und Slogans der ersten Alben, dieses großartige verdichtete Texten, dass kaum einer so gut hinbekommen hat wie Wiebusch in den Nullern. Mit dem stärker Erzählendem komme ich aber auch klar, wenn es denn nicht gar so pathisch ist wie Sommer 89.

  • Vor 16 Tagen

    Selten so einen Schwachsinn gehört

  • Vor 13 Tagen

    Ich bin ein bisschen entäuscht.
    Fängt stark an das Album, lässt aber auch stark nach. Bis "Blaue Lagune..." finde ich das Album textlich und musikalisch super. Danach wird es aber leider zum 08/15 Brei. Sehen Kettcar wohl selbst so, wenn man sich die Song-Auswahl bei den ersten Konzerten der Tour anschaut.