laut.de-Kritik

Haram Para mit Tijara, Cho!

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Kann man anno 2014 überhaupt sagen, dass Haftbefehl in der Deutschrap-Gemeinde noch wirklich polarisiert? Wohl kaum. Oder zumindest deutlich weniger, als es angesichts seines überaus markanten Stils anzunehmen wäre. Selbst ausgesprochene Gegner von "Azzlack Stereotyp" und "Blockplatin" sollten Haftis jüngstem Streich eine Chance geben. Der Faszination von "Russisch Roulette" zu entkommen, scheint nämlich nahezu unmöglich.

"Tipp-Ex auf Rammstein-Vertrag und gib mir einfach die Kopie!" Daraus, dass er seit seinem Universal-Deal in einer komplett anderen Liga spielt als zuvor, macht Hafti keinen großen Hehl. Dennoch verkommt "Russisch Roulette" nicht einmal ansatzweise zur bloßen Zurschaustellung seines Kontostandes. Auch, wenn der "600er Mercedes SL" traditionell eine große Rolle spielt.

Worum es stattdessen geht, ist schnell erklärt. Egal ob Azzlack oder Universal, letztendlich bleibt der Offenbacher signed to the streets. Das heißt: "Haram Para mit Tijara, Cho!" 14 Tracks, die das Dreckigste, Brutalste, Rohste, vor allem aber Realste widerspiegeln, das Aykut Anhan in seinen 28 Jahren in dieser Welt erlebt hat.

Um seine Geschichte zu erzählen, blickt er weit zurück. Kein Wunder, schließlich ist er "Koksdealer seit Knopfhosen von Adidas". Seit damals, "als der E190 noch Mode war / Generation D-Mark, Cho! Handy: Banane Nokia", wie der fulminante Opener "Ihr Hurensöhne" verrät.

Genauer gesagt zentrieren sich die meisten seiner Erinnerungen an seine kriminelle Laufbahn auf 1999, um das herum alle anderen Jahre zu einem großen Ganzen verschmelzen. In den wahnsinnig deepen Flashbacks der "1999"-Trilogie erzählt Haftbefehl von den ersten Schritten als Ticker, von Problemen und von alten Weggefährten. Ganz nebenbei erfährt der Hörer in "1999 Pt. I", wie sich "Abdul Kazim" auf "Germany" reimen lässt. Unnachahmlich!

Welch finsteres Zukunftbild sich damals für Aykut Anhan auftat, beschreibt er im zweiten Teil fast poetisch: "Block Panorama siebter Stock vom Balkon / Traurige Aussicht und du gibst dein Glück auf / Der Ausblick so grau und trist, dass er dir die Sicht raubt." Einen Ausweg weiß wohl höchstens der Teufel, Cho! Treffend, dass genau dieser ihm im noch einmal finstereren "Schmeiß Den Gasherd An" auf der Schulter sitzt und fragt: "Willst du der König sein und leben in 'nem Schloss / Oder ein Durchschnittsbürger, der lebt für sein' Job?"

Was für 'ne Frage: "Pack den Hammer aus, hau das Flex klein / Am besten gleich am Kilo, nichts mit tranquilo." Fortan gibts nur noch "Haram Para", weggekokste Nasenscheidewände, tote Augen und wandelnde Drogen-Zombies, wie "Engel Im Herz, Teufel Im Kopf" und "Azzlackz Sterben Jung 2" in hafti-typischer, brutaler Direktheit beschreiben.

Klar, dass sich aber nicht alles um weißes Pulver und schwarze Aussichten dreht. Das bewiesen schon vorab die Krawall-Hymnen "Ihr Hurensöhne" und "Lass Die Affen Aus'm Zoo". Knallhart, wahnsinnig aggressiv, aber eben immer auch mit dem Humor, der Haftbefehl seit Jahren auszeichnet.

Über ebenso simple wie geniale Lines freut man sich bei jedem Durchgang wieder: "Auf einmal geh'n die Tür'n hoch vom Mercedes / Du liegst richtig: Ich lieg' im SLS." Mit der gewohnt zurechtgebogenen, teils auch völlig willkürlichen Aussprache ohnehin. Ein Humor, den "Saudi Arabi Money Rich" sowie das perfekt sitzende Video des Easydoesit-Teams bestens unterstreichen.

Genau diese Zeilen, die Haftbefehl seit Beginn seiner Karriere unter anderem von der Konkurrenz unterscheiden, finden sich auf "Russisch Roulette" wieder massenhaft. Gegenmittel? Keins: "Los, wehr dich mit deinen Reimketten" - für rucksacktragende Realkeeper gibts auch auf dem vierten Album nur "Messer in den Arsch". Im Backpack nur Butterfly und "neuf millimètre", streckt Hafti mit sinnlosem Zeug wie Achtfach-Reimen und Doubletime höchstens den Stoff.

Und überhaupt: Wer braucht Verben, wenn es viel gewaltigere Nomen gibt? "Russisch Roulette" sprudelt vor mächtigen lyrischen Bildern, wahnwitzigen Wortkreationen, zweckmäßigem Satzbau und unzähligen Akzent- und Sprachvariationen geradezu über. Noch mehr als je zuvor entwirft der Offenbacher grammatikalische Konstruktionen, die mithilfe Tausender verschiedener Einflüsse, klassischer Referenzen wie "Scarface" und "Der Pate" und aggressiv gespuckten Adlibs Lines bilden, die sich für die Ewigkeit ins Gedächtnis brennen.

Dabei muss sich das Niveau der Produktionen vor dem des Vortrags übrigens keineswegs verstecken: "Blanco pumpt den Beat, ich erschieß' diesen Swizz Beatz!" Zwischen dem dreckigen New York-Flavor von "1999 Pt. I" und dem aberwitzig überproduzierten, dabei aber irgendwie unterhaltsamen Autotune-Monster "Anna Kournikova" haut Benny Blanco ein Brett nach dem anderen raus. Das Spiel mit eiskalten Synthies und bedrohlich pumpenden Bässen untermalt die
"Tijara"-Storys auf bestmögliche Weise.

Allein das Konzept des Albums bedarf eines kleinen Sonderlobes. Dass Haftbefehl mit Ausnahme von "Haram Para", das Booba-Zögling Kaaris unterstützt, und "Anna Kournikova" (mit Miss Platnum) vollkommen auf Features verzichtet, um diese auf der Deluxe-Edition in Form von abwechslungsreichen Remixes nachzureichen, ergibt einfach Sinn: Wer nur Hafti will, bekommt nur Hafti, wer mehr will, legt eben ein paar Euro drauf. Vorbildlich. Soviel sei gesagt: Allein für die Babo-Version von "Lass Die Affen Aus'm Zoo" mit K.I.Z. lohnt sich die unbedeutend größere Investition schon.

Aber auch die, die zur Standard-Edition greifen, erhalten ein vollkommenes Paket. Die wenigsten erschaffen mit ihren Zeilen ein derartiges Kopfkino - und das ist nur einer von vielen Aspekten, die "Russisch Roulette" zum besten Deutschrap-Album des Jahres machen.

Trackliste

  1. 1. Ihr Hurensöhne
  2. 2. 1999 Pt. I
  3. 3. Lass Die Affen Aus'm Zoo
  4. 4. Saudi Arabi Money Rich
  5. 5. Ich Rolle Mit Meim Besten
  6. 6. Engel Im Herz, Teufel Im Kopf
  7. 7. Russisch Roulette
  8. 8. 1999 Pt. II
  9. 9. Schmeiß Den Gasherd An
  10. 10. Azzlackz Sterben Jung 2
  11. 11. Anna Kournikova
  12. 12. Haram Para
  13. 13. Seele
  14. 14. 1999 Pt. III

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