3. Februar 2012

"Wir sind eine Hardcore-Band, kein Kindergarten"

Interview geführt von

Nach sieben langen Jahren melden sich die Krawallmänner vom Big Apple zurück. Im Gepäck: veränderte Sichtweisen, ein neues Album und ein Personalkarussell, das einfach nicht aufhören will, sich zu drehen.Im Biohazard-Universum ging es noch nie sonderlich geordnet zu. Warum auch? Schließlich sind die Brooklyn-Boys alles andere als eine handzahme Truppe. Da fliegen auch gerne die Fetzen. Der eine oder andere bleibt dabei dann auf der Strecke. Doch die letzten vier Jahre waren selbst für Biohazard-Verhältnisse an intensiven Begebenheiten, Eindrücken und Erlebnissen kaum zu übertreffen.

Zunächst kehrte Co-Founder Bobby Hambel nach fast zwölfjähriger Abstinenz zurück und bescherte der Combo so eine bahnbrechende Reunion-Tour rund um den Globus. Dann stampfte man mit "Reborn In Defiance" das erste gemeinsame Werk seit "State Of The World Address" aus dem Boden. Zu guter Letzt sprengt das wieder liebgewonnene Hardcore-Gebilde abermals der Umstand, dass Bassist Evan Seinfeld der Band den Rücken kehrt. Er gab vor wenigen Monaten bekannt, er wolle sich fortan verstärkt um andere Projekte kümmern.

Das schreit förmlich nach einem klärenden Gespräch. So treffen wir uns mit Gitarrist Billy Grazidaei im Berliner Astra, kurz bevor die Combo zusammen mit Suicidal Tendencies im Rahmen der Persistence-Tour die Hauptstadt-Bretter zum Bersten bringt.

Hi, Billy. Ziemliches Gewusel hier. Wie läuft die Tour bisher?

Chaotisch, aber geil! Wir haben jeden Abend über ein halbes Dutzend Bands am Start und Massen an tanzwütigen Fans zu versorgen.

Dass Evan mittlerweile nicht mehr mit von der Partie ist, war ja hinlänglich bekannt. Jedoch glänzt euer Drummer Danny Schuler ebenfalls mit Abwesenheit. Kannst du mich aufklären?

Nun, Danny weilt zu Hause bei seiner Frau. Beide sind vor einigen Tagen Eltern geworden. Eigentlich sollte das Baby schon wesentlich früher das Licht der Welt erblicken, doch irgendwie kam alles anders und die Geburt verzögerte sich, so dass wir ohne ihn losziehen mussten. Auf der Tour ist jetzt Danny Lamagna von Suicide City dabei. Er macht einen tollen Job, und wir sind froh, dass wir in der kurzen Zeit einen adäquaten Ersatz für Danny (Schuler) finden konnten.

Auch um euren neuen Bassisten Scott Roberts stand es vor kurz vor dem Tour-Start schlecht. Was war denn da los?

Oh, ja. Ich sage ja: Chaos! (lacht) Kurz bevor es in Belgien losgehen sollte, hatte er sich einen derben Virus eingefangen und musste damit ins Krankenhaus. Der Arzt dort wollte Scott eigentlich noch über Nacht beobachten lassen, weil er noch nicht wusste, worum es sich genau handelt. Aber Scott wollte natürlich die erste Show nicht verpassen, also hat er sich praktisch selbst wieder entlassen und trudelte eine halbe Stunde vor Konzertbeginn bei uns ein. Er ist schon ein echtes Tier. Nach dem Gig haben wir ihn dann wieder zurück ins Krankenhaus gefahren und am nächsten Morgen wieder eingesammelt.

Ist er denn mittlerweile wieder richtig fit?

Nicht wirklich, aber er zieht es durch. Ich meine, wir sind eine Hardcore-Band, kein Kindergarten. Er wird es überleben (lacht).

Ist diese aufopferungsvolle Hingabe mit ein Grund dafür, warum ihr euch letztlich für Scott als Evan-Ersatz entschieden habt?

Ja, absolut. Scott liebt die Band. Wir kennen uns schon ewig. Wir brauchten jemanden, der keine große Eingewöhnungszeit benötigt, um gleich durchstarten zu können. Wir haben ein neues Album am Start und sind jetzt erst mal viel unterwegs. Da ist es schon von Vorteil, wenn jemand dazu stößt, der gleich von Anfang an zu hundert Prozent dabei ist.

Das klingt nach einer Langzeitlösung.

Das hoffe ich. Aber die Vergangenheit hat gezeigt, dass alles passieren kann, und sich die Dinge von heute auf morgen wieder ändern können. Die Basis ist auf jeden Fall vorhanden, aber wer weiß? Ich denke nur noch von einen Tag auf den andern. Nur das Heute zählt.

"Ohne Bobby war es nicht vollkommen."

Das ist speziell in deinem Fall durchaus nachvollziehbar, wenn man bedenkt, was in den letzten Jahren alles so geschehen ist: die Rückkehr von Bobby, die weltweite Reunion-Tour, das erste Album in der Originalbesetzung seit "State Of The World Address", und vor einigen Monaten kehrte Evan der Band den Rücken. Da kam eine Menge zusammen, oder?

Definitiv. Das muss man auch alles erst einmal verarbeiten. Das Problem ist nur, dass wir keine Zeit haben uns zurückzulehnen, um geschehene Dinge in ihren Grundfesten zu analysieren. Die letzten vier Jahre waren auf jeden Fall mit die aufreibendsten, die wir bisher erlebt haben.

Was hat dich rückblickend am meisten überrascht?

Ganz klar, der Ausstieg von Evan.

Habt ihr noch Kontakt zueinander?

Momentan nicht wirklich. Wir haben ein paar Mal telefoniert. Viel mehr möchte ich dazu aber auch nicht sagen. Ich wünsche ihm alles Gute für die Zukunft. Er wird immer ein Teil der Familie sein und ich respektiere seine Entscheidung.

Nicht weniger überraschend kam die Reunion mit Bobby zustande. Viele hatten nach "Means To An End" die Befürchtung, dass es sich bei dem Album um das letzte Biohazard-Schaffen handeln könnte. Wie war die Stimmung seinerzeit?

Ich glaube, dass wir damals selber nicht genau wussten wie und ob es für die Band weitergehen würde. Ich bin stolz auf jedes Album, auf dem unser Name steht, aber es war immer klar, dass es ohne Bobby anders war. Es war gut, aber irgendwie nicht vollkommen. Ich habe damals oft mit Danny darüber gesprochen. Wir haben uns immer wieder vorgestellt, wie es wohl wäre, wenn Bobby wieder einsteigen würde.

Aber irgendwie hat es sich nicht ergeben und ich hatte die Hoffnung schon aufgegeben, als mich Danny irgendwann anrief und meinte, er habe gehört, dass sich Evan und Bobby zum Essen getroffen hätten. Ich fiel aus allen Wolken und konnte es zuerst gar nicht glauben, weil Bobbys Ausstieg damals primär mit seinem Verhältnis zu Evan zu tun hatte. Da gab es viele Spannungen und Revierkämpfe. Und plötzlich treffen sich die beiden einfach so zum Essen? Das war schon ziemlich abgefahren. Letztlich kam dann eins zum anderen. Wir trafen uns alle. Wir redeten viel und brachten so den Stein wieder ins Rollen.

The magic was back?

Yeah, the magic was back! Das trifft es auf den Punkt.

"Die Scheiße stinkt auch heute noch zum Himmel."

Erinnerst du dich noch, als ihr nach all den Gesprächen das erste Mal wieder gemeinsam die Instrumente umgeschnallt habt?

Natürlich, als wäre es gestern gewesen (lacht). Wir haben während der ersten Proben eigentlich mehr geredet als gespielt. Das alles gibt es auch auf Video. Vielleicht veröffentlichen wir das irgendwann einmal. Wir spielten drei oder vier Songs. Alles rumpelte noch ziemlich, aber der Vibe war wieder da. Das kann man schwer beschreiben. Es fühlte sich einfach gut und richtig an.

Es folgte die Reunion-Tour und mit "Reborn In Defiance", das erste gemeinsame Studioalbum in Originalbesetzung. Ein Album, das der unmittelbare Nachfolger von "State Of The World Address" hätte sein können. Wie siehst du das?

Ehrlich gesagt, haben wir uns im Vorfeld überhaupt keine Gedanken darüber gemacht, wie die Platte klingen soll. Es ging uns nicht darum, das heftigste, schnellste oder brutalste Biohazard-Album aufzunehmen. Wir haben uns einfach Song für Song nach vorne gearbeitet. Natürlich hat Bobbys Rückkehr wieder einen großen Teil der Vergangenheit aufleben lassen. Das hat uns in den letzten Jahren vielleicht etwas gefehlt. Aber wir sind nicht ins Studio spaziert und haben uns gesagt, wir müssen jetzt ein Album aufnehmen, das klingt, als hätte es die letzten fünf Scheiben nicht gegeben. Wir haben uns keinen Druck gemacht und die Dinge einfach laufen lassen.

Seit über zwanzig Jahren geht ihr inhaltlich auf die Barrikaden. Ist die Welt wirklich so schlecht, oder kommt man irgendwann aus der Protest-Haltung einfach nicht mehr raus?

Das ist einfach unser Leben. Das ist Biohazard. Man muss sich doch nur umschauen. Sobald irgendwo ein Problem gelöst ist, entstehen auf der anderen Seite der Welt zwei neue. Uns kotzen halt immer noch viele Dinge an, und die nennen wir beim Namen, that's it! Als wir anfingen, ging es in erster Linie um persönliche Dinge, die dich nerven, wenn du in einem Umfeld aufwächst, wo selten die Sonne scheint. Mittlerweile sind wir älter und reifer geworden, aber die Probleme werden dadurch nicht weniger. Sie verändern sich nur.

Inwiefern?

Ich nenne dir ein Beispiel. Ich habe eine Tochter. Sie ist zehn Jahre alt. Vor ein paar Monaten stand ich im Bad und rasierte mich. Plötzlich kam sie rein und nannte mich einen "Wastehead", weil ich beim Rasieren das Wasser laufen ließ und in der Küche Licht brannte, obwohl ich mich im Bad befand. Daraus entstand die Idee zum Song "Decay", wobei es in dem Song aber eher um das generelle Verschwenden unserer Ressourcen geht. Dieser Moment mit meiner Tochter lieferte aber die Grundidee zum Song.

Es gibt so viele Dinge, die ich mittlerweile komplexer betrachte, weil sich im Alter anfangen Hintergründe zu öffnen, verstehst du? Als ich mit 19 Jahren das erste Mal nach Europa kam, wussten viele der Kids in Deutschland, Dänemark oder sonst wo mehr über mein Land, als ich selber. Damals hat es mich einfach nur gewundert. Heute weiß ich warum. Ein Land, das mehr Geld in den Sport steckt als in die schulische Ausbildung, hat ein grundlegendes Problem. Darüber schreibe ich. Die Scheiße stinkt auch heute noch zum Himmel. Ich betrachte sie nur mittlerweile aus einer anderen Perspektive.

Dieser Ärger wird anno 2012 bisweilen aber ungewohnt melodisch vertont, wenn man sich mit einigen deiner Gesangspassagen auf dem neuen Album beschäftigt. Wie kam es dazu?

Ich habe melodischen Gesang nie als etwas empfunden, das innerhalb eines Biohazard-Songs funktionieren könnte. Ich habe meine Stimme gehasst, wenn ich versuchte, auch nur ansatzweise in diese Richtung zu gehen. Unser Produzent Toby Wright hat während der Aufnahmen viel mit mir und meiner Stimme gearbeitet, so dass ich irgendwann gemerkt habe, dass es einen Weg gibt, melodischen Gesang mit Aggression zu verbinden.

Da freut sich doch bestimmt auch die Familie drüber, wenn der Papa sich gesanglich mal von einer anderen Seite präsentiert. Billy Graziadei: Biohazard-Sänger, Familienvater, Jiu Jiutsu-Fanatiker und Inhaber zweier Musikstudios. Wo liegen im Jahr 2012 deine Prioritäten?

Die ersten Gedanken, die ich morgens habe, und die letzten abends vor dem Schlafengehen gehören meiner Familie. Sie ist das Wichtigste in meinem Leben, keine Frage. Alles andere ordnet sich ganz klar Biohazard unter.

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