laut.de-Kritik

Gebt der Boyband Instrumente und macht, dass es nicht peinlich ist.

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Es gibt viele Wege, auf denen sich Rock-Ästhetik und Pop-Appeal treffen können. Wenn auch die glorreichen Tage von Pop-Punk und die unglorreichen Tage von Post-Grunge seit gut einem Jahrzehnt vorüber sind, gibt es doch noch die ein oder anderen Künstler, die beide Sparten mit Erfolg bedienen. Twenty One Pilots sind kredible Rock-Musiker, die aber auch als kleine Boyband funktionieren. Harry Styles ging von einer wortwörtlichen Boyband hin zu einem coolen Indie-Kid, das allein mit hübschem Gesicht und Kenntnis von Fleetwood Mac musikalisch seine Hörerschaft findet. Wichtig scheint, dass man weder zulässt, dass der Pop-Kontext zu sehr an der Indie-Glaubwürdigkeit nagt, noch, dass man zu artistisch für den Mainstream wird.

Introducing: DAY6, eine koreanische Band von der K-Pop-Talentschmiede JYPE, die schon TWICE und EXO auf die Menschheit losgelassen hat. Auch hier begegnet uns eine Formel, die für TOP oder Harry Styles gilt: Prettyboys, die man schon einmal ohne Not anhimmeln kann, aber eben mit echten Instrumenten, echten Einflüssen und echten Gefühlen. Also so echt, wie die Umstände es zulassen. Dieses Framework in einem K-Pop-Kontext zu spielen, klingt nach höchster Schwierigkeitsstufe, denn eigentlich bleibt koreanische Popsound stromlinienförmig, Rock erscheint nicht unbedingt massentauglich. Und in einem Rock- oder Indie-Kontext wird man eine koreanische Boyband so bald sowieso nicht ernst nehmen. Oder?

"The Book Of Us: Entropy" hält vokal dagegen. Das dritte Studioalbum des Quintetts nimmt technisch versiertes Handwerkszeug und typisch koreanische Rockmusik à la Hyukoh und dreht sie durch einen globalen Filter. Von 80er-Rock mit einer guten Prise Glam auf dem Opener "Deep In Love" wird der Hörer mit Versatzstücken aus Emo und Pop-Punk über Punk bis hin zu Latin und Bossa Nova bombardiert, was zwar in einem etwas chaotischen Albumerlebnis konkludiert, dafür aber ein paar ordentliche Banger mit unerwarteten Einflüssen ermöglicht.

Point in Case ist der theatralische, Brendon Urie-eske Chorus auf "Sweet Chaos"; ansteckend, besonders dann, wenn er in die punkigen Afterhook-Gitarren purzelt und in den Strophen mit Pep fortgesetzt wird. Es sind traditionelle Tunes, die zwar oft nah an ihren Einflüssen stattfinden, dafür jedoch die Energie oben halten und immer einen gewissen Boygroup-Flair ausstrahlen. Und das ist im positivsten Sinn des Wortes gemeint: Selten klingen die Nummern nicht catchy, all das Genre-Hopping und die irritierenden Übergänge werden von einer Starpower zusammengeschweißt, die die gemeine Wald- und Wiesen-Rockband sich nicht zutrauen würde. Selbiges gilt für "Rescue Me", eine Nummer, die trotz Synth-Ambience an den Keys mit tiefen Drums und Hard Rock-igen Gitarren überraschend heavy ausfällt.

Die Verses klingen nach Kansas, die Riffs nach Billy Talent. Und die Vocals haben trotzdem K-Pop-Feuerkraft. Eine etwas eigenwillige Kombo, zugegeben. Aber sie bringen den Wagen zum Laufen. Ganz besonders gilt das für die zwei eindeutigen Highlights: "EMERGENCY" ist ein analoger, haptischer Synth-Pop-Banger, der zwar klar von einer Band auf echten Instrumenten performt wird, sich aber überhaupt nicht zu schade ist, elektronische Grooves mit Yellow Magic Orchestra-Energie heranzuziehen. Polares Gegenstück dazu ist die süße, minimalistische Indie-Ballade "About Now", die sich bewusst in zeitgemäßem DIY-Chic suhlt, genau die richtigen Regentag-Gitarrenlines und entspannten Vocals kombiniert. Könnte so auch auf einem Snail Mail- oder Clairo-Album landen.

Wenn das chaotisch klingt, sollte man noch einmal obendrauf betonen, dass DAY6 ihren Sound global öffnen. Das funktioniert auf "365247" zwar solide genug, hinterlässt aber doch einen absurden Beigeschmack, wenn der Latin Rock bis zum Reggaeton aufgemacht wird. Funktioniert als Popsong solide, ist aber einer der künstlicheren Momente, der unauthentischeren. Tatsächlich sind die globalen Crossovers konsistent die schwächeren. Was "365247" noch richtig macht, geht auf "Ouch" ziemlich daneben, und der Bossa Nova-Vibe wird weder sexy noch energetisch gespielt. Der Song versandet auf halber Strecke im Nichts. Besser bis solide laufen die Balladen im letzten Teil der Platte, die sich mehr oder weniger bewusst in Richtung J-Rock orientieren. Ein bisschen zu kompromissbereit, weswegen nichts so emotional wie King Gnu und auch nichts so schmissig wie Polkadot Stingray gerät.

Hätte dieser letzte Teil auch nur ein bisschen mehr Pep gehabt, wäre "The Book Of Us: Entropy" vielleicht das beste Projekt der Band. Trotzdem ist es ein Einstieg in das Material dieser seltsamen Alchemie-Kreation, der die Zeit wert ist. Die vier Nummern zum Einstieg sind bereits ein ziemlicher Ritt durch Genre, Ideen und Einflüsse, die die chaotische kreative Energie und die authentische Liebe zur Musik von DAY6 wunderbar umreißt. Mit "Sweet Chaos", "EMERGENCY" oder "About Now" sollten sich eine ganze Menge Hörer angesprochen fühlen, und selbst wenn man nicht mit dem eigenwilligen Gerne-Amalgam aus einer koreanischen Pop-Schmiede warm werden sollte, ist die Reise durch eine so manische Stil-Entropie schon für sich einen Blick wert.

Trackliste

  1. 1. Deep In Love
  2. 2. Sweet Chaos
  3. 3. EMERGENCY
  4. 4. Rescue Me
  5. 5. 365247
  6. 6. About Now
  7. 7. OUCH
  8. 8. Not Fine
  9. 9. Stop Talking
  10. 10. Not Mine
  11. 11. Like A Flowing Wind

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1 Kommentar

  • Vor 4 Jahren

    "Introducing: DAY6, eine koreanische Band von der K-Pop-Talentschmiede JYPE, ...Dieses Framework in einem K-Pop-Kontext zu spielen, klingt nach höchster Schwierigkeitsstufe, denn eigentlich bleibt koreanische Popsound stromlinienförmig, Rock erscheint nicht unbedingt massentauglich."

    Massentauglich muss es nicht sein, eine stabile Nische ist auch Gold wert und so breit ist diese Nische gar nicht, da sind nämlich auch schon andere wie N-Flying, The Rose, IZ und, wenn auch ohne Instrumente, Dreamcatcher!
    PS: das Entertainment schreibt sich JYP, nach den Initialen seines CEOs.