9. August 2022

"Im Idealfall kommt man nie irgendwo an"

Interview geführt von

Die guten Freunde und Musiker Jan Müller und Rasmus Engler haben mit "Vorglühen" einen Roman geschrieben, der vor kurzem erschienen ist. Ein Treffen mit den Neu-Autoren in Berlin.

Im ruhigen und kühlen Raum des Ullstein Verlags lässt es sich aushalten. Es ist ansonsten ein fast unerträglicher Tag Anfang Juli mit Temperaturen um die 35 Grad. Schon am Vortag verhindert die sengende Sonne meinen geplanten Besuch im Dinopark Germendorf. Dort drehten Tocotronic das Video zu "Ich Hasse Es hier". Deren Bassist Jan Müller sitzt mir nun komplett entspannt im "Guided By Voices"-Shirt gegenüber, neben ihm Rasmus Engler.

Letzterer wirkt etwas unsicher und schaut öfter mal auf den Boden. Vielleicht sind es die knapp zehn Jahre Altersunterschied oder einfach die Tatsache, dass Jan mit seiner Band solche Interview-Tage auswendig kennt. Nicht zu vergessen die Arbeit für seinen empfehlenswerten Interview-Podcast "Reflektor". Das Offenlegen der Seele und der eigenen Gedanken behagt nicht jedem. Rasmus ist Musiker und kein Moderator. Er spielte bei Gary und Herrenmagazin Schlagzeug, zusammen mit Hamburger Indie-Künstlern wie Lennart Thiem (Twisk) veröffentlichte er zudem diverse DIY-Zines wie "Die Tobende Mumie" oder "Transzendieren Exzess Pop". Jan und Rasmus kennen sich bereits länger - auch durch gemeinsame Bandprojekte wie Das Bierbeben - und hatten vor Jahren schon die Idee zu einem gemeinsamen Buch. "Vorglühen" liegt zum Zeitpunkt des Gesprächs bereits frisch im Druckwerk und sieht der Auslieferung entgegen.

Rasmus, Jan, ihr kennt euch ja bereits länger durch gemeinsame Projekte, ich glaube sogar durch eine gemeinsame Hamburger WG?

Rasmus: Wir haben uns bereits 1997 kennengelernt, auf einem Rolling Stones-Konzert.

Jan: Bei den Rolling Stones? Nee, das war 1998. Da bin ich mir aber ganz sicher.

Rasmus: Ne ne, 1997. Da würde ich sogar wetten!

Jan: Okay. Um was?

Rasmus: Öhm, um eine Rolling Stones-Karte?

Jan: Nein!? Willst du da wirklich nochmal da hin?

Rasmus: Nein.

Jan: Dann einfach so wetten?

Rasmus: Ja.

Jan: Naja, okay, also 1997 oder 1998 (es war tatsächlich 1998, Anm. d. Red.) haben wir uns jedenfalls kennengelernt. Da ist Rasmus nach Hamburg gezogen und ich wohnte ja bereits in einer WG in der Talstraße 24. Eine Mitbewohnerin zog aus und Rasmus zog so 1999 ein.

War nicht der Schauspieler Robert Stadlober euer Nachmieter?

Jan: Der war später mein Nachmieter! Rasmus, du hast ja dann mit ihm später zusammen gewohnt?

Rasmus: Ja genau. Und Christophe Stoll (Sänger der Band Nitrada, Gründer von 2n Rec). Den darf man auch nicht vergessen.

So wie ich hörte, plant er ja auch ein Buch?

Jan: Stimmt, das darf man wohl mittlerweile sagen und wir haben ja auch mit Daniel Wichmann einen gemeinsamen Literaturagenten. So kam der Kontakt zu ihm zustande, weil Robert ihm meine Kontaktdaten gab.

"Ich bin sehr gerne alleine"

Rasmus, wir waren beide noch sehr jung zu den Anfängen der Hamburger Schule. Woher kam dann dein Interesse für genau diese Zeit?

Rasmus: Das ist ja alles fiktional. Das möchte ich unterstreichen, dass es eben nicht genau unsere persönliche Geschichte ist. Ich finde es einfach interessant, sich mit einer Zeit zu beschäftigten, die man eben so gar nicht 1:1 miterlebt hat. Von daher würde ich sagen, dass das Jahr 1994 rein zufällig gewählt wurde.

Jan: Hmm ja, aber genau dieses Jahr war schon kurz vor dem Wendepunkt. Kurz darauf bekamen Tocotronic und viele andere Hamburger Bands plötzlich deutschlandweit diese Aufmerksamkeit. In "Vorglühen" gründet sich die Band auch gerade erst und kann bereits erste Erfolge verbuchen. Daher natürlich auch der Begriff "Vorglühen", weil das kurz vor diesem Ereignis stattfand.

Rasmus: Wenn ich so drüber nachdenke, war das auch diese Prä-Handy-Zeit und das Internet war auch noch gar nicht so ein großes Thema. Das war eben doch noch eine ganze andere Lebensrealität und die haben wir mit dem Roman in Erinnerung gebracht. Wie ist das nochmal, wenn sich die Romanfiguren halt eben nicht mal kurz über Handy absprechen oder ständig erreichbar sind.

Ja, irgendwie ist man dank Internet heute nie wirklich alleine. Jan, du warst ja bisher ständig durch Band und WG mit Menschen umgeben und für diesen Roman steht nun mit Rasmus ein Co-Autor an deiner Seite. Ist das womöglich so eine gewisse Angst vor dem Alleinsein?

Jan: Ne, überhaupt nicht! Ich bin sehr gerne alleine und liebe das. Das war schon als Kind so. Ich hatte als Kind zwar viele Freunde, aber habe dann auch sehr gerne einfach für mich mit meiner Schlumpf-Sammlung gespielt. Und dann kamen eben doch wieder die Kumpels und wollten rausgehen und spielen. In solchen Momenten hätte ich mir dann dieses Alleinsein gewünscht.

Was jetzt kreative Sachen angeht, mag ich aber natürlich schon das Gemeinsame. Rasmus und ich hatten ja schon gemeinsame Projekte, teilweise ernsthaft und dann einfach nur aus Spaß. Von daher bin ich froh, dass dieses Buch nun auch gemeinsam mit ihm geklappt hat. Viele haben uns fast schon überrascht gefragt, wie überhaupt dieses gemeinsame Schreiben funktioniert. Aber das ist natürlich eine ganz logische und natürliche Fortführung, weil wir eben schon häufig gemeinsame kreative Projekte gestartet haben. Gemeinsam Ideen zu entwickeln macht einfach großen Spaß!

"Schön, dass es die Zeit gab und schön, dass sie vorbei ist"

Wer hat eigentlich den allerersten Satz für den Roman geschrieben und gab es darum vielleicht auch Differenzen?

Rasmus: Tatsächlich war das erste Kapitel von der zeitlichen Abfolge und seiner Entstehung gar nicht das erste Kapitel.

Jan: Am Schluss wusste man auch nicht mehr, welche Sätze genau von wem stammten. Wir haben uns die immer zugesendet, drüber gelesen und etwas verändert. Ich weiß also wirklich nicht mehr genau, wer zuerst von uns beiden auf manche Ideen oder Sätze kam. Geht dir das eigentlich ähnlich, Rasmus?

Rasmus: Ja, absolut. Meine Freundin hat mich letztens noch gefragt: "Wer hat von Euch hat diese Stelle geschrieben?" und ich habe daraufhin vergeblich gegrübelt.

Jan: Einmal war es wirklich interessant, als ich dich ausdrücklich für die Romanfigur der Frau Balsac lobte und mir erst dann wieder einfiel, dass ich die ja ursprünglich entworfen habe.

Rasmus: Jan hatte mir auch mal ein Fragment geschickt, das ich dann ausgearbeitet habe, aber dann auch bestimmte Ausdrücke von ihm drin gelassen habe. Das hat komplett einander gegriffen.

Gibt es in dem Buch auch Insider, die wirklich nur enge Freunde, Bekannte oder die Familie verstehen? Da tauchen ja bestimmt auch Figuren auf, die innerhalb eurer Blase bekannt sind.

Jan (grinst): Wir haben uns inspirieren lassen.

Rasmus: Da sind auch Figuren drin, bei denen manche Leute denken: Ach kommt, das habt ihr euch nun wirklich komplett ausgedacht! Ein paar Figuren könnte man durchaus wiedererkennen und ein paar Situationen haben wir auch so ähnlich erlebt, aber eben nicht haargenau.

Jan: Viele haben direkt vermutet, dass ich den großen autobiografischen Roman geschrieben habe und mir ist es wichtig, das ausdrücklich zu verneinen. Es trägt sicherlich den damaligen Zeitgeist in sich, aber es ging uns ja eher um die Story an sich und witzige, tragische oder auch melancholische Dinge. Das wäre mir auch zu wenig, nur bereits erlebte Dinge komplett zu übernehmen.

Ich habe gestern noch auf YouTube diese "So jung kommen wir nicht mehr zusammen"-Doku über Jan gefunden ...

Jan (grinst zu Rasmus rüber): Aah, wir wurden entschlüsselt!

Ähm nee. Ihr könnt mir aber später nochmal den Schlüssel hinlegen. "So jung kommen wir nicht mehr zusammen" handelt jedenfalls ähnlich wie das Buch auch von einer Zeit der Findung und der Rebellion, endet aber mit der Vermutung, dass man nun angekommen sei. Aber kommt man wirklich im Leben irgendwann so richtig an?

Jan: Im Idealfall kommt man nie irgendwo komplett an. Angekommen sein klingt für mich nach Stillstand. Diesen Zustand möchte ich gar nicht erleiden. Ich kann natürlich nicht verleugnen, dass ich mit 51 schon erwachsen bin. Jeder hat andere Vorstellungen, wie dieses Erwachsenwerden aussieht, gerade angesichts unserer Tätigkeiten.

Ich komme noch einmal auf die eben erwähnte Entschlüsselung zurück. Was genau hätte ich da wohl entschlüsselt?

Rasmus: Also ich weiß es auch nicht!

Jan: Wenn Du diese Doku nochmal anschaust, fällt dir bestimmt ein Zwillingspaar auf, das eventuell, also vielleicht so ähnlich im Roman auftaucht. Das mal so als kleiner Hinweis!

Der Roman spielt in der Vergangenheit. Besteht da nicht die Gefahr, auch fiktiv einiges zu verklären und zu beschönigen?

Jan: Ich bin schon der Meinung, dass es eine tolle Zeit war und aktuell ist die Weltlage nicht gerade angenehm. So gesehen war das natürlich alles unbeschwerter und wir haben da in so einer kleinen Welt gelebt. Mit dem Buch haben wir diesem Zeitabschnitt ein liebevolles Denkmal gesetzt. Oder was meinst du, Rasmus?

Rasmus: Schön, dass es die Zeit gab und schön, dass sie vorbei ist. (lacht)

Jan: Solche Geschichten wie in dem Buch bleiben ja auch zeitübergreifend. Es passiert immer noch, dass jemand seinen Lebensmittelpunkt in eine andere Stadt verlagert, Probleme mit Beruf, Studium oder Ausbildung hat oder eben unglücklich verliebt ist. So etwas ist dann ja nicht zeitgebunden. "Vorglühen" hätte auch in einer anderen Zeit spielen können und es hätte trotzdem noch funktioniert.

Stimmt. Gerade als junger Mensch ist man ständig in Bewegung. Ich musste so mit Anfang 20 auch schnell weg aus der furchtbaren Siegerländer Provinz und ab nach Heidelberg. Von dort dann später nach Duisburg.

Jan: Was war denn schöner? Duisburg, oder?

Na auf jeden Fall. Der Blick runter auf dieses hässliche Heidelberg mit seinen abstoßenden Industrieanlagen war schon ziemlich schwer zu ertragen, dagegen habe ich das einladende Idyll in Duisburg wirklich sehr genossen. Aber gab es auch Ideen für die Geschichte, die dann doch wieder gecancelt wurden?

Jan: Man musste erstmal eine Sprache für das Buch finden. Es gab schon Stellen, wo die Figur nicht mehr stimmig war und worübr man dann sprechen musste. Da ist man einen kurzen Moment vielleicht etwas gekränkt und wirft es enttäuscht über Bord. Aber dann muss man sich zusammen reißen und einsehen, dass der andere auch mal recht hat. Marion Wichmann, unsere Lektorin, hat natürlich nochmal abschließend drüber geschaut, erstaunlich wenig geändert, aber dafür sehr präzise Hinweise gegeben, wie wir noch etwas ändern können.

Abschließende Frage, weil ihr immer so das Gemeinsame und die Seelenverwandtschaft betont: Seid ihr nun endgültig zu einer Einheit verschmolzen?

Jan: So weit würde ich nicht gehen!

Keine gemeinsamen Urlaube oder Filmabende?

Rasmus: Ah doch! Wir haben neulich gemeinsam diese GG .Allin-Doku gesehen!

Jan: Stimmt, aber nicht diese amerikanische Doku! Die war aus Dänemark (The Allins, Anm. der Red). Die handelt nämlich vom Bruder GG Allins und ist wirklich sehr berührend und bemüht auch nicht dieses "Hater Of The Nation"-Klischee. Er kam aus einem sehr schwierigen Elternhaus, mit einem gewalttätigen und christlich-fanatischen Vater. Sein Name kommt ja auch von Jesus und seine Mutter hat ihn deswegen später in Kevin umbenannt. Schau dir das auf jeden Fall mal an!

Weiterlesen

LAUT.DE-PORTRÄT Tocotronic

Sie sind die Lieblinge des Feuilletons, die Institution des Indie-Pop, die einstigen Musterknaben der sogenannten Hamburger Schule - Tocotronic zählen …

1 Kommentar mit 9 Antworten