laut.de-Kritik

Die Zukunft ist horny.

Review von

Der Klang des Hyperpops hat sich im letzten Jahr gefestigt. Objekt für die nostalgische Übersteuerung von 2000er-Popkultur wurde bei 100 Gecs, Sophie, Charli XCX und A.G. Cook alles, was den weißen Londoner Produzenten und den weißen britischen Sängerinnen aus ihren Teenager-Jahren noch im Hinterkopf spukte. Shygirl bringt dem Genre endlich eine frische Perspektive, die es dringend braucht: Eine schwarze Rapperin aus London, die dieselbe Methode der Vaporwavisierung auf 2000er-R'n'B und Ringtone-Hip Hop anwendet. Dabei kommt eine EP mit PC Pop-Club-Bangern zustande, die gleichzeitig düstere Revivals der Clubs des letzten Jahrzehnts feiert und Rap so rallig spielt, wie man ihn selten gehört hat.

Die hauptsächlich von Sega Bodega stammende Produktion verwendet erst einmal Genre-typische Kniffe, sie pitcht Vocal-Samples über House-Tracks, bettet Noise-Loops auf Rubber-Bass und lässt auditive Anarchie irgendwie harmonisch erscheinen. Aber Shygirl ordnet sich dem Sound nicht unter, sondern legt einen eigenen Fuß auf das Parkett. Aggressiv und hungrig spittet sie über Hook-Ups auf Tanzflächen und Dates mit reichen Typen in schnellen Autos. Mit verschiedenen Alter-Egos imaginiert sie ein Nachtleben, im einen Moment traumnovellenheiß und im anderen Moment hexenzirkeldüster.

Auf "Slime" adaptiert die Rapperin Young Thug-Lingo, um mit Dominatrix-Ausstrahlung aus der Allnacht zu erzählen und Unsympathen in den Grund zu treten. Die Moll-Melodien über den gleitenden Bass klingen wie die futuristische Interpretation von einem D4L-Songs, die Rich Girl-Version des Crunk-Spirits. Witch House-Reverb füllt die Lücken der früher etwas ungelenken Produktion, elektronische Kicks geben dem ganzen Dancefloor-Tauglichkeit. Wenn der Song zuletzt in elektrisierende und suggestive Gesangs-Pattern übergeht, nur um wieder auf die Phrase "She's for the streets, bitch" zu enden, spürt man, wie vielschichtig die Subkultur und Shygirls Person zusammenspielen.

Die fühlt sich wie eine finale Überspitzung Hip Hop-typischer Tropen an, vor allem wenn sie sich auf "Freak" als hypersexueller Daddy des Dancefloors hinstellt, über den sie als unbeugsamer MC mit eisernem Kommando verfügt. Über eine minimal pulsierende 4 to the Floor-808 spittet sie Sexfantasien, fast zu schnell vorbeiziehend, um sie wirklich wahrzunehmen, und die Dramaturgie des Songs funktioniert beeindruckend. Das Songwriting erinnert an die besten Momente eines Easyfuns, während Shygirl dem Genre einen so noch nicht gehörten Stempel aufdrückt: Eine Melange an Fantasien, gespiegelt in einem unterschwellig ironisch gebrochenen Nostalgieseufzer an die Musik des letzten Jahrzehnts.

Überrascht es also, dass der Sound, der zuletzt auch mit Rico Nasty, Cupcakke und Brooke Candy ähnliche Protagonisten zur Kollaboration gefunden hat, nun einen hauseigenen Sex-Jam-Barden hervorbringt? Shygirl wirkt wie die logische Entwicklung eine der lebendigsten Strömungen der aktuellen Musikszene und zeigt nicht nur eine wahnsinnig fluide Fusion aus Techno, R'n'B, House und Hip Hop, sondern auch eine düstere, selbstbewusste und eigenwillige Vision für die eigene Persona. "Alias" ist ein kurzer, intensiver Ritt durch überzeichnete, skurrile und verdammt eingängige Perspektiven der weiblichen Horniness, dem absolut egal ist, was die Außenwelt davon denkt. Die Außenwelt gilt in dieser Dimension nämlich nicht wahnsinnig viel.

Trackliste

  1. 1. Twelve
  2. 2. Slime
  3. 3. Freak
  4. 4. Tasty
  5. 5. Leng
  6. 6. Bawdy
  7. 7. Siren

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