laut.de-Kritik

Die Gel-Frisur glänzt wie die Sterne in Rimini.

Review von

Redaktion: Möchtest du Schlager rezensieren?
Ich: Nein.
Redaktion: Musst du aber.
Ich: Wer oder was ist Roy Bianco & Die Abbrunzati Boys? Italienisch?
Redaktion: Nee, ironisch.

So ungefähr trug sich ein Chatverlauf kurz vor dem Osterfest zu. Nie habe ich die Leiden unseres Herrn Jesus mehr spüren können als bei der Ankunft eines Streams, der mir die Verdammnis ankündigt. Unter allen Autor*innen dürfte ich wahrscheinlich die unpassendste Person für Musik sein, die Spaß vermitteln möchte, erst recht nicht, wenn die aus einem sehr verhassten Genre kommt. Aber ok, der Heiland musste auch für unseren Bullshit sterben und im Gegensatz zum langsamen Dahinsiechen am Kreuz nehme ich lieber diese Pein für meinen Arbeitgeber in Kauf.

So jedenfalls das Mindset beim Betrachten der Pressefotos: Aufreizend gut gelaunte Menschen, hihi, die, hoho, 80er-Pastell-Anzüge tragen. Laut Pressetext in den frühen 80ern gegründet, in den 90ern aufgelöst und seit 2016 auf Comeback-Tour. Neben der teutonischen Paradedisziplin Schlager häufen sich also die Hinweise, dass es hier gleich noch ganz besonders lustig wird. Okay, kein Problem, der Verriss, nach dem alle so gieren, ist im Kopf schon fast fertig formuliert und sicher schnell heruntergeschrieben.

Genau eine Stunde später: Habe ich wirklich gelacht, mitgewippt und fand das gar nicht so schlimm? Nein, so weit darf es nicht kommen. Also noch mal zurück zur grummeligen Ausgangsposition und noch irgendeine Info im Netz finden, mittels derer ich den Endgegner Alman-Witzigkeit besiegen kann. Die Überraschung kommt dann auch sofort: Ein bis dato gar nicht mal so bekanntes Interview mit dem Bayerischen Rundfunk von 2014 zeigt Roy Bianco als eher schüchternen Sänger Tobias, der sehr höflich und eloquent über den verwirrenden Bandnamen, angepasste Popmusik und Begegnungen mit NoFX spricht. Hier weiß also jemand ganz genau, wie die Regeln des Business funktionieren und wie man diese geschickt dekonstruiert. Die beste Band Bayerns wollte man damals werden, mit dem sagenhaften Platz 1 in den aktuellen deutschen Albumcharts landet die Band nun sogar vor Tools "Fear Inoculum"-Box.

Ich möchte es ja auch nicht mögen, aber schon beim ersten Song "Brennerautobahn" kommen direkt Erinnerungen an die Erste Allgemeine Verunsicherung hoch. Die Österreicher mussten gerade in Deutschland immer damit leben, als Jux-Kapelle vermarktet zu werden. Der satirische Anarcho-Humor ging meist völlig unter. Gutes Geld verdienten sie trotzdem und Fans schätzten den ganz eigenen Humor. Also warum nicht Urlaub von Deutschland machen und ab mit den Boys über den Brenner? Das Lachen wiederfinden, so herrlich schmierig es auch rüber kommt. "Kaputtes Klima? Kein Problem / Duetto Sport Cabriolet / Reiß' das Verdeck nach hinten, schrei': Jеtzt sind wir wieder frei!" Recht haben sie, was hat die Natur jemals für uns getan? Vollgas. Atme den Geruch von Freiheit und Benzin, Umwelt. "Diе schnellen Autos, Ferrari von rechts / Die schnellen Autos, Lamborghini von links." Hier ist man schließlich unter Brüdern. Fun, Fun, Fun auf der Autobahn. Und es wippt der Fuß auf dem Gaspedal.

"Quanto Costa", was kostet der Eintritt ins Abenteuerland? Bei Pur natürlich und absolut nachvollziehbar den Verstand. Wie schafft man das auch sonst. Hier ist der Tribut nicht so hoch. Vielmehr spürt man den Ursprung einer Band, die durchaus versiert mit ihren Instrumenten umzugehen weiß. Das ist nicht weit von Phoenix entfernt, die ihren Kitsch auch mit viel Pop-Kenntnis aufwerten. Viel zu gut für Schlager ist das. Hier fällt schon die Maske.

Auch "Bella Napoli" klingt rein instrumental nach Kanada und nicht nach fieser Schickeria-Attitüde oder Pizzabude. Vergiss den Text und denk an Arcade Fire oder Broken Social Scene. So viel Spaß hatte ich selbst mit den Originalen seit den Nullerjahren nicht mehr. Auch ohne Ironie-Ebene klappt das hervorragend und immer wieder singe ich "Bella Napoli". Ich nehme den Abbrunzati Boys sogar ab, dass im Schatten des Vesuvs alles gut wird, trotz Mafia und hoher Arbeitslosigkeit. Mein Herz schlägt nun wirklich in azurblau. Ich möchte auf einem weißen Pferd am Strand von Napoli reiten und den lachenden Kindern Süßigkeiten zuwerfen. Wer darüber wahrscheinlich nicht lacht: Die Neapolitaner, denen der Struggle jeden Tag ins Gesicht kotzt.

Was die dümmliche-naive Kunstfigur Roy Bianco natürlich nicht stört, seine Postkarten-Schlagermotive über ein Land zu singen, über das er genau nur seine Klischee-Vorstellung im Kopf behält. Immer wieder gibt es in den Texten Hinweise, dass ihm die Frauen trotz seines Charmes davon laufen. Schade, dabei glänzt die Gel-Frisur wie die Sterne in Rimini. Nur einmal holt es Roy B. aus seinen deutschen Bieder-Träumen. Wenn er in "Werbung" in einem Ristorante eine Limonade mit dem besten Mineralwasser von Monte Pellegrino verlangt und sein Kompagnon einfach eine Seven-Up bestellt. Einen herrlich ekligen Fake-Werbespot in 80er-VHS-Ästhetik gibt es on top auf Youtube. Spritzig wie eine Zitrone von der Amalfiküste oder damals der Dia-Abend bei Onkel Günther. Da hatte der noch Haare auf dem Kopf und auf der sonnenverbrannten Brust. In seiner verspiegelten Sonnenbrille konnte man den Massentourismus-Strand von Jesso erkennen, im Auto lief "Carbonara" von Spliff.

Die Erinnerungen daran sind so schön wie weiße Socken in Birkenstock, aber auch etwas warm-nostalgisch. So steht man am Ende dieser wunderlichen Reise Hand in Hand in Rimini und singt in glockenheller Stimme ein "Sic Transit Gloria Mundi", übersetzt: "Oh wie schnell vergeht der Ruhm der Welt". Ich habe Tränen in den Augen, ob aufgrund der heißen Adria-Sonne oder der verzweifelt-glücklichen Wirrnis nach Monaten der Bitterkeit. Es ist egal, ich bin am Ende dieses Albums irgendwie sehr glücklich. Mille Grazie, liebe Redaktion. Ich hätte diese Abfahrt in Richtung Spaß sonst verpasst. "Mille Grazie" wird mein Sommeralbum 2022, selbst wenn der Urlaub irgendwann endet.

Trackliste

  1. 1. Brennerautobahn
  2. 2. Quanto Costa
  3. 3. Werbung
  4. 4. Bella Napoli
  5. 5. Tage am Pool
  6. 6. Miami Beach
  7. 7. Radio Ipanema
  8. 8. Colapablo
  9. 9. Giro
  10. 10. Amore Sul Mare
  11. 11. Cosenza bei Nacht
  12. 12. Sprizz
  13. 13. Sic Transit Gloria Mundi

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