laut.de-Kritik

Schönheit, Schmerz und Blut - ein großartiges Album.

Review von

Vorfreude macht sich breit, als das zweite Album der weit und breit gefeierten Poliça auf dem Tisch liegt. Das Debüt, das 2012 Musikpresse wie Publikum verblüffte, legte die Messlatte in scheinbar kaum erreichbare Höhen. Deshalb mengt sich zur Freude auch ein bisschen Sorge.

Besonders, weil Channy Leaneagh und Ryan Olson ihren Zweitling "Shulamith" nur anderthalb Jahre nach dem ersten Album vorlegen. Ist da genügend Zeit vergangen, um sich vom Druck, den Hype und Euphorie erzeugten, frei zu machen? Oder ist das gerade die richtige Zeitspanne, um - beflügelt von der kollektiven Begeisterung - weiter auf der hohen Welle zu schwimmen?

Offenbar trifft Letzteres zu. Die Stilprinzipien, mit denen Olson und Leaneagh arbeiten, sind dieselben geblieben. Der eigentümlichen Mischung aus R'n'B-verwandten Rhythmusmustern, verspulter Elektronika, funk-artigen Basslines und Soul-Fragmenten bleibt die Band genauso treu wie der stimmlichen Bearbeitungstechnik: Leaneaghs Gesang, mit Autotune stark verfremdet und verhallt, umgibt eine ätherische, fast metaphysisch anmutende Aura. Damit haben Poliça eine Kombination aus musikalischen Elementen geschaffen, die auch in der Fortsetzung unwiderstehlich bleibt.

Mag der Opener "Chain My Name" mit zackigem Tempo und seiner penetrant, leicht käsigen Synthie-Akkordfolge zunächst etwas irritieren, wird spätestens mit "Smug" klar, dass Poliça keineswegs weichgespült wurden. Mit der Dichte, die Schlagzeug, elektronische Effekte, hallende Klangkulisse und druckvoller Bass entwickeln, steht das Stück recht nah am Trip Hop.

Trotz der Konsequenz, mit der Poliça ihren auf "Give You The Ghost" eingeführten Sound weiterverfolgen, bedeutet "Shulamith" keinesfalls Stagnation. Die dröhnenden Drums und oft ins Windschiefe abdriftende Synthie-Szenerie auf "Vegas", die trippelnden und klackernden Percussions und schräg schimmernden Keys auf "Torre" oder die finster pumpenden Elektrobeats auf "Spilling Lines" - die Band kreiert Soundkomplexe, die so einnehmend wie unverwechselbar klingen.

Schon die Songtitel lassen erahnen, dass keineswegs emotionales Zuckerschlecken ansteht: "Warrior Lord", "Very Cruel", "Trippin" - die Tracks erzählen Geschichten von Verwirrung, Selbstzerfleischung und Hilflosigkeit. In fünf schlichten Worten fasst Leaneagh das Ideenkonstrukt hinter "Shulamith" zusammen: "Drums. Bass. Synths. Me, Women." Insbesondere Letzteres, die komplexen Beziehungen zwischen Selbst, Frauenbildern und Erwartungshaltungen verhandelt die Sängerin in ihren Lyrics. Ein Aspekt, der Poliça von zahlreichen Kollegen abhebt, ist auch die intensive Textarbeit.

Darin geht es vor allem um die innere Auseinandersetzung mit dem Ich, um intime Introspektion, und weniger um den offenen Kampf für Geschlechtergerechtigkeit. "I don't like when you tell the boys that I'm your girl / Wear me round like a lucky charm / With plastic pearls".

Passenderweise steht Shulamith Firestone Namenspatin für das Album – eine von Leaneagh tief bewunderte, kürzlich verstorbene Frauenrechtlerin, deren Utopie von einer Welt, in der Geschlecht keine gesellschaftliche Rolle mehr spielt, gerade heute noch Relevanz besitzt. Schade und zugleich bezeichnend, dass diese hochinteressante Verbindung von Firestones Ideen und Leaneaghs Lyrics in der Promotion des Albums ein wenig untergeht.

In eine ähnliche Kerbe schlagen iTunes und Amazon, die das Plattencover verpixeln, weil es gegen ihre Richtlinien verstoße. Zu sehen sind Rücken und Hinterkopf einer Frau, deren Haare, Hals und Schultern voller blutrotem Haarfärbemittel sind. Ein ausdrucksstarkes, schonungsloses Bild, zu dem Leaneagh meint: "Es zeigt etwas, das Menschen tun, um sich schön zu machen, aber es ist auch gewissermaßen brutal. Der Lebenszyklus einer Frau beinhaltet Blut, sehr viel Blut, und den Versuch, schön zu sein. Und Blut."

Wie bildlich Schmerz und Blut werden, denen Poliça in ihren Texten so viel Raum geben, veranschaulicht das Video zu "Tiff", das einer ähnlich gewaltvollen Ästhetik frönt. Zu schepperndem Dubstep-Beat, trägem Bass und düsteren Vocals, begleitet von Bon Ivers Justin Vernon, der sich als Fan der ersten Stunde outete, schlägt, würgt und foltert Leaneagh in einer Doppelrolle sich selbst bis zum Äußersten - das in Nahaufnahme anzuschauen, stellt eine Herausforderung dar.

"I'm a pawn in the hype machine", stellt die Sängerin folgerichtig fest. Die Qualen dieses Daseins in der Öffentlichkeit, die durch ihre Geschlechterperformance unter dem omnipräsenten male gaze hundertfach verkompliziert werden, sind auf "Shulamith" fast körperlich spürbar.

So ergreift einen, wie beim Debüt, die Ehrfurcht. Dieses fesselnde Werk hält in Sound und Lyrics auf bemerkenswerte Art und Weise all die Schönheit, Angst und Verzweiflung eines menschlichen Lebens fest. Insbesondere spiegelt es ein Leben als Frau in einer Gesellschaft, die Gleichberechtigung von den Dächern pfeift und dabei im Keller weiter fröhlich Objektivierung, Paternalismus und Androzentrismus betreibt.

Trackliste

  1. 1. Chain My Name
  2. 2. Smug
  3. 3. Vegas
  4. 4. Warrior Lord
  5. 5. Very Cruel
  6. 6. Torre
  7. 7. Trippin
  8. 8. Tiff (feat. Justin Vernon)
  9. 9. Spilling Lines
  10. 10. Matty
  11. 11. I Need $
  12. 12. So Leave

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