Einst Untergrund, inzwischen längst Mainstream: Wie konnte das nur passieren? Jan Wehn und Davide Bortot lassen über hundert Zeitzeugen sprechen.

Berlin (dani) - Braucht Deutschrap wirklich ein Geschichtsbuch? Naja, sagen wir so: Bisher gab es halt keins, das die Entstehung von Hip Hop in Deutschland einigermaßen nachvollziehbar aufrollte. Das Genre ist nun aber von einer Untergrund-Nerd-Liebhaberei zur den Mainstream beherrschenden (längst nicht mehr nur Jugend-)Kultur aufgestiegen. Es hat verdient, dass jemand beleuchtet, wie um alles in der Welt das passieren konnte.

Mit "Könnt ihr uns hören?" (Ullstein Fünf, 464 Seiten, 20 Euro) haben Jan Wehn und Davide Bortot genau das getan. Sie haben sich der Mammutaufgabe gestellt - und sich dafür vermutlich oft genug selbst verflucht.

Deutschraps "Verschwende deine Jugend"

In diesem Buch steckt schier unvorstellbare Arbeit. Mit weit über hundert Protagonistinnen und Protagonisten der deutschen Rap-Szene, darunter Rapper, Produzenten, DJs, Labelbetreiber, Veranstalter und Journalisten, haben die beiden Autoren ausführliche Interviews geführt, um hinterher in schönster "Verschwende deine Jugend"-Tradition ausschließlich aus Zitaten der Zeitzeugen den Lauf der Dinge zu rekonstruieren.

Wehns und Bortots eigene Sachkunde steht zwar außer Frage, trotzdem: "Wir sind beide zu jung, um die Anfänge selbst miterlebt zu haben", erklärten sie bei der Premieren-Lesung ihrer "Oral History des deutschen Rap" am Dienstag in Berlin. "Es wäre uns irgendwie vermessen vorgekommen, der Geschichte aus unserer Perspektive einen theoretischen Überbau zu verpassen."

So überlassen die Autoren denjenigen das Mic, die tatsächlich dabei gewesen sind. Angefangen bei Cora E. Sie erzählt, wie sie 1981 als 13-Jährige ihrer Verehrung für Marius Müller-Westernhagen Ausdruck verleihen wollte, indem sie vor seinem Auftritt seinen Namen an die Wand der Kieler Ostseehalle malte - und in der Berichterstattung darüber dann erstmals über den Begriff "Graffiti" stolperte. Ein so bezeichnender wie würdiger Einstieg, lieferte Cora Wehn und Bortot auch den Titel ihres Buches.

Eine Liste der Mitwirkenden erspare ich euch, die könnt ihr euch aus dem Werbevideo des Verlags ziehen. Nur soviel: Es sind viele. Trotzdem fehlen natürlich mindestens genauso viele: Mansha Friedrich zum Beispiel ist zwar immerhin mit Foto verewigt (Extra-Lob dafür!), wurde aber - wie üblich - auch hier wieder nicht gefragt. Andere dagegen wurden gefragt, wollten sich aber nicht beteiligen.

Ohne Torch, Fler und Bushido

Nicht vertreten ist ausgerechnet Deutschraps Übervater Torch. Den habe ich allerdings überhaupt nicht vermisst, weil seine Sicht der Geschichte - von ihm selbst und allen anderen außer Mansha - inzwischen wirklich oft genug wiedergekäut worden ist. Fler ist auch nicht dabei. Er gab zwar ein dreistündiges (bestimmt episches) Interview für das Buch, zog im letzten Moment aber doch seine Zustimmung zurück, weil "ihm das Konzept dann irgendwie doch nicht so gut gefallen" habe, so die Autoren.

Bushido? "Der hatte wohl gerade andere Sorgen." Auch die ganz großen Klickzahlengeneratoren der letzten Monate sind nicht vertreten. "Man muss dazu aber auch sagen, dass wir schon fertig waren, als Capital Bra so richtig durchgestartet ist."

"Der erste Entwurf war doppelt so dick"

Ganze Handlungsstränge, etwa die Geschichte des Untergrund-Vertriebs Distributionz, fielen den Beschränkungen des Formats zum Opfer. Der erste Entwurf, berichten Wehn und Bortot, habe doppelt so viele Seiten umfasst wie die immer noch üppigen 464, die am Ende übrig geblieben sind. Klar, man könnte immer noch mehr und immer noch andere Storys erzählen. Aber auch so raubt die in "Könnt ihr uns hören?" verballerte Fleißarbeit jedem, der weiß, wie viel Zeit allein schon für das Transkribieren von Interviews draufgeht, schlicht den Atem.

Um so besser, dass dabei ein wirklich lohnendes Buch herausgekommen ist, das sich gerade seiner Zitathäppchenstruktur wegen mühelos verschlucken lässt. Natürlich öffnet "Könnt ihr uns hören?" Menschen, die sich mit deutschem Hip Hop mehr als nur oberflächlich befasst haben, keine neuen Horizonte mehr. Wer sich für Deutschraps Geschichte interessiert, weiß längst ungefähr, wo dieser Hase hergekommen und wo er entlang gelaufen ist.

Juckt keinen? Von wegen!

Der semi-handliche Schinken vollführt aber tatsächlich den Spagat, zwei ganz verschiedene Leserlager gleichermaßen bestens zu unterhalten: Die, die längst Bescheid wissen, können sich bei der Lektüre hemmungslos seligen Weißt-du-noch-Gedanken hingeben. Wer (noch) nicht Bescheid wusste, darf sich hernach getrost deutlich schlauer fühlen als zuvor, if you don't know now you know.

Zugegeben: Völlig daneben lag ich bei der Einschätzung der Reichweite. Ich dachte ursprünglich, ein solches Buch ist zwar bestimmt eine wundervolle Sache, juckt aber außer den Mitwirkenden und einer Handvoll ähnlich gepolter Nerds doch wohl kaum eine Sau. Holla, Spiegel-Bestsellerlisten-Platzierung in my face: "Könnt ihr uns hören?" wird kommende Woche auf Rang sechs einsteigen.

Fragen Sie Ralf Theil!

Möglicherweise geht jetzt doch eine leise Hoffnung in Erfüllung: Nix gegen Falk Schacht und Marcus Staiger, wirklich nicht. Aber wenn künftig irgendjemand einen "Rap-Experten" sucht, fragt er nach "Könnt ihr uns hören?" vielleicht trotzdem einfach mal Ralf Theil.

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