21. September 2012

"Ich habe kein Recht, mich für etwas Besseres zu halten"

Interview geführt von

Mit "The Spirit Indestructible" kehrt Nelly Furtado zurück ins Rampenlicht. Erstmals seit ihrem Erfolgsalbum "Loose" tritt die Kanadierin mit portugiesischen Wurzeln wieder mit englischsprachigem Material an die Öffentlichkeit.Sechs Jahre ist es her, seit Nelly Furtado mit "Loose" der ultimative internationale Durchbruch gelang. Danach ließ es die Kanadierin eher etwas ruhiger angehen. Es folgten das eher bedächtige, spanischsprachige "Mi Plan", einige kleinere Schauspielauftritte und die Greatest Hits-Compilation "The Best Of Nelly Furtado".

So richtig spannend wurde es erst wieder, als 2011 herauskam, dass die Sängerin eine millionenschwere Gage für ein Privatkonzert in Italien für wohltätige Zwecke spenden wolle. Die hatte ihr der Clan des libyschen Machthabers Muammar al-Gaddafi bezahlt, wie Nelly Furtado später selbst via Twitter verkündete. Leider können wir dieser Geschichte während unseres Gesprächs mit Nelly Furtado - anlässlich der Veröffentlichung ihres neuen Albums "The Spirit Indestructible" in Berlin – nicht weiter auf den Grund gehen. Die Verantwortlichen im Hintergrund erklären die Kombination Gaddafi/Furtado bereits im Vorfeld zum Tabuthema. So verwundert es nicht, dass wir auf eine bestens gelaunte Sängerin treffen.

Hallo Nelly, dein letzter englischsprachiger Studioauftritt liegt sechs Jahre zurück. Wolltest du nach dem immensen Erfolg von "Loose" bewusst einen Gang zurückschalten?

Die Zeit kurz nach dem Release von "Loose" war schon heftig. Ich war plötzlich in aller Munde. Ich war ein Star und mein Kalender quoll nur so über vor Terminen. Das war eine hektische Zeit. Als ich dann Ende 2008 begann, mich mit dem nächsten Album auseinander zu setzen, spürte ich einfach das Verlangen, mir endlich einen meiner größten Kindheitsträume zu erfüllen. Das hatte wenig mit dem Hype um "Loose" zu tun, auch wenn ich merkte, dass ich zu dieser Zeit Probleme hatte, meine Gefühle in englischsprachigen Texten richtig zum Ausdruck zu bringen. Ich wollte endlich ein spanischsprachiges Album aufnehmen. Und während dieser Zeit passte einfach alles zusammen.

Die Belohnung folgte auf dem Fuße: ein Latin-Grammy.

Oh, ja. Das war fantastisch. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal so geweint habe, wie an jenem Abend (lacht). Alleine die Nominierung war schon unglaublich. Es gab einige Menschen in meinem Umfeld, die meine Entscheidung, nach dem Erfolg von "Loose" ein spanischsprachiges Album aufzunehmen, nicht richtig nachvollziehen konnten. Aber ich wollte es unbedingt. Da war diese Leidenschaft in mir.

Als ich dann den Grammy in der Hand hielt, war es wie eine Bestätigung für mich, das Richtige getan zu haben. Man landet immer am richtigen Ort, wenn man seinem Herzen folgt. Das wurde mir in diesem Moment bewusst. Dieser kommerzielle Druck, all das Gerede von außen, spielen keine Rolle, wenn man seinen Instinkten folgt und nur das tut, das man selbst für das Beste hält.

"Ich liebe den Austausch mit anderen Künstlern"

Das klingt sehr charakterfest und selbstbestimmt. Wie schwer ist es dann, mit so dominanten Persönlichkeiten wie Rodney Jerkins (Michael Jackson, Beyoncé), Salaam Remi (Amy Winehouse), Bob Rock (Metallica, Aerosmith) und Michael Angelakos an ein und demselben Projekt zu arbeiten?

Letztlich steht ja mein Name auf dem Album. Dementsprechend geht auch nichts an mir vorbei. Alles, das extern dazukommt, muss einfach passen und das widerspiegeln, wofür ich stehe. Es geht nicht darum, möglichst namhafte Leute mit ins Boot zu zerren, nur um im Nachhinein mit Features prahlen zu können. Es geht um die richtige Auslese. Und auf diesem Album habe ich meiner Meinung nach in punkto Umfeld die perfekten Entscheidungen getroffen. Jeder für sich hat eine ganz eigene Herangehensweise und einen ganz individuellen Stil. Und trotzdem hatte jeder genau die Ideen, die das Album brauchte.

Ich liebe den Austausch mit anderen Künstlern. Ich war schon immer ein Freund der Gemeinschaft. So bin ich aufgewachsen, so habe ich auch angefangen, Musik zu machen. Ich brauche dieses Bandgefühl. Im Studio ist es ähnlich, wenn von überall her kreative Inputs kommen. Es ist wie in einer festen Band. Du hast völlig verschiedene Charaktere, die aber alle am gleichen Strang ziehen. Das ist fantastisch.

Ich habe selten einen Künstler von ähnlichem Format getroffen, der so strahlt, wenn es um sein neues Schaffen geht, wie du. Man könnte fast meinen, wir würden uns hier über dein Debütalbum unterhalten.

Ich weiß auch nicht warum, aber genauso fühlt es sich diesmal an. Es ist irgendwie wie ein Neustart für mich und ich kann es gar nicht abwarten, bis das Album endlich draußen ist. Dieses Gefühl hatte ich das letzte Mal kurz bevor mein Debütalbum erschien. Die Angespanntheit und Vorfreude ist schon immens. Ich kann gar nicht glauben, dass dies bereits mein fünftes Album sein soll und ich schon seit zwölf Jahren in diesem Zirkus mitfahre.

Auf deinem neuen Album singst du über viele Themen, die normalerweise in der Glitzerwelt des High End-Pop-Business keinen Platz finden. Und dennoch hast du dich für "Big Hoops" als erste Single entschieden, ein Song, dessen Text auch aus dem Tagebuch eines 14-jährigen Mädchens aus der Bronx stammen könnte. Warum?

Es war mir wichtig, ein Zeichen zu setzen. Ich wollte die Leute bewusst vor den Kopf stoßen. Der Appetizer auf das Album sollte wachrütteln und polarisieren. Deswegen habe ich mich für diesen Song entschieden. Aber der Song ist auch nicht nur ein einfacher Partymacher. Jedes Mal, wenn ich "Big Hoops" höre, fühle ich mich an meine eigene Kindheit erinnert. So war ich früher als Teenager. Jugendlicher Übermut, grenzenloses Freiheitsgefühl, lauter Flausen im Kopf: That's me! Und überall lagen riesengroße Kreolen rum (lacht).

Die du dann in Shopping-Malls und auf Parkplätzen stolz präsentiert hast?

Ja, das war meine Welt. Der Song "Parking Slot" bringt mich ebenfalls zurück in diese Zeit. Ich schlich mich abends heimlich aus dem Fenster und verbrachte unzählige Abende mit meinen Freunden auf Parkplätzen oder in Einkaufszentren. Dort haben wir gerappt und getanzt, bis uns der Schweiß den Rücken runterlief. Ich war unheimlich neugierig und wollte alles mitnehmen. All die MCs und die ganzen Bands haben mich damals unheimlich inspiriert. Wir hörten stundenlang die Musik von TLC oder Salt N Peppa. Das Verlangen, diesen Künstlern nachzueifern, war riesig.

"Ich wollte stets im Mittelpunkt stehen"

Wie wichtig waren all diese Erinnerungen an deine Jugend für die Entstehung deines neuen Albums?

Sie bildeten das Fundament. Ich habe in den letzten Jahren unglaublich viel erlebt. Meine Familie, meine Tochter, all die Dinge, die in der Welt passiert sind, haben mich immer wieder daran erinnert, wie ich als junges Mädchen aus einer Kleinstadt versucht habe, meinen Weg zu finden. Diese Basis war ganz wichtig. Diese Sounds von damals wollte ich unbedingt mit neuzeitlichen Elementen mischen, um letztlich ein Album zu schaffen, das wie ein ganz persönliches musikalisches Tagebuch klingt. Ich wollte diesmal musikalisch alles mit einbringen, was ich bisher gemacht habe.

Die Ecken und Kanten meines Debüts, die Melancholie von "Folklore", die Dynamik von "Loose" und die Leidenschaft von "Mi Plan": Alles sollte sich verbinden zu einem authentischen Ganzen. Ich mag es impulsiv und dynamisch. Diesen Vibe wollte ich unbedingt mit einfangen. Es ging mir nicht darum, irgendwelchen Trends zu folgen. Das hat mich noch nie interessiert. Ich wollte mir treu bleiben und mich nicht wie eine Marionette fühlen. Kommerzieller Erfolg ist wichtig, keine Frage. Aber viel wichtiger ist es, morgens aufzuwachen und sich wohl in seiner Haut zu fühlen.

Demnach stehst du momentan gerne morgens auf?

Oh ja, sogar sehr gerne (lacht).

Du hast vorhin deine Tochter erwähnt. Nevis ist jetzt 8 Jahre alt. Wie viel Nelly Furtado steckt in ihr?

(Lacht) Momentan hält sie sich noch zurück, auch wenn sie wirklich talentiert ist. Sie spielt ein bisschen Klavier und Geige. Das macht sie wirklich schon ziemlich gut. Aber ich versuche, sie, so gut es eben geht, von all dem Trubel um meine Person fernzuhalten. Sie soll normal aufwachsen. Sie ist eher schüchtern und zurückhaltend. Ich war früher genau das Gegenteil (lacht). Ich wollte stets im Mittelpunkt stehen und die Aufmerksamkeit auf mich lenken.

Dieses Selbstbewusstsein legst du auch heute noch an den Tag, wenn man sich Live-Videos von dir anschaut. Hast du dich je verunsichert oder unwohl vor einer Show gefühlt?

Oh, eigentlich hätte mich spätestens auf der "Loose"-Tour das Lampenfieber packen müssen. Alles war so groß und überdimensional. Aber irgendwie hat die Vorfreude immer überwogen. Live-Auftritte haben mich immer eher angespornt und alle Versagensängste verdrängt. Unwohl fühlte ich mich nur, wenn es um TV-Auftritte ging. Da musste immer alles sehr strukturiert und geplant ablaufen. Das hat mir immer etwas Angst gemacht. Daran habe ich mich aber auch gewöhnt.

Richtig nervös werde ich eigentlich nur noch, wenn ich weiß, dass bestimmte Leute im Publikum sitzen. Letztens traf ich Sting nach einem meiner Konzerte. Da wurden mir die Knie weich und ich war heilfroh, dass mir keiner vor dem Auftritt etwas von seinem Erscheinen erzählt hatte (lacht).

Bei allem Selbstbewusstsein wirkst du dennoch keineswegs unnahbar oder gar divenhaft. Woran liegt das?

Ich weiß einfach woher ich komme. Meine Familie stammt aus der Arbeiterklasse. Wir wurden alle nicht mit silbernen Löffeln im Mund geboren. Das Leben ist harte Arbeit. So bin ich aufgewachsen. Natürlich ist es schön, wenn man im Mittelpunkt steht und die Menschen auf dich zukommen. Aber dieser ganze Ruhm und all die Privilegien die der Erfolg mit sich bringt spielen in meinem Leben eher eine sekundäre Rolle. Ich würde mich nie über einen anderen Menschen stellen, nur weil ich in meinem Beruf besonders erfolgreich bin. Es gibt so viele Menschen, die vielleicht noch härter arbeiten als ich und nie auf irgendeinem Titelblatt erscheinen werden.

Ich habe nicht das Recht, mich als etwas Besseres zu fühlen.
Als kleines Kind habe ich jeden Tag mit angesehen, wie hart meine Eltern für essentielle Dinge des Lebens arbeiten mussten. Das hat mich geprägt. Meine Familie würde mich aus ihrem Leben verbannen, wenn ich ihr jemals abgehoben gegenübertreten würde. Das wirklich Tolle an meinem Job ist, dass ich die Möglichkeit habe, anderen, die in ihrem Leben weniger Glück hatten, zu helfen. Die Arbeit als "Free The Children"- Botschafterin gibt mir beispielsweise unheimlich viel Kraft und zeigt mir immer wieder, wie wichtig der Kontakt zu den Menschen ist. Ich habe keinerlei Berührungsängste. Die hatte ich noch nie.

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