laut.de-Kritik

Der Aufstieg des Country-Drake.

Review von

Wenn es einen Country-Künstler gibt, den man gerade außerhalb der Vereinigten Staaten mitbekommt, dann ist das wahrscheinlich Morgan Wallen. Wer hier von dem Kerl gehört hat, hat es vermutlich aufgrund seiner Kontroverse: da gab es irgendeinen Redneck aus Tennessee, der das N-Wort gesagt hat. Dass Wallen sich Karriere-gefährend blamiert hat, stimmt. Dass er irgendein Redneck ist, nicht ganz: Mit seinem erst zweiten Album kratzt der Mann am 90er-Thron von Garth Brooks. Er ist eine ausgewachsene Sensation in den Staaten, verkauft auf dem Level von Drake und Taylor Swift und hat dem Country-Genre gerade den ersten Nummer-Eins-Hit seit den Neunzigern verschafft.

Die Country-Industrie wollte ihn nach seinen Skandal kurz tatsächlich loswerden. Aber Wallen ist gerade nicht loszuwerden. Die Frage stellt sich nur: Warum eigentlich? Hört man in eine seiner zahllosen erfolgreichen Singles der letzten Jahre, würde das Genre-fremde Ohr nichts heraushören, das nicht absolut in den stereotypen Genre-Konventionen stattfindet. Singles wie "U-Proof" oder "Tennessee Fan" singen mit Südstaaten-Twang über Frauen, Whiskey, Trucks, Football und Gott. Es ist das Timing, das Wallen so interessant macht.

In den 2010er-Jahren hat ein bestimmtes Subgenre Country aufgehalten. Das heißt Bro-Country und wurde von Figuren wie Florida Georgia Line, Sam Hunt oder Luke Bryan angeführt, die aus irgendwelchen Gründen entweder Hard Rock oder später immer öfter Hip Hop-Snaps in ihre Songs aufgenommen haben. Es war eine ziemlich peinliche Ära für das Genre, die auch die Fans nicht wirklich (oder nur sehr betrunken) mochten. Wer eine Engführung zwischen Country in den USA und deutschem Schlager untersuchen will, sollte die Suche hier anfangen. Dann gab es dann eine kurze Renaissance für das, was Kritiker "Boyfried-Country" nannten, glattgebügelter, Pop-freundlicher, viel zu schleimiger Country, der im schlimmsten Fall noch von Marshmello oder Konsorten produziert werden konnte. Die wenigen Leute, die sich in jener Zeit zu Country bekannten, beharrten grummelig auf den zwei oder drei organisch klingenden Artists, meistens auf Chris Stapleton.

Morgan Wallen und sein erstes Album "Dangerous" schnitt quer durch diesen Zeitgeist, weil er die Stärken all dieser Bewegungen adoptierte, ohne die Schwächen zu furchtbar wirken zu lassen. Er hatte den organischen Sound, die echte Instrumentierung, sogar ein genuines Händchen für Melancholie, wie sein Durchbruch "7 Summers" bewies. Er war trotzdem ein kleines, schmachtendes, irgendwie attraktives Herzblatt, nur eben nicht so glatt und sauber wie die Boyfriends. Und vor allem: Wie die Bro-Country-Dudes war er ein komplett besoffener, den Klischees ergebener Redneck. Dazu kommen noch ein paar andere Faktoren, zum Beispiel, dass er TikTok als erster Mensch des Genres wirklich verstand, dass er Songs mit Rappern wie Lil Durk machte und so einen immensen inter-generationalen Appeal entwickelte.

Sein zweites Album "One Thing At A Time", das Album nach dem Skandal, soll jetzt seinen Pfad in Richtung Spitze wieder aufnehmen. Und dafür wird jede Karte ganz auf Nummer sicher gespielt. Die erste erschreckende Beobachtung: "One Thing At A Time" wiegt immense 38 Songs. YouTuber Todd In The Shadow analysierte das treffend als Ambition, so etwas wie der Country-Drake werden zu wollen. Überlange Streaming-Monster, das kennt man eigentlich nur aus dem Hip Hop oder R'n'B, von Drake, den Migos, von Chris Brown oder Bad Bunny. Machen wir uns nichts vor: Diese Tatsache allein macht das Album als Hörerlebnis quasi undurchdringbar. Niemand wird sich diese Spielfilmlänge trauriger Country-Songs über Suff am Stück reinziehen.

Vor allem, wenn so viele davon relativ generischen Formeln folgen. Würde man ein Trinkspiel daraus machen, immer zu trinken, wenn Whiseky erwähnt wird, dann läge man schnell auf dem Boden. Aber auch sonst verfällt er schnell ins Listen-Schreiben über die Country-Dinge, die in der Tat Country sind. Diese Tracktitel an sich dürften einen soliden Überblick geben: "Cowgirls", "Country Boy Lullaby", "I Deserve A Drink", "In The Bible", "Keith Witley", "Tennessee Numbers", "Tennessee Fans", "Born With A Beer In My Hand".

Lässt man aber mal die Idee zurück, dass Wallen einen Anspruch auf außerordentliche Innovation mitbrächte, muss man aber doch sagen: Die Songs, das Songwriting und die Atmosphäre auf diesem Album treffen oft. Der Intro "Born With A Beer In My Hand" zum Beispiel strahlt eine resignierte, aber irgendwie ehrliche Wärme aus. "Sunrise" bringt eine extrem coole Gitarren-Textur mit, "Thought You Should Know", "`98 Braves", "Days That End In Why", das sind starke Refrains. "Ain't That Some" peitscht die Energie extrem auf, das ist einer der besten Grooves hier, außerdem spricht die Nummer das Ding mit der Innovation frontal an: "I know it's cliché to sing Chevrolets, cold beers and Fridays
But that's just the way it is out here
" . Und auch wenn die Lead-Single "Last Night" ein schamloser Popsong ist, kann man doch kaum leugnen, dass hier eine ziemlich einprägsame Melodie im Kern steht.

Die bittere Wahrheit ist: Nur weil Wallen ein ziemlich übler Trottel zu sein scheint, macht ihn das als Artist in seinem Genre keinen Deut schlechter. "One Thing At A Time" ist ein behemothisches, allein durch seine Länge quasi unhörbares Album, aber auch mit fast 40 Nummern wirken die wenigsten Songs lieblos. Die Melodien sind stark, das Songwriting bewährt, der Sound frisch und der Kerl hat auf seine komische Art und Weise ein nicht zu leugnendes Charisma. Er wird in den kommenden Jahren zu einem der meistverkauften Country-Artists überhaupt aufsteigen. Ob Todd in the Shadows recht hat und ob wir es wirklich mit dem Country-Drake zu tun haben, wird sich zeigen. Auf jeden Fall spielt er es hier schon sicher wie Drake, was das Album von glaubhaftem Anspruch an Großartigkeit weit fern hält. Es wäre dennoch aber auch albern, sein offensichtliches Talent ganz zu ignorieren.

Trackliste

  1. 1. Born With A Beer In My Hand
  2. 2. Last Night
  3. 3. Everything I Love
  4. 4. Man Made A Bar (feat. Eric Church)
  5. 5. Devil Don't Know
  6. 6. One Thing At A Time
  7. 7. '98 Braves
  8. 8. Ain't That Some
  9. 9. I Wrote The Book
  10. 10. Tennessee Numbers
  11. 11. Hope That's True
  12. 12. Whiskey Friends
  13. 13. Sunrise
  14. 14. Keith Whitley
  15. 15. In The Bible (feat. Hardy)
  16. 16. You Proof
  17. 17. Thought You Should Know
  18. 18. F150-50
  19. 19. Neon Star (Country Boy Lullaby)
  20. 20. I Deserve A Drink
  21. 21. Wine Into Water
  22. 22. Me + All Your Reasons
  23. 23. Tennessee Fan
  24. 24. Money On Me
  25. 25. Thinkin' Bout Me
  26. 26. Single Than She Was
  27. 27. Days That End In Why
  28. 28. Last Drive Down Main
  29. 29. Me To Me
  30. 30. Don' Think Jesus
  31. 31. 180 (Lifestyle)
  32. 32. Had It
  33. 33. Cowgirls (feat. Ernest)
  34. 34. Good Girl Gone Missin'
  35. 35. Outlook
  36. 36. Dying Man

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