laut.de-Kritik

Hat die Halbwertszeit einer Gummipuppe auf Wacken.

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Rammstein-Fans brauchen sich heuer wirklich nicht über mangelnden Output zu beschweren. Nach Jahren der Brache feuert die Maschine aus allen Rohren und kredenzt uns jetzt das dritte Album aus dem Dunstkreis der Band innerhalb von gerade einmal zwölf Monaten. Richard Z. Kruspe machte Ende November 2018 den Anfang mit Emigrate ("A Million Degrees"), im Dezember deuteten Lindemann mit "Mathematik" ihrerseits Aktivität an, die erste Hälfte von 2019 gehörte "Rammstein". Jetzt also "F & M", Till Lindemanns und Peter Tägtgrens zweites gemeinsames Baby - und leider das missratenste in der eben genannten Reihe.

Größte Neuerung im Vergleich zu "Skills In Pills" vor vier Jahren ist, dass der Sänger uns seine Englischkünste vorenthält und, wie bei seinem Kaviargeber, auf Deutsch singt. Auch deshalb klingen "Ich Weiß Es Nicht" und "Blut" wie zwei vergessene Rammstein-B-Seiten. Die Pain-Komponente gerät etwas stärker: Das sinfonisch-industrielle "Steh Auf" markiert mit Post-Punk-Vibe, Core-Einschüben und brachialem Hooligan-Refrain den Höhepunkt der Platte. Hier zeigt Lindemann stimmlich eine zwingende Präsenz, die er in vielen anderen Albumstücken zugunsten von zwar spaßigen, aber auch ziemlich plumpen Sparwitz-Reimen opfert.

Im Vergleich zum Debüt schlagen Lindemann den Mantel der Ernsthaftigkeit noch weiter zurück und geben sich völlig losgelöst ihren Gelüsten hin. Das resultiert dann in Zeilen wie "Ich esse, esse, esse, esse / Stopf mir alles in die Fresse" und "Frische Tierchen, manchmal Kuchen / Dürfen meinen Mund besuchen" ("Allesfresser"). Der Song entstand in seiner Urversion für eine moderne Theateradaption des Märchens "Hänsel & Gretel".

Insgesamt vier solcher Nummern stehen auf "F & M". Während zwei der anderen Stücke aus diesen Sessions, "Blut" und der "Mein Herz Brennt"-Abklatsch "Schlaf Ein", direkt im Tümpel der Belanglosigkeit ersaufen, überrascht "Knebel" immerhin musikalisch mit volksliedhaften Liedermacher-Touch und Lagerfeuergitarre.

Überhaupt sind Lindemann am besten, wenn sie sich aus ihrer stilistischen Komfortzone herauswagen. "Ach So Gern" tänzelt als Tango mit Max Raabe-Charme heran. Tuba und spanische Gitarre untermalen fröhlich den satirischen Monolog eines Frauenhelden, der sich im Verlauf der Nummer eher als Sexist und möglicherweise als Vergewaltiger entuppt. #metoo nach Lindemannscher Art.

Doch man wünscht sich, Lindemann wären in ihren Experimenten weitergegangen. Die Radikalität von "Mathematik" stand dem Duo überraschend gut und brachte eine Dimension ins Spiel, die über Sex und Gewalt hinausgeht. Statt zu polarisieren, erzeugen die meisten Stücke eher Langeweile, was auch am inflationären, aber selten aufregenden Einsatz von Standard-Synthsounds liegt. Man sollte sich schon etwas mehr einfallen lassen, als 0815-EDM-Elemente mit 0815-verzerrten Gitarren zu kombinieren, um damit heute noch originell zu wirken.

"Platz Eins" entlockt dank Sticheleien gen Hitlistenpop und damit angesichts Lindemanns eigener Chartdominanz gewollter oder unfreiwilliger Selbstironie anfangs leichtes Schmunzeln, hat aber in etwa die Halbwertszeit einer Gummipuppe auf Wacken.

Der frische Alternative Rock-Ansatz des Titelsongs "Frau & Mann" versiegt bald in repetitiver, fader Aufzählung von Gegensätzen, vorgetragen in müdem Singsang, der ungut an inspirationslose Momente Knorkators erinnert: "Dunkel oder hell / Langsam und schnell / Nass und trocken / Knien oder hocken / Schlafen oder wachen / Weinen oder lachen". Zum Abschluss erfüllt die Streicherballade "Wer Weiß Das Schon" fast alle Kriterien für den Eurovision Song Contest: cheesy, opulent, gefällig, nichtssagend, schnell wieder vergessen. Bloß die Drei-Minuten-Grenze halten Lindemann nicht ein.

So taugt "F & M" leider höchstens für Hintergrund-Berieselung, einen müdes "Höhöhö" und Metalpartys, bei denen es mehr ums Bier als um die Musik geht. Die Kanten sind konstruiert, die künstlerische Freiheit ein Marketing-Manöver, der Humor abgestanden. Verzichtbar.

Trackliste

  1. 1. Steh Auf
  2. 2. Ich Weiß Es Nicht
  3. 3. Allesfresser
  4. 4. Blut
  5. 5. Knebel
  6. 6. Frau & Mann
  7. 7. Ach So Gern
  8. 8. Schlaf Ein
  9. 9. Gummi
  10. 10. Platz Eins
  11. 11. Wer Weiß Das Schon

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12 Kommentare mit 3 Antworten

  • Vor 4 Jahren

    Ich finde das Album ziemlich gut gelungen. Insofern ist die Rezi unangemessen hart, gerade wenn man die positive Resonanz auf das jüngste Werk von Rammstein daneben legt. F+M ist sehr abwechslungsreich geraten, von Industrial bis Tango ist eigentlich alles dabei. Dazu gibt's die markanten Texte von Till, die sich stilistisch natürlich mit Abgründigem befassen. Das ist schon immer so; die Themenauswahl ist vielleicht etwas beschränkt, kann schon sein. Daran wird sich niemals etwas ändern. Letztlich ist es genau das, was Rammstein und Lindemann interessant macht. Dieses Album hier ist meines Erachtens den Solo-Ausflügen des Kollegen Kruspe (Emigrate) weit, weit überlegen. Emigrate ist in Wahrheit überschätzt, dafür ist Lindemann ganz sicher unterschätzt, zumindest in der Rezi. Ich bin nach einigen Durchläufen jedenfalls sehr angetan von F+M.

  • Vor 4 Jahren

    Mann, wie ich mit Tätgrens Produktionen einfach nicht warm werde! Ob Hypocrisy, Pain oder Lindemann: Schlagermetal für bärtige Bierplauzen, mehr fällt mir da nicht ein.

  • Vor 8 Monaten

    besser als der Vergänger.

    Anspieltipps: Steh auf, Knebel und Ach so gern