laut.de-Kritik

If you don't like what you see here, get the funk out!

Review von

Extreme starten ab 1985 in Boston durch. Bis auf Aerosmith und die Band, die sich nach der Stadt benennt, ist die Metropole in Neuengland nicht unbedingt als Brutstätte für Hardrock und Metal bekannt. 1989 erscheint das selbstbetitelte Debüt der Herren Gary Cherone, Nuno Bettencourt, Pat Badger und Paul Geary. Auf "Extreme" spielen sie für die damalige Zeit recht simpel gestrickten Heavyrock, der sich an Van Halen und Konsorten orientiert. Mit ein paar Semi-Hits, die auf MTVs Headbangers Ball laufen und dem Soundtrack-Beitrag zu "Bill & Teds Verrückte Reise Durch Die Zeit" setzen sie eine erste Duftmarke im Business. Dass sie zwei Jahre später einen Welthit an den Start bringen, ist damals noch nicht abzusehen.

In der Hartwurst-Szene erlangt zunächst vor allem Gitarrist Nuno Bettencourt eine gewisse Berühmtheit. Wie eine jüngere Ausgabe von Eddie Van Halen jagt er das Griffbrett rauf und runter und lässt die Skalen nur so purzeln. Nachzuhören auf dem Debüt im Intro von "Mutha (Don't Wanna Go to School Today)". Quasi eine kleine süße Ausgabe von "Eruption"

Auch Aufgrund ihrer Optik (erspart euch den Anblick das Covers des Debüts) wurden Extreme schnell in der Sparte Glam- und Hair-Metal katalogisiert und waren für 'echte' Metal-Heads eine Band non grata. Zu Unrecht, und das beweist "Extreme II: Pornograffitti". Dem Namen des Albums fügen sie noch den Untertitel "A Funked Up Fairy Tale" bei, und das zu Recht. Aber dazu später mehr.

Am Regler im Studio saß mit dem gebürtigen Wuppertaler Michael Wagener eine Hausnummer in Sachen Hardrock der Achtziger. Wagener zimmerte zuvor schon den Sound entweder als Produzent oder als Mischer für diverse Genregrößen. Darunter so prominente Namen wie Accept ("Restless And Wild"), Mötley Crüe ("Too Fast For Love"), Dokken ("Under Lock And Key"), Megadeth ("So Far, So Good, So What"), Ozzy Osbourne ("No More Tears"). Auch bei Metallicas Meilenstein "Master Of Puppets" hatte er seine Finger im Spiel.

Wie wichtig der Band ein satter Klang ist, zeigt auch, dass Nuno sich neben Wagener ans Mischpult setzte. Heraus kam ein durch und durch makelloser Sound. An einigen Ecken eventuell etwas glattgebügelt, aber für 1990 war das, was man hier zu hören bekommt, state of the art. Aber was wäre ein beeindruckender Sound ohne gute Songs? Eben, nix. Und hier liefern Extreme einfach ab, und zwar von vorne bis hinten.

Der Opener "Decadence Dance" klingt im Vergleich zum Rest des Albums fast schon generisch. Und dann kommt das "aber" ins Spiel. Man muss sich nur mal Nunos Rhythmusgitarrenspiel anhören. Was der damals gerade einmal 23 Jahre alte Klampfer an Details einbringt, spottet jeder Beschreibung. So etwas spielen viele Gitarristen nicht einmal als Solo. Bassist Pat Badger flankiert den Saitenvirtuosen mit flitzefingerigen Einlagen am Bass. Dass die Background-Vocals so harmonisch daherkommen, liegt unter anderem auch an ihm. Ausnahmekönner Gary Cherone macht als Frontmann die Hauptarbeit, aber dahinter haben Extreme mit Bettencourt und Badger zwei Sänger in ihren Reihen, die auch mühelos Garys Job übernehmen könnten.

Neben dem Sound, den technischen Fähigkeiten an den Instrumenten und einem erstklassigen Songwriting besticht die Platte auch mit einer großen Vielseitigkeit. Und hier kommt der oben erwähnte Funk ins Spiel. "Li'l Jack Horny" beginnt mit einem verhaltenen Intro, ehe Nuno nach 15 Sekunden ein funky Rhythmus-Riff vom Stapel lässt, das unweigerlich mitreißt. Wer soll da noch die Füße stilhalten? Prominent in Szene gesetzte Bläsersätze addieren dem Ganzen noch mehr Party-Atmo hinzu. Ein wahres Groove-Monster.

Mit "Get The Funk Out" kommt der heimliche Überhit des Albums daher. Alleine der Basslauf zu Beginn ist episch. Das Bläser-Sextett mit Posaune, Trompete und Saxophon tritt hier noch prominenter auf als zuvor. Geschickte Breaks, gepaart mit fließenden Übergängen schieben den Rhythmus noch mehr nach vorne: "If you don't like what you see here, nobody wants to take you prisoner. So let me make it nice and clear dear, the exit is right there." Gefällt dir nicht? Verpiss dich, da ist die Türe.

Und dann kommt dieses Solo. Aber lassen wir an dieser Stelle einen Doktor der Astrophysik zu Wort kommen, der es wissen muss, nämlich Brian May, bekennender Fan der Band:

"Ok, das geht mit einem knackigen Riff los und man fragt sich, wo führt das jetzt noch hin? Ok, mehr Funk? Aber ... das ist schon schön genug, ABER: Wenn dir das als Gitarrist nicht die Tränen in die Augen treibt, weiß ich nicht, was los ist. Und da kommt noch mehr! DAS ist für mich der Inbegriff dessen, was ein Gitarrensolo auf einem Album ausmacht. Natürlich ist das konzipiert und konstruiert, aber innerhalb dessen gibt es da diese unglaubliche Spontaneität die so klingt, als käme das alles aus seinem Inneren, und das tut es! Solche Sachen passieren nicht sehr oft und das ist unglaublich. Nur vom technischen Standpunkt aus betrachtet, ist das kolossal. Ich könnte das nicht spielen, niemals. Das ist Nunos ureigenes Ding und das ist ein Meilenstein in der Rockgeschichte. Nuno und Extreme sollten dafür ihre eigene kleine Medaille bekommen."

Nicht minder ins Gebein fährt "It ('s A Monster)". Jedes Mal, wenn während der einstündigen Spieldauer von "Pornograffitti" die Tröten einsteigen, läuten die Groove-Alarmglocken. Lautstärkeregler bitte ganz nach rechts drehen!

Der Vielseitigkeit kommt auch zupass, dass die Trackliste quasi in Blöcke aufgeteilt ist. Nach dem lärmenden Beginn fährt "More Than Words" das Klangbild auf ein Minimum zurück. Nach dem abermaligen Latschen aufs Gaspedal findet sich mit "When I First Kissed You" ein weiterer kleiner Ruhepol. Dann taucht allen Ernstes noch diese jazzig swingende Klavierballade auf. Das auch im Text mit reichlich Augenzwinkern versehene Liedchen ("My voice was so far, not quite Sinatra") macht sich aber äußerst gut.

Schließlich leisten sich Extreme noch den Luxus, einen der besten Songs ganz ans Ende zu packen. Die stampfende Akustikgitarren-Einlage auf der Zwölfsaitigen wird instrumental nur von Bass, Bassdrum und Schellenkranz getragen. Der fantastische Wechselgesang zwischen Gary und Nuno besitzt ganz heftige Simon & Garfunkel-Vibes. Mit dem Feuerzeug-Ballädchen "Song For Love" findet sich lediglich eine Nummer, auf die man hätte verzichten können. Ansonsten: All killer, no filler.

Fassen wir zusammen: jede Menge Groove, technische Finesse, klasse Songs und dazu noch ein satter Sound. Was will man mehr?

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. Decadence Dance
  2. 2. Li'l Jack Horny
  3. 3. When I'm President
  4. 4. Get the Funk Out
  5. 5. More Than Words
  6. 6. Money (In God We Trust)
  7. 7. It (’s A Monster)
  8. 8. Pornograffitti
  9. 9. When I First Kissed You
  10. 10. Suzi (Wants Her All Day What?)
  11. 11. He-Man Woman Hater
  12. 12. Song for Love
  13. 13. Hole Hearted

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7 Kommentare mit 3 Antworten

  • Vor einem Jahr

    Hartwurst-Szene finde ich eine extrem dämliche Bezeichnung für welches Genre auch immer das genau sein mag.

  • Vor einem Jahr

    Ich muss widersprechen. Auch der Song For Love ist ein Killer, somit also KEIN Filler vorhanden!
    Selbst wenn das hier ein nahezu perfektes Album ist, würde ich den Doppel-Meilenstein inklusive Nachfolge-Album "III Sides to every Story" vergeben.
    Bei Extreme war ich immer etwas mehr Fan der ruhigeren Sachen, weil Gary Cherones Wahnsinnstimme und die Harmoniegesänge einfach besser zur Geltung kamen, aber eigentlich habe ich alles an den Alben geliebt.

    Extreme gehörte zu der Zeit der beiden Alben zu meinen absoluten Favoriten, bis sie anschließend abrupt langweilig wurden, die Leidenschaft war irgendwie verpufft. Aber Anfang der 90er, wissen ja die Altersgenossen, haben sich die Geschmäcker ja nun nicht nur bei mir drastisch verschoben...

    • Vor 11 Monaten

      Ja, die Grunge-Welle hat alte etablierte Bands aufs Abstellgleis geschoben und hoffnungsvolle Newcomer wie Extreme abgesägt. Nach dem metal-symphony-prog Projekt "3 Sides" war der Nachfolger "Waiting for the Puchline" ein eher verzweifelter Versuch an den Grunge-Zeitgeist anzuknüpfen. Kann mich noch an meine Enttäuschung beim ersten Durchhören der CD (natürlich CD im Sony portablen CD Player mit anti-shock-System zum Jogging, und verkabelte Kopfhörer) erinnern. Allerdings ist WFTP im Rückblick musikalisch und Songmässig gar nicht so schlecht, kann empfehlen wieder mal reinzuhören.

  • Vor einem Jahr

    Wie kann man über dieses Album schreiben, ohne He Man Woman Hater zuerwähnen??