6. Oktober 2014

"Zunge hier, Popo da. Na und?"

Interview geführt von

Nach einigen Crossover-Ausrufezeichen blickt Jamie Cullum auf seinem neuen Album "Interlude" wieder in den Rückspiegel. Statt noch mal zwischen den Stühlen hin und her zu tänzeln, verneigt sich der Brite vor lupenreinem Jazz.

Das Jazz-Genre zählt für gewöhnlich eher zu den elitäreren Stilen. Hier wird keiner mit offenen Armen empfangen, der sich nicht gänzlich den komplizierten Soundstrukturen verschrieben hat. Und verirrt sich dann doch jemand in die erlauchten Kreise, der hin und wieder gerne einen Blick über den Tellerrand riskiert, dann gibts von der Branchenpolizei ordentlich was auf die Finger.

Jamie Cullum kann davon ein Lied singen. Schließlich hat es der mehrfache Jazz-Award-Gewinner in der Vergangenheit tatsächlich gewagt, Jazz mit Pop zu kreuzen. Dieser Tage dürften die grimmig dreinblickenden Fetischisten beim Klang seines Namens jedoch das erste Mal wohlwollend Beifall klatschen: Für sein neues Album "Interlude" schob der Brite sämtliche Pop-Anleihen beiseite und fokussierte sich stattdessen auf lupenreinen Jazz der alten Schule. Wir plauderten mit dem Sänger und Pianisten in Berlin über die Gründe dafür.

Hi Jamie, ein meiner Freunde ist großer Jazz-Fan. Als ich ihm gestern dein neues Album vorspielte, sagte er: 'Endlich ist er zur Besinnung gekommen!' Was sagst man dazu?

Jamie: (lacht) Zunächst mal amüsiert es mich. Wenn ich den Leuten sagen würde, dass ich dieses Album bereits vor meinem letzten im Sack hatte, dann würden sie wahrscheinlich anders denken und reden. Womöglich würden sie ziemlich verdutzt aus der Wäsche gucken.

Sind die neuen Aufnahmen wirklich schon so alt?

Ja, das ist kein Witz. Die Songs stammen alle aus der Zeit vor "Momentum". Damals hatte ich keinen laufenden Plattenvertrag und viel Zeit, mich mit mir und meiner Musik auseinanderzusetzen. Ich mache seit ungefähr vier Jahren eine Jazz-Radio-Show bei der BBC. Das macht tierisch Spaß. Diese wöchentlichen Auftritte im Radio waren auch der Hauptgrund, warum ich irgendwann wieder anfing, im Archiv zu wühlen und mich mal wieder dem reinen Jazz zu widmen.

Irgendwann standst du aber wieder unter Vertrag. Warum hast du "Interlude" dann beiseite gelegt?

Ich bin ein sehr spontaner Mensch. Vor allem wenn es um meine Musik geht, genieße ich die Freiheit, immer das machen zu können, worauf ich gerade Lust habe. Das ist das größte Geschenk, das sich ein Musiker selbst machen kann. Dieses Album habe ich damals mehr für mich selbst aus der Taufe gehoben. Es war eigentlich nicht für die Masse gedacht. Mittlerweile bin ich aber bereit, den puren Jazz auch wieder mit der Öffentlichkeit zu teilen.

Keine Angst davor, dass deine eher poporientierten Anhänger enttäuscht sein könnten?

Nun, das Album wird sicherlich eine Menge Leute da draußen vor den Kopf stoßen. Dessen bin ich mir schon bewusst. Habe ich deswegen ein schlechtes Gefühl? Nein. Das hat aber nichts mit Arroganz und Überheblichkeit zu tun. Ich meine, wer mich wirklich kennt, der weiß, dass ich ein Mensch bin, der seinem Bauchgefühl vertraut. Ich verbringe meine Tage nicht damit, mein Leben und meine Musik zu planen. Ich bin ein Mann der Tat. Und momentan habe ich große Lust auf traditionellen Jazz. That's it.

"Heutzutage nimmt kaum noch jemand so auf"

Auf deinem neuen Album gibt es Duette mit Laura Mvula und Gregory Porter zu hören. Wie kam es zu den Kollaborationen?

Beide Musiker habe ich in meiner Radio-Show kennen und schätzen gelernt. Laura und Gregory sind nicht nur zwei begnadete Künstler mit faszinierenden Stimmen sondern auch tolle Persönlichkeiten. Vor allem die Arbeit mit Laura war ein Genuss.

Ganz offensichtlich: Als ich den Song "Good Morning Heartache" zum erste Mal hörte, wurden bei mir sofort Erinnerungen an Nick Cave und Kylie Minogue wach ...

Oh ... (lacht)

Zu weit hergeholt?

Nein, gar nicht. Ich finde, dass man uns beiden kein größeres Kompliment machen könnte. Laura und ich wollten zum Ursprung des Songs zurück. Wir wollten mit denselben Arrangements arbeiten, die Billie Holiday einst verwendete. Ich meine, der Song ist ein Klassiker und ein Titel bei dem die Gefahr etwas falsch zu machen unheimlich groß ist. Ich denke aber, dass wir diese dreckige und crunchige Attitüde des Originals ganz gut hinbekommen haben.

Das gesamte Album soll nach drei Tagen im Kasten gewesen sein. Stimmt das?

Ja, das ist richtig. 16 Songs in drei Tagen. Nicht schlecht, oder (lacht)?

Hut ab.

Es hat einfach alles gepasst.

Das Album wurde von Ben Lamdin Co-produziert, ebenfalls ein Künstler, den du in deiner Radio-Show kennengelernt hast.

Ja, im Grunde kann man diese Radio-Show als Mutter des Albums bezeichnen (lacht). Ben und ich haben uns gleich super verstanden. Er war total fasziniert von all den alten Jazz-Sachen, mit denen er in der Show konfrontiert wurde, sodass er sich irgendwann in einem abgelegen, ziemlich verwilderten Teil Londons ein Studio eingerichtet hat. Dort nahm er dann jede Menge wirklich tolle Platten auf.

Als ich ihm dann irgendwann von meinem Vorhaben, eine traditionelle Jazz-Platte aufzunehmen, erzählte, war er sofort Feuer und Flamme. Dann ging alles ganz schnell. Ich buchte sein Studio für drei Tage, engagierte einige Musiker, und wir trafen uns dann. Es war Winter, und es war arschkalt (lacht). Aber es war fantastisch. Wir hatten einen großen Raum, ganz viel altes Equipment und nach drei Tagen 16 Songs aufgenommen. Alles wurde komplett live eingespielt, so wie mans früher gemacht hat.

Heutzutage nimmt kaum noch jemand so auf. Die großen Studios, die über ähnlich große Räumlichkeiten verfügen, sind den meisten Künstlern einfach zu teuer. Normalerweise braucht man für eine vergleichbare Produktion alleine schon über 100 Mikrofone. Wir haben uns allerdings bereits im Vorfeld schon Gedanken über die richtige Mikrofonierung gemacht, sodass wir am Ende gerade mal 15 Mikrofone am Start hatten. Mehr brauchten wir auch nicht.

Wir haben uns mehr auf den Raumklang konzentriert, anstatt jedes einzelne Instrument mit einem eigenen Mikrofon zu bestücken. Das hat immense Kosten eingespart (lacht). Ich meine, ich verdiene nicht schlecht. Ich habe ein Haus und ein schönes Auto. Aber wenn ich die Möglichkeit habe, aufgrund einiger guter Ideen, mit weniger Ausgaben zu einem tollen Ergebnis zu kommen, dann sage ich natürlich nicht Nein.

"U2 tun mir leid"

Apropos Geld: Dieser Tage spricht die halbe Welt über die Vermarktung des neuen U2-Albums. Wie denkst du darüber?

Ich finde die Entwicklung bedenklich, und mir tut vor allem die Band leid.

Warum?

Ganz einfach: Ich habe kein Problem mit neuen Vermarktungsmodellen. Ich stelle nur fest, dass sich kaum noch jemand mit dem eigentlichen Produkt beschäftigt. Alle reden über das neue U2-Album, aber kaum einer äußert sich zur Musik. Es geht immer nur um die Vermarktung. Das ist doch furchtbar. Ich glaube, ich würde mich wochenlang frustriert im Keller einsperren, wenn ich Musik veröffentlicht hätte, über die kein Mensch spricht. Das ist das einzige, was mich an dieser ganzen U2-Sache momentan stört - zumal es ein, wie ich finde, richtig gutes Album ist.

Findest du, dass mittlerweile generell mehr über die Verpackung als über den Inhalt geredet wird?

Ja, absolut. U2 sind da keine Ausnahme. Sieh dir doch Miley Cyrus an. Die hat wirklich einige sehr gute Songs im Gepäck. Das interessiert aber nur wenige. Es wird immer nur über ihre Zunge, ihren Hintern und ihr Outfit geredet.

Stimmt. "Wrecking Ball" und "We Can't Stop" sind durchaus gute Songs. Man sollte halt auf die dazugehörigen Videos verzichten.

(lacht) Eben.

Zu den Videos hat sie aber keiner gezwungen.

Natürlich nicht. Aber, mein Gott, sie ist 19? 20? 21? Sie ist jung und mutig. Natürlich überschreitet sie auch Grenzen. Dennoch sollte man sich mehr mit der Musik eines Künstlers beschäftigen. Zunge hier, Popo da. Na und? Who cares? Wenn die Musik Qualität hat, dann kann sie von mir aus auch im Affenkostüm durch die Straßen rennen.

Künstler wie Miley Cyrus, Lady Gaga, Katie Perry und Justin Bieber haben mehr als nur einen Paparazzi-Staus verdient. Da steckt teilweise richtig gute Musik dahinter. Nur interessieren sich leider nur die Wenigsten dafür. Das ist wirklich traurig. Momentan mache ich mir wirklich Sorgen ums Business. Vor allem weil ich glaube, dass es in Zukunft nicht besser werden wird.

Wie sieht denn deine Zukunft aus?

Ich habe bereits jede Menge Material für ein weiteres Album zusammen.

Oha! Another Jazz-Record?

Nein (lacht). Es wird eher wieder in die "Momentum"-Richtung gehen.

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