laut.de-Kritik

Obacht! Ameisenstraße im Kopf.

Review von

Uff. Gut, dass CARY mit der Veröffentlichung dieser EP bis zum Frühling gewartet hat. Die plastische Beschreibung einer Winterdepression aus der Innenperspektive, wahrlich "Stockfinster", lässt sich schon schwer genug ertragen, wenn draußen die Sonne auf dem Wasser glitzert und Blütenduft in der Luft liegt. Hätten wir vor dem Fenster auch noch graukaltes Matschwetter ... nicht auszudenken, was "Lauf" angerichtet hätte.

Die große Qualität der Leipzigerin steckt, klar, in ihrer Stimme. Die klingt vom Grundton her fast so dunkel wie ihre Texte, hin und wieder setzt CARY aber treffsicher Akzente in deutlich höheren Tonlagen. Sie wirkt sicher, aber nicht abgebrüht, stylish, aber nicht gestylt, cool, doch ganz und gar nicht kühl.

Bei aller Wärme liegt stets etwas Sprödes, leise Sperriges in diesem Gesang. Eine leichte, fast unmerkliche Unwucht sorgt dafür, dass das hier eben nicht so mühelos ins Ohr und genau so schnell wieder heraus und in die Vergessenheit flutscht wie die Ergüsse dieser ganzen anderen aalglatten und entsprechend austauschbaren deutschen Pop-Sängerinnen.

Von denen hebt sich CARY aber auch textlich deutlich ab. Statt platter Belanglosigkeiten, die - ähnlich wie Zeitschriftenhoroskope - derart vage bleiben, dass jede*r iiirgendwie die eigene Situation hineininterpretiert bekommt, thematisieren die Tracks auf "Lauf" mit fotografischer Perfektion ganz spezielle, wirklich persönliche Situationen.

"Seitenstreifen" etwa beschreibt im Grunde nur einen kurzen Moment bei einer Fahrt durch den Regen. Das Gefühlschaos, ausgelöst vom - Obacht, paradox! - emotionalen Vakuum einer entfremdeten Vater-Tochter-Beziehung, machen ihre Worte und die Art, wie CARY sie vorträgt, aber derart spürbar, dass man meint, man sitze mit in ihr diesem verdammten Auto und spüre denselben dumpfen Phantomschmerz, den durchschnittene, abgerissene Familienbande hinterlassen: ein lyrisches Kammerspiel.

Die musikalische Ausgestaltung unterstreicht die Stimmung der EP, den in "Passé" beschriebenen Farbwechsel von Schwarz zu Blau. Gedämpfte Pianonoten und tickende Hi-Hats hören wir da, später auch Ambient- oder Drum'n'Bass-Vibes, alles jedoch in homöopathischen Dosen eingestreut, dezent, zurückhaltend. Im Zentrum des Geschehens stehen jederzeit unangefochten CARYS Stimme und ihre Zeilen.

Die entwickeln teils einen beängstigenden Sog. CARY drückt die richtigen Knöpfe, findet die passenden, obendrein noch überhaupt nicht abgegriffenen Bilder, lässt buchstäblich mit-leiden, die destruktiv-manipulativen Ameisen aus ihrem Kopf krabbeln bald auch im eigenen. "Ist nicht irgendjemand da, den das hier erreicht?" Man möchte diesem fast verschüchtert wirkenden Hilferuf aus "Stockfinster" eigentlich eine Antwort entgegenbrüllen, doch die Präzision der Formulierungen verschlägt einem oft genug die Sprache.

"Immer Weiter" gaukelt kurz Erleichterung vor, Besserung, allein: Wer eben noch im ewigen Eis von "Stockfinster" hockte, kann schwerlich entspannt und unbesorgt dabei zuschauen, wie da eine auf eine Fensterbank klettert, mit "tauben Füßen", "Lichter gehen aus": beklemmend.

Vorsichtig optimistisch gerät allenfalls der abschließende Titeltrack: "Lauf" lässt zugleich aber keinen Zweifel daran, dass diese Wunden gerade erst notdürftig verheilt sind, die Krusten dünn und die Gefahr eines erneuten Aufbrechens jederzeit gegeben. Seid um Himmels Willen vorsichtig mit dieser Frau. Jede Wette, dass die uns noch viel mehr zu geben hat als diese doch arg knapp bemessenen fünf Tracks.

Trackliste

  1. 1. Passé
  2. 2. Seitenstreifen
  3. 3. Stockfinster
  4. 4. Immer Weiter
  5. 5. Lauf

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