16. August 2017

"Sophie Hunger klingt sexy und unheimlich"

Interview geführt von

Nachdem sich Steven Wilson mit den vorangegangenen Alben zu The World's Most Valuable Prog Rock Player aufgeschwungen hat, steuert er mit "To The Bone" poppigere Gefilde an. Das erklärte Ziel: Der Prince oder Bowie seiner Generation werden. Da kann man ihm nur die Daumen drücken.

Es war einmal ein Mann. Der lebte auf einer Insel. Jahrelang hatte er sich nur mit negativen Gefühlen und Phänomenen beschäftigt und seinen Lebensunterhalt damit verdient, Musik daraus zu machen. Was viele Menschen nicht wussten oder vielleicht gar nicht wissen wollten: Schon immer schlummerte in ihm das Verlangen, zu tanzen, das Leben zu feiern und öffentlich zu lachen! Schließlich hatte der Mann genug und beschloss, Songs zu schreiben, die seine Liebe zu positiven Klängen in einer Weise präsentieren würden, die es seinem Publikum unmöglich machen würde, sie weiterhin zu ignorieren. Eines sonnigen Junitages begab sich der Mann nach Berlin-Kreuzberg, um über seine Vision zu sprechen...

In gewisser Hinsicht gleicht Steven Wilsons "To The Bone" tatsächlich einem Märchen. Denn auch sie vermitteln häufig positive Botschaften, ohne die düsteren Aspekte des Lebens vollends auszuklammern. Und sie stellen immer auch einen Kommentar zur Beschaffenheit der Gesellschaft dar. In dieser Hinsicht lassen sich bei Wilson diesmal eindeutig Rückschlüsse auf aktuelle politische Ereignisse ziehen – ungewohnt für den sonst gerne etwas nebulös agierenden Geschichtenerzähler. Doch auch eigene Unsicherheiten thematisiert der Brite auf seinem fünften Soloalbum. Im Gespräch verriet er mehr dazu.

Was mir beim Hören aufgefallen ist: Auf den Vorgängeralben stand häufig Isolation im Zentrum deiner Texte. Auf "To The Bone" ist Alleinsein zwar immer noch ein Thema, aber eher aus einer abhängigen Perspektive heraus. Wesentlich ist außerdem, dass es häufig darum geht, in das Leben anderer einzugreifen – auf positive oder negative Weise.

Das stimmt. Ich denke, auf diesem Album ist die Perspektive definitiv weiter. Bei "Hand. Cannot. Erase." ging es um ein Individuum und einen enger Blickwinkel. Du sahst gewissermaßen das Kleine im Kleinen. Diesmal beschäftigen sich viele Songs mit Dingen, die momentan in der Welt passieren. Diese Ereignisse – Terrorismus, Fundamentalismus, die Flüchtlingskrise – betreffen uns alle irgendwie. Obwohl ich nach wie vor Geschichten erzähle und ich meistens Individuen fokussiere, sind die Probleme, die ich damit anspreche, viel weiter gefasst. Es ist ein Album über globale Angelegenheiten – aber nicht zwingend politische; politisch eher mit kleinem statt großem "p". Es geht um "persönliche Politik", dahingehend eben, dass gewisse Ereignisse uns alle betreffen. Im Titeltrack steht die Natur der "Wahrheit" im Zentrum. In der modernen politischen Landschaft, der Post-Trump-Ära, wird es zunehmend schwierig zu erkennen, was Realität ist, was Wahrheit ist.

Ich habe kürzlich mit einem österreichischen Künstler gesprochen, der in Bezug auf politische Themen in der Musik sinngemäß meinte: "Du musst nicht immer alles an die Wand malen, um deine Meinung nach außen zu tragen – manchmal ist es genug, ein Gefühl zu transportieren."

Und man muss auch nicht immer in global ausgerichteter Predigermanier über solche Themen sprechen. Genauso kannst du Geschichten mittels einer Figur erzählen! Nimm zum Beispiel meinen Song "Refuge". Natürlich greift er die Flüchtlingskrise auf, aber ich sage nicht: "Oh, es ist schrecklich – Herr Politiker, denk mal drüber nach!" Stattdessen konzentriere ich mich auf eine, imaginäre Figur und erzähle eine Geschichte, in der es darum geht, von seiner Familie getrennt zu sein, an diesem "Ort" zu leben. Geschichten ohne Zeigefinger zu erzählen kann manchmal so viel wirkmächtiger sein und – wie dein Österreicher gesagt hat – Leute auf viel tieferer emotionaler Ebene berühren.

Oft beschreibst du ja nur, was da ist, wickelst es in eine musikalische Decke und der Hörer kann dann für sich selbst Schlüsse ziehen.

Ja, das ist doch das Tolle an Musik. Kino ist ein klasse Medium, Literatur ebenso, aber in gewisser Hinsicht sind beide für mich weniger besonders als Musik. Musik erwartet nämlich immer noch vom Hörer, sie persönlich zu erfahren, sich damit zu beschäftigen, zu interpretieren, sich selbst hineinzuversetzen. Beim Film weißt du ganz genau, was der Protagonist denkt, bei einem Buch weißt du, was die Figur sagt – bei Musik weißt du nicht unbedingt sicher, was du verstehen sollst. Du musst eintauchen und, wie du gesagt hast, daraus Schlüsse ziehen. Deswegen ist Musik für mich immer noch die großartigste Kunstform von allen.

Im letzten Stück, "Song Of Unborn", singst du eine Zeile, die sich mir sofort ins Gedächtnis gebrannt hat: "The dreams that you will have are public domain". Was ging in deinem Kopf vor, als du das geschrieben hast?

Manchmal finden sich Stellen in meinen Songs, die Rückschlüsse auf meinen persönlichen Songwriting-Prozess zulassen. Das ist eine davon. Ich bin sicher, es geht vielen Komponisten so, aber zumindest ich denke oft: Alles was du dir ausdenken kannst, alles was du tun kannst, jede Note, die du spielen kannst, jedes Akkord-Pattern, jede Zeile ... irgendjemand hat das schon mal gemacht. Das ist ein bisschen deprimierend. Manchmal wünsche ich mir, ich hätte in den Sechzigern musizieren können, als es noch so viel gab, das noch nicht gemacht wurde. Im 21. Jahrhundert – 2017 – Musik zu machen, ist hart. Echt! Und daher stammt die Idee, dass sogar meine Träume schon mal jemand geträumt hat. Selbst sie kursieren schon irgendwo da draußen. Dieses Gefühl lässt sich schlecht vermeiden. Du bist selbst Musiker nicht wahr?

Ja.

Dann weiß du, wovon ich spreche. Es lässt sich ab und zu einfach nicht abstellen. Ständig denkst du: "Mann, das Riff habe ich schon mal gehört ... och nee, das hat schon jemand vor mir geschrieben..." Auf gewisse Weise existiert einfach wirklich alles, was du schaffen kannst, bereits. Einerseits zieht das runter, andererseits gilt aber auch: Jede Perspektive ist einzigartig. Jede Persönlichkeit macht es auf ihre Art einzigartig. Und in "Song Of Unborn" geht es genau darum: Jeder Lebensverlauf kann tiefgründig und einzigartig und wunderschön sein.

Aber die Zeile, die du angesprochen hast, greift eben das Gefühl der diesbezüglichen Unsicherheit auf. Was bringt all das überhaupt, wenn es doch schon existiert? Wozu sollte ich jetzt noch einen weiteren Song schreiben? An den Punkt kommst du recht schnell, wenn du Musik machst. Heutzutage ist so viel mehr Musik im Umlauf als jemals zuvor in der Geschichte. Viel davon ist großartig und es ist schwer, dem gerecht zu werden. Dem, was die Beatles gemacht haben, was Pink Floyd gemacht haben oder Led Zeppelin oder ABBA. Gibt es überhaupt noch irgendetwas zu sagen?

Ohnehin wirst du ja gern als "modernes Pink Floyd" bezeichnet. Das wirst du vielleicht nie los.

Vielleicht nicht, nein. Wobei es wirklich schlimmere Dinge gibt als mit Pink Floyd verglichen zu werden. (lacht) Ich habe so etwas immer widersprochen, weil ich mir einbilde, einen einzigartigen Sound und eine einzigartige Perspektive zu haben. Aber ich denke auch, dass selbst Künstler wie die Beatles und Led Zeppelin nur Derivate waren.

Klar, sie hatten ja ebenfalls Einflüsse. Und es gab sicher auch damals Kritiker, die sie mit anderen verglichen...

Genau. Nichts kommt aus dem Nirgendwo. Alles hat eine Präzedenz. Es ist schlicht die Frage, wie du deine Persönlichkeit dafür einsetzen kannst, es wieder frisch zu machen.

Was in der Zeile außerdem noch drinsteckt: Dadurch dass dein Nebenmann genau denselben Traum wie du haben kann, ist es eben an dir, ihn auch wirklich zu verfolgen und zu realisieren.

Absolut, genau darum gehts. Es leben aktuell ein paar Milliarden Menschen auf diesem Planeten, in den nächsten 50 Jahren kommen weitere sechs Milliarden dazu. Fühl dich da mal einzigartig... Ebenso kommt dabei wieder das Thema Social Media ins Spiel. Denn dadurch wird uns noch viel bewusster, dass wir eben nur einer von sechs Milliarden Menschen sind. Sie sind alle dort – alle sprechen zur selben Zeit! Ich glaube, dass wir uns bewusst sind, ein Teil dieser riesigen Bevölkerung zu sein, erschwert es uns, Einzigartigkeit im Gedächtnis zu behalten und uns zu erinnern, dass wir alle das Potenzial in uns tragen, etwas Individuelles zu tun.

Und du kannst es auch als Herausforderung sehen – dass man sich eben noch mehr anstrengen muss, sein Ziel zu erreichen.

Ja, du musst deinen Weg finden. Weißt du, das einzige, das du niemals siehst, wenn du in den Spiegel blickst, bist du selbst. Wenn ich mir meine Musik anhöre, höre ich nur, was ich jetzt anders machen würde. Aber jemand anderes hört darin hoffentlich eine einzigartige musikalische Persönlichkeit. Ich hoffe wirklich, dass diese Persönlichkeit durchkommt – egal, in welche Richtung ich mich musikalisch bewege. Deswegen bin ich glaube ich auch fähig, meinen Sound so sehr zu verändern – beinahe von Album zu Album. Ich hoffe, an diesem Punkt meiner Karriere ist es egal, ob ein Song nach ABBA oder nach Pink Floyd klingt – er klingt trotzdem nach Steven Wilson.

Da wir schon dabei sind: Was dachtest du nur, als du "Permanating" geschrieben hast?

Naja, da hatte ich wohl meinen kleinen ABBA-Moment. (lacht und schnappt sich ein Gebäckstück) Ich bin ABBA aufgewachsen, mampf, ich liebe ABBA genauso sehr wie heavy, konzeptuelle Rockmusik, mampf. Sorry, ich hab' Hunger, haha. Mein Vater hat zuhause "Tubular Bells" und "Dark Side Of The Moon" gehört, meine Mutter "Saturday Night Fever", ABBA und Donna Summer. Als Achtjähriger ist man noch nicht beeinflusst von musikalischem Snobismus und sowas – es klang einfach alles unglaublich. Magisch! Das ist super, das ist super und das auch! Erst als ich älter wurde habe ich dann realisiert, dass man bestimmte Sachen nicht gut finden sollte, wenn man andere bestimmte Sachen mag. Das habe ich nie verstanden.

Eine Menge Leute assoziieren mich mit der Musik der Siebziger. Da gabs mich doch noch gar nicht. Na gut, ich war schon geboren, aber mit dieser Musik bin ich nicht aufgewachsen. Ich bin mit der Musik der Achtziger groß geworden. Und ich denke, meine Musik war noch nie generische Art von Musik. Das führt dazu, dass sich meine Fans manchmal ein bisschen rumgeschubst fühlen. Sie denken, begriffen zu haben, welche Art Musiker ich bin, doch dann veröffentliche ich plötzlich ein stilistisch ganz anderes Album. So ist es jetzt ja wieder. Für mich ist es absolut normal, einen Song, der nach ABBA klingt, auf dieselbe Platte zu setzen wie "Song Of Unborn", der sehr bedeutungsschwanger, philosophisch und episch daherkommt. Letztendlich ist es genau das, was meine Musik nach meiner Musik klingen lässt. Vielleicht würde das niemand sonst machen.

"Es sollte sexy und unheimlich klingen"

Andy Partridge von XTC hat an zwei Songs mitgeschrieben, wenn ich recht informiert bin.

Ja, aber einer davon steht nicht auf dem Album, sondern wird auf einer EP erscheinen. Außerdem hat er den Text zum Titeltrack verfasst.

Aber nur die Lyrics? Im Songwriting musstest du also nichts aus der Hand geben?

Naja, es war auch schwer die Lyrics aus der Hand zu geben. Ich habe immer meine eigenen Texte geschrieben. Doch ich hege riesigen Respekt für Andy und bin großer Fan. Entsprechend habe ich mir keine Sorgen gemacht. Ich wusste, dass er das gut macht. Trotzdem ist es seltsam, jemanden durch deine Musik sprechen zu lassen. Denn genau das passiert: Es ist meine Musik, aber Andy spricht seine Worte durch sie.

Also stammt der Text komplett nur von ihm?

Komplett. Ich hatte eine Vorstellung davon, worum es grob gehen sollte, aber abgesehen davon hatte ich überhaupt keine Lyrics und er hat sein Ding durchgezogen. Allerdings habe ich sowieso XTC-DNA in meiner Musik, also findet sich Andy auf indirekte Weise schon darin. Ich bin mit seinen Platten aufgewachsen und bewundere sein Songwriting. Ich bin sicher, einiges von seinem Stil übernommen zu haben.

Eine andere Band, du die gern erwähnst ist Tears For Fears. Ehrlich gesagt habe ich letztes Wochenende zum ersten Mal wirklich was von ihnen angehört und der erste Song war "Woman In Chains".

(Stöhnt lustvoll) Oh Gott!

Er hat mich sehr an "Song Of I" erinnert. Hattest du "Woman In Chains" im Kopf als du den geschrieben hast?

Oh, hm... Ja, ich denke, ich weiß, was du meinst. Kennst du das, dass Dinge manchmal bewusst und manchmal unbewusst passieren? Das hier passierte wohl eher unbewusst. Aber vermutlich trifft deine Beobachtung absolut zu. Wenn ich den Song noch nie gehört hätte, wäre das vielleicht etwas anderes, aber natürlich habe ich ihn schon gehört und ich liebe ihn! Das Album – "The Seeds Of Love" – ist tief in meiner musikalischen DNA verankert. Mir fallen Elemente meines Albums ein, die wohl noch offensichtlicher von dieser Platte beeinflusst wurden. "Pariah" zum Beispiel, mein Duett mit Ninet Tayeb: Das ist gewissermaßen mein "Woman In Chains", denn auch "Woman in Chains" ist ein Duett zwischen Mann und Frau. Auch hier kommt am Ende die Band dazu und genau dasselbe mache ich bei "Pariah".

Wie eben erwähnt, kollaborierst du auf "To The Bone" erneut mit Ninet Tayeb. Außer ihr findet sich aber noch ein weiterer Gast auf dem Album: Sophie Hunger. Wieso hast du dich bei "Song Of I" für sie entschieden?

Weil ich nach einer bestimmten Art von Stimme gesucht habe. Ich wollte, dass es sexy, aber auch unheimlich klingt. Es ist ein Song über Besessenheit. Es geht um den schmalen Grat zwischen Liebe als etwas Positives und Liebe als etwas Zerstörerisches. Die männliche und die weibliche Figur singen den Song unisono und das soll eben genau die Frage aufwerfen: Ist Obsession positiv oder negativ? Deswegen wollte ich die Vocals eher kalt, "entfernt" haben – gleichzeitig aber auch sexy. Das ist schwierig zu erreichen, doch Sophie liefert ab. In ihrer Stimme schwingt einerseits diese Distanz und gewisse Ironie mit, andererseits kann sie sehr einnehmend und sexy sein. Ninet verfügt über eine ganz andere Stimme: Sie ist groß, emotional ... wow! Du weißt, was ich meine oder? Ich glaube nicht, dass Ninet das so kalt und "abgehoben" hinbekommen hätte. Es wäre wohl nicht natürlich für sie gewesen.

Gegen Ende singt Sophie eine Zeile auf Französisch ("T'es sous le sable, t'es dans l'eau, j'abandonne").

Ja, sie hat tatsächlich in einer Version den ganzen Song auf Französisch gesungen. Und es existiert auch eine deutsche Version! Ich habe sie dazu motiviert, weil ich dachte, es könnte interessant sein, vielleicht ein paar Zeilen davon zu nehmen. Ich weiß aber ehrlich gesagt gar nicht genau, was sie sagt...

Bevor ich das Lyric-Sheet bekommen habe und merkte, dass es Französisch ist, habe ich den ersten Teil ("sous le sable") immer missverstanden – als "suicide". War das eigentlich Absicht? Ich finde nämlich, das passt recht gut zur Aussage des Songs: In dem Sinne, dass Obsession manchmal soweit geht, dass man sogar sich selbst für den anderen aufgibt.

(Murmelt die entsprechende Zeile vor sich hin) Ja, du hast recht! Es klingt tatsächlich ein bisschen danach. Aber nein, Absicht war das nicht. Einer dieser glücklichen Zufälle, schätze ich. (lacht)

Erst vor ein paar Tagen gabs die Meldung, dass in den USA ein Mädchen vor Gericht steht, weil sie ihren Freund in den Selbstmord getrieben haben soll. Es ist noch nichts bewiesen, aber letztendlich geht das genau in diese Richtung...

Wow, davon habe ich noch gar nichts mitbekommen. Aber ja, um diese Art von Besessenheit zwischen Mann und Frau geht es.

Anm. d. Red. Anfang August 2017 verurteilte ein Gericht das Mädchen schließlich wegen fahrlässiger Tötung zu zweieinhalb Jahren Haft. Ein Berufungsprozess wird stattfinden.

"Vorbands sind eine Qual!"

Noch mal zu "Song Of Unborn": In einem Interview sagtest du kürzlich, dass du gewissermaßen für die Musik geopfert hast, eine Familie zu haben. Was motiviert dich dazu, Songs wie diesen zu schreiben?

Ich habe keine Kinder, aber viele meiner Freunde haben Kinder. Und ich glaube, jedes Elternpaar und jedes potentielle Elternpaar heutzutage fragt sich: "In welche Welt bringe ich mein Kind? Ist es verantwortungsvoll, Kinder in eine Welt zu setzen, die so fucked up ist?" Doch der Song hat eine positive Botschaft. Er spricht – metaphorisch natürlich – zum ungeborenen Kind: "Du stehst im Angesicht dieser verrückten Welt voller Angst, Verwirrung, Paranoia, Hässlichkeit und Terrorismus. Und du fragst dich: 'Warum sollte ich dort hineingeboren werden?'" Die Antwort lautet: "Das Geschenk des Lebens ist einzigartig und außergewöhnlich – für dich!"

Ich bin nicht religiös, für mich ist das Geschenk des Lebens also alles. Du hast 70, 80, 90 Jahre, um etwas aus deinem Leben zu machen. Das muss nichts Erstaunliches sein – einfach etwas, dass es wert macht, hier zu sein. Die Botschaft lautet: Dein "Lebensbogen" kann profund sein; du kannst etwas Unglaubliches schaffen. Nimm das Geschenk des Lebens an und mach' was draus. Für meine Verhältnisse ist das eine sehr positive Art, ein Album zu beschließen. Sonst schreibe ich ja eher miesepetrige Songs. Nicht viele meiner Alben enden mit einer positiven Note. Wahrscheinlich sogar keine einzige Platte – das muss ich mal überprüfen, haha. Also: Zum ersten Mal gibts jetzt positive Botschaften!

Auch die Musik klingt wesentlich erbaulicher. In "Detonation" zum Beispiel singst du sehr düsteren Text, doch instrumental eignet es sich stellenweise zum Tanzen. "To The Bone" genauso.

Ja und "Permanating" hatten wir ja schon. Der ist sehr, sehr, sehr poppig. Vielleicht ist das teilweise meine Reaktion auf die heutige Beschaffenheit der Welt. Meine Platten waren immer melancholisch geprägt, mich zog es zum Negativen. Jetzt haben wir Post-Trump, der Terrorismus ist an Europas Türschwelle angelangt... Wir leben an einem schrecklichen Ort! Aber gleichzeitig eben auch nicht – die Erde ist wundervoll! Es kommt total auf die Perspektive an. "Nowhere Now" handelt davon. Es geht darum, von oben – von einem Platz über den Wolken – auf die Erde hinabzublicken: Man sieht einen unglaublichen Ort voller Schönheit. Wir vergessen gerne, dass wir nicht die einzige Spezies auf Erden sind. Es gibt Millionen von Spezies auf der Erde und wir sind womöglich diejenige, die ihr Dasein am wenigsten verdient hat, wenn man mal drüber nachdenkt, was wir dem Planeten antun. Diese Perspektive ist manchmal wichtig. Die menschliche Rasse ist trotz all unserer Probleme nur ein Pieps. Allerdings wir verfügen über dieses unglaubliche Geschenk des Lebens. Ich habe meinen Sinn darin gefunden, Musik zu machen. Andere Leute haben große Familien. Manche geben sich dem Sport hin. Manche bereisen die Welt. Manche helfen Flüchtlingen oder tun andere nützliche Dinge. Was ich mache ist nutzlos, aber ich fühle mich wohl damit.

Naja, du kannst Aufmerksamkeit für gewisse Dinge schaffen.

Klar, das war etwas sarkastisch. Natürlich ist es nicht vollkommen nutzlos, was ich tue, weil die Musik andere Menschen vielleicht glücklich macht, ihnen einen Zweck erfüllt oder sie tröstet. Ich habe Sinn darin gefunden, mich in der Musik auszudrücken und den Leuten einen Spiegel vorzuhalten und sie zu fragen, ob sie sich darin wiedererkennen. Hoffentlich auf eine Weise, die ihnen "orale Befriedigung" bringt. (grinst)

Gab es einen Punkt, an dem du wirklich Sorge hattest, deine Musik wäre sinnlos?

Jeder denkt das mal. Deswegen gibt es ja diese "public domain"-Zeile. Ich glaube, das begleitet kreative Menschen einfach unweigerlich. Egal ob du Musiker, Filmemacher oder Autor bist – Unsicherheit gehört dazu. Du zweifelst, ob das, was du machst, wertvoll ist, ob es irgendjemanden interessieren wird und ob es originär ist. Und du zweifelst, ob du überhaupt jemals wieder einen Song schreiben wirst. Jedes Mal, wenn es daran geht, ein neues Album zu schreiben, ist meine größte Angst, dass vielleicht einfach nichts mehr übrig ist, was ich musikalisch sagen könnte. Vielleicht bin ich leer. Du bist selbst Musiker, du kennst das auch. Aber diese Unsicherheit ist auch Teil dessen, was es so besonders macht! Wir sind alle ein bisschen wahnsinnig. Und diese Unsicherheit unterscheidet uns Musiker auch ein wenig von Leuten, die nicht kreativ sind – wir denken anders. Und das Ego! Du brauchst ein großes Ego – besonders als Sänger. Ich habe ein Ego. Ich bilde mir ein, es unter Kontrolle halten zu können, haha, aber es ist einfach nötig. Du kannst nicht vor 3000 Leuten auf die Bühne stiefeln und vorgeben, du wärst der Größte, ohne ein großes Ego zu haben. All das verbirgt sich in der Komplexität des menschlichen Wesens. Man versucht ständig, eine Begründung für den eingeschlagenen Lebensweg zu finden und dafür, wie man andere Menschen behandelt.

Um deine Frage zu beantworten: Ja, ich zweifle manchmal daran, ob das was ich tue, echten Wert oder Zweck hat. Die Musikindustrie ist heute nicht mehr die starke Macht, die sie einst war. Es gab eine Zeit – als Pink Floyd, die Beatles und ABBA Platten aufnahmen –, in der Musik alles war! Sie war die Nummer-1-Anlaufstelle für junge Leute, ihre Persönlichkeit zu definieren. Heute steht Musik viel weiter unten auf der Liste, irgendwo hinter Schuhen und Computerspielen...

Wenigstens gibt dir das etwas zum Schreiben.

Das stimmt, haha. Ich wüsste gar nicht, worüber ich sonst schreiben sollte.

Ich würde noch gern kurz auf deine Tourpläne zu sprechen kommen. Bis auf eine Show in Wien spielst du in unserer Gegend glaube ich wieder ausschließlich bestuhlte Venues oder?

Ja ... ich bin eigentlich kein großer Fan davon.

Deswegen frage ich. Auf der "Raven"-Tour meintest du ja, es wäre nicht deine Idee gewesen ...

Ich stehe dem bestuhlten Publikumsraum ambivalent gegenüber. Vor stehendem Publikum spiele ich lieber. Aber ich kann verstehen, warum es bei meiner Shows bisweilen Sinn ergibt, sich hinzusetzen. Denn sie ist ziemlich visuell ausgerichtet, eindringlich und es gibt sehr leise Stellen. Aber für mich als Performer ist es hart für "solche Leuten" zu spielen (Steven verharrt einige Momente stocksteif mit starrem Blick). Leicht fällt es mir nicht. Aber manchmal muss man eben einen Kompromiss eingehen.

Und der Sound in den Venues ist in der Regel besser.

Der Sound ist besser, ja. Manchmal kann man ja auch beides haben – sowohl bestuhlt als auch stehend. Das sind die besten Venues, finde ich.

In den letzten Jahren hast du auch nie eine Vorband mit auf Tour genommen. Dabei bist du durchaus an aktueller Musik interessiert, postest zum Beispiel öfter Playlists und solche Sachen. Warum begleitet dich trotzdem nie jemand?

Wenn Leute zu meinem Konzert kommen, möchte ich, dass sie sich drei Stunden in meine Welt begeben. Ich wähle die Musik aus, die läuft, wenn sie zur Tür reinkommen. Ich wähle die Musik aus, die läuft, wenn sie die Halle verlassen. Und es ist meine Show. Schon aus logistischer Sicht ist es viel einfacher ohne Opening Act. Bei Porcupine Tree hatten wir dauernd Vorbands. Manchmal lief ich auf die Bühne, hob meine Gitarre auf und sie hat nicht funktioniert – weil der Gitarrist der Vorband über mein Kabel gestolpert ist. Ich will einfach keine Support-Band. Sie sind eine Qual! (lacht) Klar gibts Ausnahmen. Wenn jemand auftaucht, dem ich wirklich eine Chance geben möchte, dann würde ich ihn wohl mitnehmen.

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