laut.de-Kritik

Post-verbaler Wahnsinn, befreit vom musikalischen Korsett.

Review von

Young Thug setzte wirklich alles daran, uns von der Musik auf seinem bereits dritten Release 2016 abzulenken. Da wäre zum einen das gewagte Artwork, das den Thugger in einem Kleid zeigt. Hinzu kommt die nach "The Life Of Pablo" fast schon obligatorisch wirkende Namensänderung kurz nach Release. "No, My Name Is Jeffery" kürzte man zum simpleren, Social-Media-gerechten "JEFFERY" ab. Und zu guter Letzt die irre führenden Titel der einzelnen Stücke, die allesamt nach Thugs – sorry – Jefferys Idolen benannt sind, inhaltlich aber rein gar nichts mit ihnen zu tun haben: Neben offensichtlichen Vorbildern wie Guwop, Kanye und Rihanna tauchen da auch Boxer Floyd Mayweather oder der Gorilla Harambe auf.

"In my world, of course, it don't matter: You could be a gangster with a dress or you could be a gangster with baggy pants", kommentierte Thug seine extravagante Klamotte beim Calvin Klein-Covershoot zusammen mit Frank Ocean. "I feel like there’s no such thing as gender." Genau diese Freiheit, sich selbst von jedweden Grenzen los zu sagen, macht Young Thug zu einem der aufregendsten, spannendsten Spielern im Game.

Natürlich haben die ausgewiesenen Haar-in-der-Suppe-Finder schnell ihren Angriffspunkt entdeckt: Auch "JEFFERY" setzt Delivery über Lyrik. Wer aber ernsthaft poetische Erleuchtung von Young Thug-Texten erwartet, geht wohl auch zu einem Andreas Gabalier "Unplugged"-Konzert, um zu Tränen gerührt zu werden.

Thuggers Lyrik gleicht dem abstrakten Expressionismus eines Jackson Pollock-Gemäldes und muss sich deshalb immer wieder die selben Vorwürfe gefallen lassen: Jedes Kind kann wild Farbkleckse auf eine Leinwand spritzen und es als Kunst verkaufen. Genauso kann jeder Rapper mit zusammenhangslosen Assoziationsketten um sich werfen. Nur hat eben keiner die Eier in der Hose, um dabei so konsequent auf alles zu scheißen, wie es Young Thug tut: Auf "RiRi" heult Thugger die Hook wie ein Seehund. Und es funktioniert. Das soll Mr. Williams erst einmal jemand nachmachen.

Jefferys durchschlagskräftigste Waffe ist sowieso seine Stimme. Im post-verbalen Spektrum von Young Thug ist einfach alles möglich: Es wird gejault, gekrächzt, gemurmelt, gekeucht – aber sicher nie langweilig. "JEFFERY" schafft den Ritt auf der Rasierklinge mühelos: Es ist gleichzeitig in vielerlei Hinsicht extremer, als die bisherige Arbeit des Atlanta-Natives, aber trotzdem sein seit lange poppigstes Tape.

Das mag auch an den Instrumentalen liegen, die, wie im grandiosen Opener "Wyclef Jean" mit einem Reggae-Einfluss daher kommen, dann wiederum wie "Kanye West" (übrigens mit famosem Wyclef Jean-Feature) den allumfassenden Dancehall-Trend aufgreifen.

Highlights finden sich neben den bereits erwähnten Tracks massig: Im winterlichen "Guwop" sieht man Thugger förmlich vor dem geistigen Auge, wie er in seinem Kleid in Zeitlupe Schneeflocken mit einem Katana zersäbelt. In "Pick Up The Phone" vereint Thug zusammen mit Travis Scott und MigosQuavo das Pop-Raggae-Trap-Gemisch zu einem unwiderstehlichen Dauerohrwurm. Auf "Harambe" spittet der Thugger so erfrischend aggressiv, wie man ihn zuvor sicher noch nie gehört hat.

Sinnbildlich steht das extravagante Cover für die größten Stärken von Young Thugs "JEFFERY": Befreit von jeglichem musikalischen Korsett kommt sein untrügliches Auge für Kompositionen abseits der Norm, gepaart mit unwiderstehlichem Style noch besser zur Geltung. Schon das Tape, das sein Albumdebüt eigentlich erst einläuten sollte, reift zum Dauerbrenner, der viel wagt, experimentiert, Grenzen ausreizt - und sich trotzdem seinen Pop-Appeal bewahrt.

Trackliste

  1. 1. Wyclef Jean
  2. 2. Floyd Mayweather (feat. Travis Scott, Gucci Mane & Gunna)
  3. 3. Swizz Beatz
  4. 4. Future Swag
  5. 5. RiRi
  6. 6. Guwop (feat. Quavo, Offset & Young Scooter)
  7. 7. Harambe
  8. 8. Webbie (feat. Duke)
  9. 9. Kanye West (feat. Wycleaf Jean)
  10. 10. Pick Up The Phone (feat. Travis Scott & Quavo)

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